KRIEGS-
BLINDEN
JAHRBUCH
1054
HERAUSGEGEBEN VOM BUND DER
KRIEGSBLINDEN DEUTSCHLANDS EV
M.C. MIGEL LIBRARY
AMERICAN PRINTING
HOUSE FORTHE BLIND
Digitized by the Internet Archive
in 2017 with funding from
American Printing House for the Blind, Inc.
https://archive.org/details/kriegsblindenjah1954bund
/
aß der Sonne Glanz verschwinden!
Wenn es in der Seele tagt,
wir im eig’nen Herzen finden,
was die ganze Welt versagt.
GOETHE
KRIEGSBLINDEN-JAHRBUCH 1954
Gesamtgestaltung: Friedrich Wilhelm Hymmen,
Urheberrecht bei: Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V., Selbstverlag Wiesbaden, Rhein=
Straße 73, Telefon 28393. Hauptgeschäftsstelle des Bundes (1. Vorsitzender: Oberstudienrat
Dr. Hans Ludwig): Bonn, Schumannstraße 35. Nachdruck — auch mit Quellenangabe — nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Verantwortlich für Anzeigen: Wilhelm Stimming,
Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V., Selbstverlag Wiesbaden. Druck: Mainzer Verlags=
anstalt und Druckerei Will und Rothe KG., Mainz, Große Bleiche 46—48. Preis 2,50 DM.
KRIEGSBLINDEN
JAHRBUCH
1954
9ferausgegeben
vom
^und der SHriegsbltnden
(Deutschlands e. D.
Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V.
Selbstverlag Wiesbaden
n-v/ 1^7 f
Umschlagentwurf: Prof. Gerhard Ulrich
Weitere graphische Mitarbeiter: Heinz Ludwig (Federzeichnungen, u. a. Kalendarium und
Titelleisten), Ottilie Ehlers=Kollwitz (Holzschnitte, u. a. auf S. 144 und der Jahreskreis auf
dieser Seite), Günther Büsemeyer (Federzeichnungen S. 70, 122 und 123), Eva Kausche»
Kongsbak (Federzeichnunger\ S. ai8 und 119), Fritz Sindel (Holzschnitte S. 82 und 83) und
Hans Firzlaff (Schriftleisten S. 92 und 122).
Zum Geleit
Zum vierten Male erscheint das Kriegsblinden=l ahrbuch, ein Beweis dafür, daß
die bisherigen Jahrgänge ihren Zweck erfüllt und viel zum Verständnis für die
Kriegsblinden beigetragen haben.
Es ist wahrlich nicht leicht, die Seele des Kriegsblinden zu ergründen, die un=
glaubliche Kraft, die nach einem völligen Zusammenbruch dem jäh Erblindeten
die Stärke gab, sich zu Höchstleistungen aufzuraffen und ihn durch die Nacht zum
Sieg über sich selbst führte. Stärker als der schwere Schlag des Schicksals war der
Wille, es zu überwinden. Aber wer in voller Manneskraft aus dem Licht in die
ewige Nacht gestoßen ward, der verlangt nach Betätigung und Arbeit, nicht nur
des Gelderwerbes wegen; sein Leben soll wieder einen Zweck bekommen, soll
wieder lebenswert werden.
Dieses Verlangen nach Arbeit und ihrem Segen klingt fast aus jeder Seite
dieses Buches an unser Ohr, und es soll nicht ungehört verhallen. Wenn wir
Sehenden das Jahrbuch aufmerksam durchblättern, dann werden wir bescheiden
und dankbar gegenüber dem Schicksal, dann überlegen und prüfen wir, wo wir
helfen können, und dann soll eine gute Tat einem hilfsbereiten Wollen folgen.
Mitleid allein hilft nichts; es kann nur die Pforte sein, durch die wir zur guten
Tat kommen.
Möge dieses Jahrbuch wieder recht viele Menschen ansprechen.
(Dr. h. c. Anton Kerschensteiner)
Geh. Regierungsrat.
Vorsitzender des Beratenden Beirats für das
Versorgungsrecht beim Bundesministerium für Arbeit
Was dieses Jahrbuch enthält
Kurze Übersicht über den Inhalt
I. Arbeit und Anliegen des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands: Seite
12 Einzelberichte aus der Arbeit der Landesverbände 9—31
Kriegserblindung als Aufgabe. Von Oberstudienrat Dr. Hans Ludwig 32
Wohnungsprobleme — mit Hartnäckigkeit gelöst. (Bericht des Wohnungsreferenten
der Hamburger Kriegsblinden) 87
Ich habe ein Häuschen. Von Bodo Schütz 89
Der „Hörspielpreis der Kriegsblinden" 108
Heitere Stunden in der Turnhalle. Von H. C. Schwarze 111
Hier zu kaufen ist Ehrensache — Anschriften der Handwerker=Einrichtungen .... 124
Er trägt die Sorgen von 107 Kameraden — Begegnung mit einem Bezirksvorsitzenden
des Kriegsblindenbundes 130
Vier Wochen lang Luft holeni Kriegsblinde berichten von ihrem Aufenthalt in
unseren Erholungsheimen • 139
II. Für ein besseres Verständnis durch unsere sehenden Mitmenschen: Seite
Macht es uns leichter, euch zu begegnen! 36
Eine totale Umstellung des Daseins. Von Oberverwaltungsrat Seuferle 42
Wer ist Kriegsblinder? Von Dr. P. Plein 48
Oh, welche Geduldsprobe! Seufzer eines Führhundhalters. Von Alfred Spitzer 62
Die anderen wissen es nur nicht. Von Franz Feistner . .' 95
Gut gemeint, aber falsch. Von Georg Marschewski 127
Wie gut haben wir's doch! Von Martin Bedürftig 135
Meine Welt — die Welt der Sehenden. Von Bodo Schütz 144
III. Kriegsblinde im Beruf:
Meine Begegnung mit einem kriegsblinden Masseur 79
„So ein kleiner Blonder, bitte, im zweiten Stock" (Ein kriegsblinder Telefonist
erzählt). Von Kurt Schwager 99
Eine Siedlung ohnegleichen. (Die Arbeitsgemeinschaft unserer Handweber).
Von F. W. H 104
Freundlicher Alltag am Werktisch eines Bürstenmachers. Von Theodor Weißmann 123
Vom Hilfsarbeiter zum Ankerwickler. Von Ewald Weber 129
IV. Kriegsblinde über ihren Schicksalsweg:
Vom „Sehen" der Kriegsblinden. Von Bodo Schütz 54
Wie sie ihren Männern die Last leichter machen. — Ein Wort zum Lobe
unserer Frauen 57
Einer von Tausenden erzählt. Von Karl Stark 71
Mein Papi ist nicht arm. Von Karl Stein 92
Wie ich wieder lesen lernte. Von Harry Barthel 116
V. Kriegsblinde erzählen:
Tränen um Troll. Von John Warncke 51
Ein seltsamer Grenzausweis. Von J. Hirthammer 70
Keiner traute sich. Von Artur Birr 70
Seltsame Visite. Von Lux 81
Dumm gewesen. Von Wilhelm Schwind 81
VI. Literatur, Kunst und Wissen:
Ein Realist der Menschlichkeit — Henry Dunant. Von Gerhard Eschenhagen 52
Weltreisen eines Kriegsblinden vor izo Jahren 63
Ein Herzog starb als Kriegsblinder. Von Dr. Alexander Fuchs 77
Glückliche Tage in der Hauptstadt Perus. Von Maria Gebhard 82
Begegnung mit Edwin Scharff. Von Kurt Lothar Tank 102
Ein Kriegsblinder erlebt Paris. Von Dr. Kurt Wintterlin 219
Ein Band, hell wie die Akelei. Erzählung von Paul Anton Keller 122
/ Vom Genuß des Badens. Von F. W. H 1.36
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1
Fr
Neujahr
8.21
16.30
2
Sa
Adelhard
8.21
16.31
3
So
Sonntag nach Neujahr
8.21
16.32
4
Mo
Titus
8.21
16.34
5
Di
Emilie ®
8.20
16.35
6
Mi
Epiphanias
8.20
16.36
7
Do
Lucian
8.20
16.37
8
Fr
Severin
8.19
16.38
9
Sa
Julian
8.19
16.39
10
So
1. So. n. Epiphanias
8.18
16.41
11
Mo
Werner
8.18
16.42
12
Di
Ernst
8.18
16.43
13
Mi
Hildemar, Jutta
8.17
16.45
14
Do
Felix
8.16
16.46
15
Fr
Maurus
8.16
16.48
16
Sa
Marcellus
8.15
16.49
17
So
2. So. n. Epiphanias
8.14
16.51
18
Mo
Priska
8.13
16.52
19
Di
Canut ©
8.12
16.54
20
Mi
Fabian und Sebastian
8.11
16.55
21
Do
Agnes
8.10
16.57
22
Fr
Vinzenz
8.09
16.58
23
Sa
Emerich
8.08
17.00
24
So
3. So. n. Epiphanias
8.07
17.02
25
Mo
Pauli Bekehrung
8.06
17.03
26
Di
Polykarp
8.05
17.05
27
Mi
Johannes Chrysostomus 6
8.04
17.07
28
Do
Manfred, Karl
8.02
17.08
29
Fr
Fredigundis, Arnulf
8.01
17.10
30
Sa
Martina
8.00
17.12
31
So
4. So. n. Epiphanias
7.58
17.13
Der Landesverband Bayern zählt als der größte- Landesverband im Bund der Kriegsblinden
Deutschlands e. V. 1310 Kameraden und 125 Kameradenwitwen. Er gliedert sich in 7 Bezirke,
die regional nach den Regierungsbezirken in Bayern gebildet und daher in ihrer Stärke unter-
schiedlich sind. Die Aufgaben und Nöte des Landesverbandes wurden bereits in früheren Kriegs-
blindenjahrbüchern näher Umrissen. Als Beispiel für die Fülle der Kleinarbeit in der Betreuung
sei hier auf die Arbeit im Bezirk Schwaben hingewiesen:
Der Bezirk Schwaben zählt 215 erblindete Mitglieder und 24 Kriegsblindenwitwen. Irn Vorder-
grund der Betreuung steht zunächst der Mensch im Sinne des göttlichen Schöpf erwillens und
als nächstes der Kriegsblinde als Schwerstbeschädigter. Ewige Nacht und strahlendes Licht in
einer Harmonie zu vereinigen, ist die erste Aufgabe einer fruchtbaren Betreuung. Dann erst
beginnt die Einführung in das neue Leben. Der Betreuungsobmann erzählt dem Neuling etwas
von Berufsmöglichkeiten, von der Technik des Gehens, Tastens und der Selbsthilfe. Erst wenn
der junge Kriegsblinde in einem Umschulungsheim umgeschult ist, beginnt die eigentliche
Betreuungsarbeit. Die Hilfeleistung setzt dann ein mit der V ermittlung einer Klein- oder Stan-
dard-Schreibmaschine, einer Blindenschriftbogen- oder Stenomaschine, der Blindenuhr, bei
Handwerkern kommen dazu die verschiedensten Werkzeuge und ähnliches mehr, ganz wie es
der neue Beruf erfordert. Ist der Kamerad für einen selbständigen Beruf ausgebildet worden,
sind die notwendigen Arbeitsräume zu beschaffen und — oft nach Umbauten — auszustatten.
Gleichzeitig sind die erforderlichen Geldmittel bei den Behörden zu erwirken. Auch Beratungen
über die zweckmäßige Rohstoffbeschaffung, Fertigungs- und Absatzmethoden gehören dazu.
Strebt der Kamerad eine Beschäftigung in einem Betrieb oder bei einer Behörde an, so ist ein
geeigneter Arbeitsplatz ausfindig zu machen. Die größte Schwierigkeit dabei ist, dem Betriebs-
oder Behördenleiter die Vorurteile zu nehmen, ihm die Methode und das Ausmaß der Arbeits-
leistung persönlich nachzuweisen. So konnten im Bezirk Schwaben seit 1947 87 Kameraden selb-
ständig gemacht, 12 weitere Kameraden in Betrieben und 14 bei Behörden untergebracht werden.
Von dieser Lebens- und Berufsbasis aus erstreckt sich die Betreuung auf laufende Einzel- oder
Gruppenberatungen, die Vermittlung von Wohnungen, den Ankauf und die Erstellung von Sied-
lungshäusern, die Stellung von Anträgen, die Vertretung in Streitverfahren, das Aufsuchen
der Kameraden in ihren Wohnungen, die Berufsberatung der Kinder, Hinweise über Steuer-
vergünstigungen, Ausweiswesen, Quellen für jede Art von Literatur und vieles andere.
Die Kameraden des Bezirks Schwaben sind in folgenden Berufen tätig: Bürstenmacher 80,
Korbmacher 4, Handweber 10, Mattenflechter 2, Wäscheklammermacher 2, Metallschleifer
(Geschäftsinh.) 1, Masseure 7, Fabrikarbeiter 5, Stenotypisten 6, Telefonisten 14, Sachbearbeiter 6,
Musiker 3, Geschäftsinhaber 5, Fabrikanten 1, Landwirte 12, Pfarrer' (evang.) 1, Schüler 2,
Umschüler 2. Arbeitsunfähig sind 52 Kameraden.
Seit 1947 wurden für 42 Kameraden Wohnungen vermittelt und weitere 73 angesiedelt, so daß
insgesamt 132 Kameraden ein eigenes Anwesen besitzen (davon 105 Einfamilienhäuser, 26 Zwei-
familienhäuser, 1 Mehrfamilienhaus). Durch persönliches Eingreifen des Obmannes konnten in
vielen Fällen Baugrundstücke kostenlos oder wesentlich verbilligt erworben werden. — Die
Betreuung erfordert viel Umsicht. Sie muß dem oft vereinsamten Kameraden die Gewißheit ver-
mitteln, daß er in allen Lebenslagen der Hilfe seines Bezirksvorsitzenden sicher sein darf.
Die Anschrift des Landesverbandes Bayern: München 2, Baudrexelstr. 2 (Vorsitzender: Lorenz
Birngrub er). (45 271)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Mo
Brigitta
7.57
17.15
2 Di
Maria Lichtmeß
7.56
17.17
3 Mi
Blasius
(t
7.54
17.18
4 Do
Andreas Corsini
7.53
17.20
5 Fr
Agatha
7.51
17.22
6 Sa
Dorothea
7.50
17.24
7 So
5. So. n. Epiphanias
7.48
17.25
8 Mo
Joh. V. Matha
7.46
17.27
9 Di
Apollonia
7.45
17.29
'
10 Mi
Wilhelm
9
7.43
17.30
11 Do
Adolf
7.42
17.32
12 Fr
Gosbert. Eulalia
7.40
17.34
13 Sa
Siegfried
7.38
17.36
14 So
Septuagesima
7.36
17.38
15 Mo
Sigurd, Faustinus u. Jovita
7.34
17.39
16 Di
Juliana
7.33
17.41
17 Mi
Engelbert, Konstantin
©
7.31
17.43
18 Do
Simeon
7.29
17.44
19 Fr
Susanna
7.27
17.46
20 Sa
Eleutherius
7.25
17.48
21 So
Sexagesima
7.23
17.50
22 Mo
Petri Stuhlfeier
7.21
17.51
23 Di
Petrus Damian, Sevenus
7.19
17.53
24 Mi
Adelheid, Matthias
7.17
17.54
25 Do
Walpurga
7.15
17.56
26 Fr
Gerlinde, Mechthild
'S
7.13
17.58
27 Sa
Veronika, Gabriel
7.11
18.00
28 So
Estomihi
7.09
18.01
Das Jahr 1952 Stand noch ganz im Zeichen der Umanerkennung der Renten nach dem Bundes-
versorgungsgesetz. Heute harren nur noch einige besonders schwierige Fälle ihrer Erledigung.
Allerdings bringt die Novelle zum BVG erneut mancherlei Mehrarbeit mit sich. Wenn wir
angenommen hatten, daß nach der Durchführung des BVG wir uns anderen Aufgaben, ins-
besondere der Berufsfürsorge, zuwenden könnten, sahen wir uns bitter enttäuscht. Die insulare
Lage West-Berlins bringt eine erhebliche Schwächung der Berliner Wirtschaft mit sich. Und
diese Situation wurde seit Ende 1952 katastrophal verschärft durch den ständig wachsenden
Flüchtlingsstrom aus der Ostzone, der das ganze Wirtschaftsleben in West-Berlin zum
Erliegen zu bringen drohte. Unter diesen Flüchtlingen befanden sich auch nicht wenige kriegs-
blinde Kameraden, von denen wiederum ein Teil in West-Berlin blieb, ohne daß Aussicht
bestand, eine Beschäftigung zu vermitteln.
Es dürfte aus diesen Gründen verständlich sein, wenn unsere Bemühungen hinsichtlich der
Berufsfürsorge nicht sehr erfolgreich sein konnten. Eine Besserung auf diesem Gebiete
ist nur denkbar, wenn die wirtschaftliche Lage West-Berlins durch Belebung der Industrie
gehoben werden kann.
Auf dem Gebiete der Siedlung sf ür sor g e sind wir einen Schritt vorangekommen. Die
ersten 4 zerstörten Eigenheime sind wieder aufgebaut, und wir hoffen, in diesem Jahre auch die
restlichen 8 Einfamilienhäuser wieder aufbauen zu können. Das Bedürfnis nach Eigenheimen
ist, wenigstens zur Zeit, in Berlin nicht sehr groß, so daß nach Wiederaufbau der zerstörten
Häuser mit einem gewissen Abschluß gerechnet werden kann.
Auch hinsichtlich der Durchführung der Erholungsfürsorge ist Berlin noch in einer
schwierigen Situation, weil wir auf die westdeutschen Heime unseres Bundes angewiesen sind.
Es soll dankbar anerkannt werden, daß seitens des Leiters der Abteilung Erholungsfürsorge
unseres Bundes, Kam. Bierwerth, unseren Anträgen in weitem Umfange entsprochen wurde'.
Sehr schwierig gestaltete sich die Lösung der Frage eines Erholungsaufenthaltes für unsere
Kameraden in der Ostzone und im Ostsektor Berlins. Wir haben es ermöglicht, daß im ver-
gangenen Jahre für 16 Kameraden der Ostzone und des Ostsektors Berlin ein drei-
wöchiger kostenfreier Aufenthalt in West-Berlin durchgeführt werden konnte. Dieser Erfolg
ist nicht zu unterschätzen.
Schwere Sorge bereitete uns auch die Frage der Gestaltung der Hauptfürsorgestelle
Berlin unter Berücksichtigung der Bestimmungen des BVG, § 25 Ziff. 2, hinsichtlich der Sonder-
fürsorge für Kriegsblinde. Zum Unterschied der Handhabung im Bundesgebiet besteht ja in
Berlin immer noch der Dualismus zwischen Hauptfürsorgestelle und Hauptabteilung Berufs-
fürsorge der Krankenversicherungsanstalt Berlin. Dieses N ebeneinander wirkt sich zweifellos
recht ungünstig aus. Nachdem das Schwerbeschädigtengesetz vom Bundestag verabschiedet ist,
wird auch hier in Berlin eine endgültige Klärung erfolgen müssen. Der bisherige Zustand
machte unsere Arbeit in der Berufsfürsorge schwierig, nicht zuletzt weil die Hauptfürsorgestelle
Berlin über fast gar keine Mittel verfügte.
In organisatorischer Hinsicht sind wesentliche Veränderungen nicht eingetreten. Die Mitglieder-
zahl beläuft sich auf 305, nachdem wir durch Todesfälle spürbare Verluste zu verzeichnen hatten.
Der Landesverbandsvorstand ist in seiner alten Zusammensetzung wiedergewählt worden.
V or sitzender ist Axel Bischof f, Berlin-Lichterfelde West, Marschnerstr. 15 (Ruf 731328).
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Mo
Albinus
7.07
18.03
2 Di
Simplicius
7.05
18.04
3 Mi
Aschermittwoch
7.03
18.06
4 Do
Kasimir
7.01
18.08
5 Fr
Friedrich
6.59
18.09
6 Sa
Perpetua
6.57
18.11
7 So
1. Fastensonntag / Invocavit
6.55
18.13
8 Mo
Johannes von Gott
6.53
18.14
9 Di
Franziska
6.51
18.16
10 Mi
40 Märtyrer
6.48
18.18
11 Do
Wolfram, Rosina
5
6.46
18.19
12 Fr
Gregor der Große
6.44
18.21
13 Sa
Euphrosina
6.42
18.22
14 So
2. Fastensonnt. / Reminiscere
6.40
18.24
15 Mo
Klemens, Christoph
6.38
18.26
16 Di
Heribert
6.36
18.27
17 Mi
Gertrud
6.34
18.29
18 Do
Cyrill von Jerusalem
6,31
18.30
19 Fr
Joseph
©
6.29
18.32
20 Sa
Joadiim
6.27
18.34
21 So
3. Fastensonntag / Oculi
6.25
18.35
22 Mo
Konrad, Nikolaus v. d. Flüe
6.23.
18.37
23 Di
Otto, Eberhard
6.20
18.38
24 Mi
Erzengel Gabriel
6.18
18.40
25 Do
Mariä Verkündigung
6.16
18.42
26 Fr
Mechthild, Thekla
6.14
18.43
27 Sa
Rupert
e
6.12
18.45
28 So
4. Fastensonntag / Lätare
6.09
18.46
29 Mo
Eustasius
6.07
18.48
30 Di
Quirinus
6.05
18.49
31 Mi
Balbina
6.03
18.51
i
Das Jahr 1953 hat weiter dazu beigetragen, die schweren Wunden zu heilen, die der unbarm-
herzige Krieg der schönen, alten Hansestadt Bremen geschlagen hat. Besuchern der Stadt bietet
sich schon am Bahnhof das erste eindrucksvolle Bild durch zwei mächtige Hotel-Neubauten,
Künder der Weltverbundenheit Bremens, das unter seinem buten un binnen (im Ausland und
Inland) angesehenen Senatspräsidenten Wilhelm Kaisen den Anschluß an die Welt wieder-
gefunden hat. Am Doventor geht das große Berufsschulzentrum der vorläufigen Vollendung
entgegen. Es Ist das größte und modernste Europas und bestimmt das Bild eines ganzen Stadt-
teiles. Im Westen entstehen in rascher Folge die Wohnviertel wieder, die im Jahre 1944 zer-
schlagen wurden, und sie werden Tausenden wieder ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Die Bedeutung des Stadtstaates Bremen in der Bundesrepublik mag sich aus folgenden
wenigen Zahlen zeigen: 14 v. H. des Außenhandels der Bundesrepublik gingen über Bremen;
allein 75 v. H. aller Auswanderungen erfolgten mit rund 67 000 Auswanderern von Bremen aus.
Letztere benutzten hierbei den „Bahnhof am Meer“, die neu wieder hergerichtete Columbuskaje
in Bremerhaven, wo neuerdings wieder die größten und modernsten Schiffe der Welt regel-
mäßig an- und ablegen. Unter diesen Aspekten nahm die wirtschaftliche Entwicklung Bremens
— vor allem die Auto-Industrie — auch im Jahre 1953 einen weiteren Aufschwung. Die Auto-
industrie (Borgward, Goliath, Lloyd) entwickelte verbesserte Typen und festigte ihren guten
Ruf; der Schiffbau kam trotz eines längeren Streiks voran und trug dazu bei, den Schiffahrts-
gesellschaften endlich wieder ein Stück ihrer früheren Weltgeltung zu schaffen. Die Hafen-
anlagen wurden durch Errichtung neuer Lagerhäuser usw. weiter vervollkommnet. Und mitten
in dieser lebenskräftigen Aufwärtsentwicklung leben auch Bremens Kriegsblinde.
Die durch den Zusammenschluß der Handwerker-Kameraden (Bürstenmacher) auf gemein-
nütziger Basis arbeitende Kriegsblinden- Arbeitsfürsorge konnte sich im Jahre 1953 nach
manchen Rückschlägen durch ihre überall anerkannte Qualitätsware und Preiswürdigkeit besser
durchsetzen als in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens. Trotzdem fehlt leider bei Behörden,
Industrie und Handel noch viel Verständnis für die Notwendigkeit der Arbeit zum Leben des
kriegsblinden Handwerkers, der kein Mitleid, sondern Arbeit haben will und muß.
Der Landesverband Bremen des Kriegsblindenbundes hat 62 Mitglieder (18 aus dem ersten
Weltkrieg und 44 aus dem zweiten Weltkrieg). Von den 44 sind sieben in der Heimat erblindet,
darunter drei Frauen. Von den 62 Kameraden sind zwölf Ostvertriebene und 17 haben neben
dem Verlust des Augenlichts zusätzliche Arm- und Beinamputationen. Die Zusammenarbeit des
LV. Bremen mit Behörden, Industrie, Handel usw. war in jeder Hinsicht harmonisch. Zahlreiche
Bremer Kriegsblinde stellen ihren Lebenswillen unter Beweis. Sie betätigen sich auf allen
beruflichen und neuerdings auch auf sportlichen Gebieten. Es wurde eine Turnriege aufgestellt,
innerhalb derer sich die Kameraden losgelöst von allen Hemmungen bewegen, um hier Ent-
spannung und neue Belebung für den nervenzehrenden Berufskampf zu gewinnen. Keiner der
teilnehmenden Kameraden möchte den wöchentlichen Sportabend wieder missen.
Die Anschrift des Landesverbandsvorsitzenden: Heinr. Kuhlmeier , Bremen-Horn, Leher
Heerstraße 22; die Anschrift der Kriegsblinden-Arbeitsfürsorge Niedersachsen-Bremen, Aus-
lieferungslager Bremen: Seeberger Straße 14. (45 088)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Do
Hugo
6.01
18.52
2 Fr
Franz v. Paula
5.59
18.54
3 Sa
Gandolf, Richard, Christian®
5.56
18.56
4 So
Fassionssonntag / Judica
5.54
18.57
5 Mo
Vinzenz
5.52
18.59
6 Di
Notker, Isolde
5.50
19.00
7 Mi
Lothar
5.48
19.02
8 Do
Albert
5.46
19.03
9 Fr
7 Schmerzen Mariae
5.44
19.05
10 Sa
Gerold, Mechthild
5
5.42
19.07
11 So
Palmsonntag
5.39
19.08
12 Mo
Konstantin
5.37
19.10
13 Di
Ida
5.35
19.11
14 Mi
Justinus
5.33
19.12
15 Do
Gründonnerstag
5.31
19.14
16 Fr
Karfreitag
5.29
19.16
17 Sa
Rudolph, Gerwin
5.27
19.18
18 So
Ostersonntag
®
5.25
19.19
19 Mo
Ostermontag
5.23
19.21
20 Di
Viktor
5.21
19.22
21 Mi
Anselm
5.19
19.24
22 Do
Wolfhelm
5.17
19.25
23 Fr
Georg
5.15
19.27
24 Sa
Wilhelm, Egbert
5.13
19.28
25 So
Weiß. Stg. / Quasi modo.geniti
5.11
19.30
26 Mo
Ferdinand
5.09
19.32
27 Di
' Anastasius
5.07
19.33
28 Mi
Vitalis
5.06
19.35
29 Do
Petrus der Märtyrer
5.04
19.36
30 Fr
Katharina von Siena
5.02
19.38
Auf dieser Hamburg-Seite unseres Kriegsblinden-Jahrbuches haben wir unseren lieben Lesern
in den letzten drei Jahren schon mancherlei Wissenswertes über unsere alte oder neue Vater-
stadt Hamburg erzählt. „Neue Vaterstadt“ aber nicht deshalb, weil sie seit kurzem wieder Freie
und Hansestadt Hamburg heißt, sondern weil in ihr immer wieder hinzuziehende Kameraden
eine neue Heimat gefunden haben, einen neuen Arbeitsplatz, oft auch eine liebe Frau und später
eine Wohnung. Das hört sich so leicht und flüssig an: „einen neuen Arbeitsplatz“, „eine Woh-
nung“. Doch welche Arbeit ist damit für den Vorstand des Landesverbandes Hamburg ver-
bunden! Dieser Vorstand besteht in Hamburg aus sieben Kameraden; er erledigt für unsere
Mitglieder all die Auf gaben, die sich aus den besonderen Verhältnissen der nebenBerlin größten
Stadt unseres Vaterlandes ergeben.
Arbeitsplatz, Wohnung, Heilfürsorge, Beratung in Rentenangelegenheiten, kulturelle Betreuung,
Führhundwesen, Unterstützung und Beratung in allen sozialen und wirtschaftlichen Dingen,
das sind die Hauptaufgaben, die diesem siebenköpfigen Vorstand obliegen, mit denen er
sich täglich zu beschäftigen hat. 5 Beamte und 2 Juristen in einem Vorstand vereint haben alle
Hände voll zu tun, die vielen großen und kleinen Wünsche ihrer Kameraden oder der Witwen
unserer verstorbenen oder tödlich verunglückten Kameraden zu erfüllen und ihnen bei ihren
Sorgen zu helfen. Und immer wieder kommen neue Kameraden aus den Notstandsgebieten, in
denen wegen der vielen Flüchtlinge für einen Kriegsblinden ein Arbeitsplatz trotz jahrelanger
Bemühungen nicht gefunden werden konnte, nach Hamburg. Dazu kommen andere Kameraden
aus der Ostzone, die hier in Hamburg eine neue Heimat suchen.
Trotz all dieser oft sehr traurigen und schwierigen Fälle ist man aber auch hier immer wieder
bemüht, Frohsinn in den grauen Alltag zu bringen. Im abgelaufenen Jahr fanden einige
gesellige Veranstaltungen in der Form eines bunten Abends statt, auf denen sich alle Ham-
burger Kameraden mit ihren Familien wieder einmal näherkamen. Dies war um so leichter,
als unsere verstärkte Landesverbandskapelle mit Melodie und Rhythmus die jeweiligen Ver-
anstaltungen verschönte. Während der Chronist diese Zeilen zu Papier bringt, hat er schon die
Fahrkarten für die morgige traditionelle Dampferfahrt, die wiederum alle Kameraden des
Landesverbandes Hamburg und ihre Angehörigen zu einem schönen Ausflug elbaufwärts nach
Geesthacht vereinigen wird, in der Tasche. An dieser Ausfahrt nehmen auch Kameraden äus
den angrenzenden Bezirken der Landesverbände Schleswig-Holstein und Niedersachsen teil.
Im Sommer 1953 fand bei uns der große deutsche Masseurkongreß für die Masseure aus dem
ganzen Bundesgebiet statt, an dem eine große Anzahl unserer kriegsblinden Kameraden teil-
nahm, die zum Teil bei Hamburger Kameraden für diese Zeit Aufnahme fanden. Diese Kame-
raden konnten sich aus eigenem Erleben ein Bild von den Hamburger Verkehrsverhältnissen
machen, von der ungeheuren Verkehrsdichte und den Gefahren im Großstadtverkehr, denen
berufstätige Hamburger Kriegsblinde und ihre treuen vierbeinigen Begleiter jeden Tag aus-
gesetzt sind.
Uber unsere gerade in Hamburg bestimmt nicht einfachen Bemühungen auf dem Gebiet des
Wohnungs- und Siedlungswesens berichten wir gesondert in einem Aufsatz im Innern dieses
Jahrbuchs.
Die Geschäftsstelle des Landesverbandes Hamburg hat sich durch Wohnungswechsel des
Landesverbandsvorsitzenden Kamerad Ewald Meyer geändert und befindet sich jetzt in
Hamburg-Blankenese, Sachteweg 1, Tel. 86 3 4 98. (45 273)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1
Sa
Philippus und Jakobus
5.00
19.39
2
So
2. n.Ost./Misericord.Domini®
4.58
19.41
3
Mo
Kreuzauffindung
4.56
19.42
4
Di
Monika
4.55
19.44
5
Mi
Schutzf. d. hl. Joseph
4.53
19.45
6
Do
Joh. V. d. lat. Pforte
4.51
19.47
7
Fr
Stanislaus
4.50
19.48
8
Sa
Ersch. d. hl. Erzeng. Michael
4.48
19.50
9
So
3. n. Ostern / Jubilate
5»
4.46
19.51
10
Mo
Antonin v. Florenz
4.45
19.53
11
Di
Mamertus
4.43
19.54
12
Mi
Pankratius
4.42
19.56
13
Do
Servatius
4.40
19.57
14
Fr
Bonifatius
4.39
19.59
15
Sa
Sophie
4.37
20.00
16
So
4. n. Ostern / Cantate
4.36
20.01
17
Mo
Bruno, Dietmar
©
4.34
20.03
18
Di
Erich, Felix
4.33
20.04
19
Mi
Petrus, Caelestinus
4.32
20.06
20
Do
Elfriede
4.31
20.07
21
Fr
Florentin, Emil
4.29
20.08
22
Sa
Julia, Renate '
4.28
20.09
23
So
5. n. Ostern / Rogate
4.27
20.11
24
Mo
Johanna
4.26
20.12
25
Di
Urban
€
4.25
20.13
26
Mi
Philipp Neri
4.24
20.14
27
Do
Christi Himmelfahrt
4.23
20.16
28
Fr
Leo II., Eckard
4.22
20.17
29
Sa
Maximin
4.21
20.18
30
So
6. n. Ostern / Exaudi
4.20
20.19
31
Mo
Angela
4.19
20.20
Von der Zonengrenze östlich von Kassel bis zum sonnigen Rheingau und der südlichen Berg-
straße liegt das Land Hessen. Vielgestaltig wie die Landschaft sind auch die Lebensgrundlagen
seiner 4,2 Millionen Einwohner und der 600 Kriegsblinden dort. Der Landesverband des Kriegs-
blindenbundes hat seinen Sitz in Frankfurt, ln der Nähe des Hauptbahnhofs befindet sich die
Geschäftsstelle in der Stuttgarter Straße 21. Landesverbandsvorsitzender ist seit 1950
Kamerad Ludwig Eckert aus Oberstedten/Taunus, Friedrichstr. 8. Als treuen Helfer hat er
den sehenden Beisitzer im Landesverbandsvorstand, Herrn Theo Ulrich, der die laufenden
Arbeiten erledigt und sich im Laufe von 7 Jahren durch uneigennützigen Einsatz bestens bewährt
hat. Auch die Geschäftsstelle des Bezirks Frankfurt a. M., der rund 150 Mitglieder zählt,
ist in der Stuttgarter Straße 21. Bezirksvorsitzender dieses größten Bezirks ist Kamerad Fritz
Cyrus, Ffm.- Ginnheim, Am Eisernen Schlag 48, der mit Liebe und viel Geschick seine ehren-
amtliche Tätigkeit ausübt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankfurt, Offenbach, Hanau und
Umgebung ließen hier einen hohen Prozentsatz von Kriegsblinden Arbeit in der Industrie finden.
Fährt man von Frankfurt in Richtung Heidelberg, so kommt man in etwa einer halben Stunde
nach Darmstadt, das sich wieder zum blühenden Mittelpunkt entwickelt. Hier sorgt Kamerad
Georg S auerw ein , Darmstadt-Eber Stadt, Oberstr. 33, seit Jahren für seine 60 kriegsblinden.
Kameraden zwischen Bergstraße und der Gegend von Mainz. — Auch in Wiesbaden, der
Landeshauptstadt, befindet sich eine Bezirksgrup^e mit 40 Kriegsblinden, die seit 2 Jahren den
Kameraden Theo Jacoby, Wiesbaden, Schaf tstr. 13, zum Vorsitzenden hat. Der Betreuungs-
bereich dieses kleinen Bezirkes erstreckt sich auch auf den Rheingau und den Main-Taunus-
Kreis. Die Stadt Wiesbaden bietet vielen Kameraden bei Verwaltungsstellen Beschäftigung.
Die zweitgrößte Bezirksgruppe des Landesverbandes ist die Bezirksgruppe Gießen mit 120
Kameraden. Geographisch gesehen der größte Bezirk, der sich vom Westerwald über die
Wetterau bis zu den Höhen des Vogelsberges erstreckt. Bezirksvorsitzender ist seit Jahren
Kamerad Heinrich Kühn, Wetzlar, Flutgrab enstr. 16. ln Wetzlar und Gießen ist nicht zuletzt
durch seine Vermittlungsarbeit ein Teil der Kameraden in der Industrie untergebracht. Das
schwierigste Problem ist hier die Beschäftigung der zahlreichen Handwerker, die weitab von
jeder Industrie in den Dörfchen wohnen. — Die meisten Jungakademiker zählt die Bezirksgruppe
Marburg, wo neuerdings Kamerad Dr. Hölktemeyer den Bezirksvorsitz übernommen hat.
Durch den Sitz der Blindenstudienanstalt bedingt, steht hier die Unterbringung der Akademiker
im Vordergrund. Die Bezirksgruppe zählt z. Z. 85 Kriegsblinde, von denen mehr als 50 Prozent
die Blindenstudienanstalt mit Erfolg absolviert haben.
Eine zahlenmäßig kleine, aber kameradschaftlich sehr verbundene Bezirksgruppe befindet sich
auch in der alten Bischofsstadt Fulda. Bezirksvorsitzender ist seit Jahren Kamerad Theo
Kr emer , Fulda, Am Peterstor 15, der seine 40 Mitglieder liebevoll betreut. Die Berufs-
möglichkeiten, zumal im Rhöngebiet, beschränken sich leider fast ausschließlich auf das Hand-
werk. — Die nördlichste, an die Zonengrenze reichende Bezirksgruppe hat ihren Sitz in Kassel.
Bezirksleiter ist Kamerad Walter Rosner, Kassel, Karolinenstr. 14. Der Bezirk Kassel erstreckt
sich über das nördliche Hessen mit den Kreisen Rothenburg, Witzenhausen, Hofgeismar und
Waldeck. Er zählt 100 Mitglieder. Der Bezirksleiter, Kam. Rosner, ist gleichzeitig Geschäfts-
führer der Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft Hessen. Leider mangelt es für die Handwerker
an Arbeitsaufträgen, so daß von einer lohnbringenden Beschäftigung nicht gesprochen werden
kann. (45 276)
Feste und Heiligennarqen
Sonnenlauf
NOTIZEN
■
1
Di
Juventius
•
4.18
20.21
2
Mi
Ferdinand, Eugen
4.18
20.22
3
Do
Klothilde
4.17
20.23
4
Fr
Florian
4.16
20.24
5
Sa
Bonifatius
4.16
20.25
6
So
Pfingstsonntag
4.15
20.26
7
Mo
Pfingstmontag
4.14
20.27
8
Di
Medardus
l
4.14
20.28
9
Mi
Primus, Emma
4.14
20.28
10
Do
Margarete
4.13
20.29
11
Fr
Barnabas
4.13
20.30
12
Sa
Johannes Facundus
4.13
20.31
13
So
Trinitatis
4.12
20.31
14
Mo
Richard, Gerold
4.12
20.32
15
Di
Vitus
4.12
20.32
16
Mi
Benno
©
4.12
20.33
17
Do
Fronleichnamsfest
4.12
20.33
18
Fr
Markus, Marcellus
4.12
20.34
19
Sa
Gervasius
4.12
20.34
20
So
2. n. Pfingsten / 1. n.
Trinit.
4.12
20.34
,
21
Mo
Aloisius
4.12
20.35
22
Di
Paulinus
4.12
20.35
23
Mi
Edeltraud
e
4.13
20 35
24
Do
Johannes der Täufer
4.13
20.35
25
Fr
Herz-Jesu-Fest
4.13
20.35
26
Sa
Johannes und Paulus
4.14
20.35
27
So
3. n. Pfingsten / 2. n.
Trinit.
4.14
20.35
28
Mo
Meinrad
4.14
20.35
29
Di
Peter und Paul
4.15
20.35
/
30
Mi
Ehrentraud
©
4.16
20.35
I
Unter der tatkräftigen Leitung unseres Kameraden Knaak hat sich der Betrieb unserer kriegs-
blinden Web'er in Hannover-Langenhagen zu einem vorbildlichen Musterbetrieb aus-
geweitet. Dieses junge, auf der Grundlage einer Genossenschaft arbeitende Unternehmen hat
längst die Kinderschuhe abgestreift, ln einem großen Arbeitssaal verwandeln sich unter
geschickten Händen die auf die Webstühle gespannten Fäden u. a. zu Decken, Schürzen, Kleidern
und Teppichen. Hervorragend sind vor allen Dingen auch die kunstgewerblichen Arbeiten.
Längst schon reichen die Räumlichkeiten nicht mehr aus, und so plant die Genossenschaft, in
Kürze einen Anbau durchzuführen. Mit diesem Unternehmen beweisen wir Kriegsblinden, wozu
wir trotz aller Schwierigkeiten fähig sind.
Eine seit langer Zeit empfundene Lücke in der Betreuung unserer Bürstenmacher wird
jetzt dadurch geschlossen, daß wir ein eigenes Haus in Hannover-Langenhagen errichten.
Wir hoffen, daß es Ende 1953bezogenwerden kann. Es wird die Verwaltung des Landesverbandes
und der Arbeitsgemeinschaft der Bürstenmacher aufnehmen. Lagerräume und ein Expeditions-
raum werden in ausreichender Größe vorhanden sein. Damit soll dem verdienstvollen Leiter
der Arbeitsgemeinschaft, Kam. Bode, die Möglichkeit gegeben werden, seine Fürsorgearbeit
für unsere Bürstenmacher erheblich zu verbessern. Gleichzeitig wird in einem Nebengebäude
eine Werkstatt für Bürstenmacher eingerichtet, in der Um- und Einschulungen durchgeführt
werden. Für 10 Kameraden werden laufend im Hauptgebäude Zimmer zur Verfügung stehen.
Ein großer Aufenthaltsraum, der auch dem Landesverbandsvorstand und dem Vorstand des
Bezirks Zentral-Hannover zu Sitzungen zur Verfügung steht, dient gleichzeitig als Übungsraum
für Stenotypisten oder Masseure. Dieses Heim wird also zukünftig eine Umschulungs- und
Fortbildungsstätte für möglichst viele Berufszweige werden. Die Möglichkeit, mehrere
Wohnungen für Kameraden zu errichten, ist ebenfalls vorgesehen. Mit diesem Bau einer Schu-
lungsstätte verlegt der Landesverband gleichzeitig seine ZentrcAe in die Landeshauptstadt.
Verbleibt immer noch die Sorge, unsere Kameraden menschenwürdig anzusiedeln bzw. aus-
reichenden W ohnr aum zu beschaffen. Vielleicht gelingt es auch auf diesem Gebiete durch eine
Hilfsgemeinschaft noch wirksamer als bisher zu helfen. Die mit dem Lastenausgleich verbun-
denen Arbeiten nehmen den Landesverband ebenfalls stärker denn je in Anspruch. Und schließ-
lich sei auch noch die Enttäuschung vieler Kameraden erwähnt, denen nach kurzer Berufstätig-
« keit die Sozialrenten entzogen werden, weil sie angeblich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
wettbewerbsfähig sein sollen. Hier versagen manche Landesversicherungsanstalten, weil sie den
tiefen Sinn der Beschäftigung Kriegsblinder nicht erfassen. Diese Entziehungen wurden jedoch
zum größten Teil auf dem Rechtswege wieder rückgängig gemacht.
ln der b eruf liehen Unterbringung der Kameraden haben wir dank der Initiative der Arbeits-
verwaltung in Niedersachsen sehr erfreuliche Fortschritte gemacht. Wir können hoffen, daß es
mit Hilfe des neuen „Schwerbeschädigten-Einstellungsgesetzes" gelingt, auch den letzten arbeits-
fähigen Kameraden beruflich unterzubringen. Nicht so erfreulich sind die Erfahrungen, die wir
auf dem Gebiete der allgemeinen Fürsorge sammeln konnten. Wir wollen jedoch hoffen, daß
auch diese Sparte sich noch segensreich für unsere Kameraden entwickeln wird.
Neue Anschriften; für den 2. Landesverbandsvorsitzenden, Kam. Joachim Schubach, Hannover,
Bettenserstr. 10, für den Leiter der Rentenrechtsabteilung, Kam. Wilhelm Rosenland, Hannover-
Kirchrode, Ernststr. 18. Die Anschrift des Landesverbandsvorsitzenden: Albert Bierwerth,
Göttingen, Hainholzweg 17. (5i 304)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Do
Theobald
4.16
20.35
,
2 Fr
Mariä Heimsuchung
4.17
20.34
3 Sa
Hyazint
4.17
20.34
4 So
4. n. Pfingsten / 3. n.
Trinit.
4.18
20.34
5 Mo
Numerianus
4.19
20.34
6 Di
Thomas Morus
4.20
20.33
7 Mi
Willibald
4.20
20.32
8 Do
Kilian
l
4.21
20.32
9 Fr
Veronika, Dieter
4.22
20.31
10 Sa
7 Brüder
4.23
20.30
11 So
5. n. Pfingsten / 4. n.
Trinit,
4.24
20.30
12 Mo
Felix
4.25
20.29
13 Di
Margarete
4.26
20.28
14 Mi
Benaventura
4.27
20.27
15 Do
Kaiser Heinrich II.
4.28
20.27
16 Fr
Irmgard
©
4.29
20.26
17 Sa
Alexius
4.30
20.25
18 So
•
6. n. Pfingsten / 5. n.
Trinit,
4.32
20.24
19 Mo
Vinzenz v. Paul
4.33
20.23
20 Di
Hieronymos
4.34
20.22
21 Mi
Praxedis
4.35
20.20
22 Do
Maria Magdalena
4.36
20.19
23 Fr
Apollinaris
e
4.38
20.18
24 Sa
Christine
4.39
20.17
25 So
7. n. Pfingsten / 6. n.
Trinit.
4.40
20.16
26 Mo
Anna
4.42
20.14
27 Di
Pantaleon
4.43
20.13
28 Mi
Innozenz, Viktor
4.44
20.12
29 Do
Martha
4.46
20.10
30 Fr
Germanus
4.47
20.09
31 Sa
Ignatius v. Loyola
4.48
20.07
In der Zeit von Mitte 1952 bis Mitte 1953 waren wiederum wesentliche Erfolge in der Arbeits-
und Berufsfürsorge zu verzeichnen. Unsere Kameraden sind dankbar dafür, daß 'ihnen
die geeigneten Arbeitsplätze vermittelt wurden, hat ihr Leben dadurch doch wieder Zweck und
Inhalt erhalten. Wir hoffen zuversichtlich, daß es durch das neue Gesetz über die Beschäftigung
Schwerbeschädigter gelingen wird, den kleinen Kreis von beschäftigungslosen Kriegsblinden in
Nordrhein in Kürze auf geeignete Arbeitsplätze zu bringen. Erneut weisen wir auf den Tele-
fonistenberuf hin. Die modernen Fernsprechvermittlungsanlagen eignen sich vorzüglich
für die Bedienung durch Blinde. Dazu zeichnet schnelle, zuvorkommende und höfliche Bedienung
der Anrufer unsere Telefonisten aus. Sie lernen den Betrieb innerhalb kürzester Zeit genau
kennen. Es wäre gut, wenn jede Telefonzentrale, die sich zur Bedienung durch Blinde eignet,
auch von einem Blinden besetzt würde.
Es gelang uns auch, Bürstenmacher anderweitig beruflich zu versorgen. Wir vertreten den
Standpunkt, daß sich in den Städten nur noch jene Kriegsblinden dem Handwerk widmen
sollen, die keinen anderen Beruf ergreifen können. So kann den auf dem Lande wohnenden
Handwerkern mehr Arbeit zugeteilt werden. Besonderer Wert muß darauf gelegt werden, daß
öffentliche Dienststellen die Kriegsblinden in ihre Dienste übernehmen. Nach unseren Fest-
stellungen beträgt die Zahl der bei verschiedensten Behörden tätigen Kriegsblinden 183 bei
einer Kriegsblindenzahl von rund 900 in Nordrhein. Es befinden sich darunter 50 Telefonisten,
24 Stenotypisten, 38 in der mittleren und gehobenen und 9 in der höheren Beamtenlaufbahn.
Der Rest ist als Angestellte, Masseure, Auskunftserteiler und Arbeiter tätig.
Die privaten Arbeitgeber seien nicht vergessen. Bei diesen sind Kameraden als Abteilungsleiter,
Telefonisten, Stenotypisten, Magazin- und Kartonagenarbeiter, Packer und Masseure tätig.
Manchmal konnten wir die erfreuliche Feststellung machen, daß der ersten Einstellung bald die
zweite folgte, und zwar auf Grund der guten Erfahrung, die mit dem ersten Kriegsblinden
gemacht wurde. An dieser Stelle sei allen Arbeitgebern Dank gesagt für ihr Verständnis.
Eine angemessene und gemütliche Wohnung ist für den Kriegsblinden eine Lebensnotwendig-
keit. Ist er doch weit mehr als der Sehende auf sein Heim angewiesen. Der Wunsch der Kame-
raden, die sich z.T. noch in ganz unwürdigen Behausungen aufhalten müssen, ein Eigenheim zu
errichten, ist daher verständlich. Aber der Eigenheimbau erfordert hohe Mittel, weshalb das
Begehren der Kameraden nur zu einem Teil befriedigt werden konnte. Tn der Zeit von Mitte
1952 bis Mitte 1953 konnten 36 Kameraden in ein erworbenes oder erstelltes Haus einziehen.
16 Eigenheime befinden sich z. Z. noch im Bau. 80 Kameraden wollen noch bauen.
Die Anschriften der Bezirksleitungen im Landesverband Nordrhein sind folgende: Bezirk
Aachen, Vors.: Willi Meures, Aachen, Eginhardstr. 26; Bezirk Bonn, Vors.: Hans Kraheck,
Bonn, Rheinweg 84; Bezirk Duisbur g , Vors.: Fritz Günther, Friedrichsfeld b. Wesel, Hinden-
burgstr. 45; Bezirk Düsseldorf , Vors.: Jakob Lohmann, Düsseldorf, Heinrichstr. 32; Bezirk
Essen, Vors.: Willi Sänger, Essen-Rellinghausen, Oberstr. 91; Bezirk Geldern-Kleve-
Moers, Vors.: Hans Schroer, Geldern, Herzogstr. 14; Bezirk M. -Gladbach, Rheydt und Um-
gebung, Vors.: Lambert Hütten, M.-Gladbach, Hamerweg 19; Bezirk Köln, Vors.: Fritz Vaupel,
Köln, Titusstr. 26; Bezirk Rhein-Wupper-Kreis, Vors.: Heinrich Häck, Monheim (Rhein),
Parkstr. 7; Bezirk Wuppertal, Vors.: Willi Hemeyer, Wuppertc.l-B., Sanderstr. 196. Vor-
sitzender des Landesverbandes ist Otto Jansen, Düsseldorf, Irmgardstr. 22. (40862)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 So
8. n. Pfingsten / 7. n. Trinit.
4.50
20.06
2 Mo
Gustav
4.51
20.04
3 Di
Auff. d. hl. Stephanus
4.53
20.03
4 Mi
Dominikus
4.54
20.01
5 Do
Mariä Schnee
4.55
20.00
6 Fr
Verklärung Christi 5
4.57
19.58
7 Sa
Kajetan
4.58
19.56
8 So
9. n. Pfingsten / 8. n. Trinit.
5.00
19.54
9 Mo
Romanus
5.01
19.53
10 Di
Laurentius
5.03
19.51
11 Mi
Tiburtius
5.04
19.49
12 Do
Klara
5.06
19.47
13 Fr
Hippolyt und Kassian
5.07
19.46
14 Sa
Eusebius ®
5.08
19.44
15 So
Mariä Himmelf. / 9. n. Trinit.
5.10
19.42
16 Mo
Rochus
-5.12
19.40
17 Di
Rogatus
5.13
19.38
18 Mi
Helena
5.14
19.36
19 Do
Sebaldus
5.16
19.34
20 Fr
Bernhard
5.18
19.32
21 Sa
Anastasius 6
5.19
19.30
22 So
11. n. Pfingsten / 10. n. Trinit.
5.20
19.28
23 Mo
Philipp
5.22
19.26
24 Di
Dietrich, Bartholomäus
5.23
19.24
25 Mi
Ludwig
5.25
19.22
26 Do
Zephyrinus
5.26
19.20
27 Fr
Rufus
5.28
19.18
28 Sa
Augustinus ®
5.29
19.16
29 So
12. n. Pfingsten / 11. n. Trinit.
5.31
19.14
30 Mo
Rosa von Lima
5.32
19.12
31 Di
Raimund
5.34
19.10
„Das Grenzland Rheinland- Pfalz mit seinen vielen Kriegswunden ist das Land, das auch seinen
Kriegsopfern das größte V erständnis entgegenbringt.“ Mit diesen Worten brachte Minister Jung-
las, der jetzige Leiter des Sozialministeriums von Rheinland-Pfalz, auf einer Kriegsblinden-
tagung die Verbundenheit der Landesregierung mit den Kriegsopfern und insbesondere auch
mit uns Kriegsblinden zum Ausdruck. Das kennzeichnet auch die Zusammenarbeit unseres
Landesverbandes mit den Behörden und der gesamten Bevölkerung. Obwohl Rheinland-Pfalz
ein armes Grenzland ohne nennenswerte Industrie ist, schuf es doch das beste Kriegsopfer-
versorgungsgesetz in der Zeit vor dem Bundesversorgungsgesetz. Diebeiden Hauptfürsorgestellen
in Koblenz und in Neustadt haben, trotz geringerer Mittel als in anderen Bundesländern, mit
Beihilfen und Darlehen in der Betreuung der 422 kriegsblinden Kameraden und Kameradinnen
tatkräftigste Kriegsblindenfürsorge getrieben.
Von den Erfolgen unseres Landesverbandes gaben der auf dem Landesverbandstag Ende Mai 1953
vom damaligen Landesverbandsleiter, Kamerad Nell, abgegebene Geschäftsbericht und der
Kassenbericht des Kameraden Wirscheim ein eindrucksvolles Bild. Die Zahl der kriegsblinden
Eigenheimbesitzer war bis dahin auf 133 gestiegen, vielen weiteren Kameraden konnte eine
bessere Wohnung beschafft werden. Die Zahl der Führhundbesitzer stieg auf 186. Durch Um-
schulung gelang es, die Zahl der zu beschäftigenden Handwerker von 149 auf 133 zu senken,
von denen 80 durch die Hauptgeschäftsstelle unserer Kriegsblindenhandwerkerfürsorge in Kruft
und 53 von der Zweigstelle in Neustadt versorgt werden. Eine beträchtliche Anzahl der um-
geschulten Kameraden konnte schon hauptsächlich als Telefonisten bei Behörden untergebracht
werden, mehrere befinden sich noch in der Ausbildung. Da die Mehrzahl der Kriegsblinden unseres
Landes sehr entlegen in den Dörfern der Eifel,' des Hunsrücks, des Wester- und des Pfälzer
Waldes wohnen, sind die berufliche Unterbringung und die fürsorgerische Betreuung mit beson-
deren Schwierigkeiten verbunden. So ist die Zahl der zu betreuenden Handwerker doch noch
viel zu groß, wenn es auch wiederum gelang, den Umsatz von 500000, — DM des Vorjahres auf
564 000, — DM im Berichtsjahr zu steigern. Damit wurden verhältnismäßig die Umsätze schon
jahrzehntelang tätiger anderer Kriegsblindenhandwerkereinrichtungen überflügelt.
Die Bezirksleitungen liegen immer noch weiter in den Händen der bisherigen erfahrenen und
erfolgreich tätigen Kameraden: Kamerad Pung für den Bezirk Koblenz, Kamerad Platz für
den Bezirk Pfalz, Kamerad Rzegotta für den Bezirk Trier und neuerdings Kam. Boiler für
Bezirk Mainz. Trotz des lebhaften Wunsches der Kameraden ließ sich Kamerad Nell nicht
bewegen, eine Wiederwahl zum Landesverbandsleiter anzunehmen, da er durch die Geschäfts-
führung der Kriegsblindenhandwerkerfürsorge zu sehr in Anspruch genommen sei. Da ja
auch Kamerad Dr. Plein infolge seiner beruflichen Wiederverwendung als Richter beim Land-
gericht in Koblenz seine Tätigkeit als Vorsitzender des Kriegsblindenbundes in Bonn nieder-
gelegt habe, schlug er diesen als Landesverbandsleiter vor. Obwohl Dr. Plein sich bereit
erklärte, Kamerad Nell bei seiner Tätigkeit zu unterstützen, und ihn dringend bat, die Landes-
verbandsleitung weiter zu übernehmen, beharrte er auf seiner Weigerung. Daraufhin wurde
Kamerad Dr. Plein, Mürlenbach (Eifel), zum Landesverbandsleiter von Rheinland-
Pfalz gewählt. Im übrigen wurde der bisherige Vorstand wiedergewählt, und da der Geschäfts-
führer der Handwerkerfürsorge, Kamerad Nell, auch dem Landesverbandsvorstand angehören
soll, auf 6 Vorstandsmitglieder erweitert. (45 302)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1
Mi
Aegidius
5.35
19.08
2
Do
Stephan
5.37
19.06
3
Fr
Mansuetus
5.38
19.04
4
Sa
Rosalia
5.40
19.02
5
So
13. n. Pfingst. / 12. n. Trinit. 5
5.41
18.59
6
Mo
Magnus
5.43
18.57
7
Di
Regina
5.44
18.55
8
Mi
Mariä Geburt
5.46
18.53
9
Do
Gorgonius
5.47
18.51
10
Fr
Nikolaus v. Tolentino
5.49
18.48
11
Sa
Protus
5.50
18.46
12
So
14. n. Pfingst. / 13. n. Trinit. ©
5.52
18.44
13
Mo
Leutberta, Notburga
5.53
18.42
14
Di
Kreuzerhöhung
5.55
18.40
15
Mi
7 Schmerzen Mariä
5.56
18.38
16
Do
Cornelius
5.58
18.35
17
Fr
Lambert
5.59
18.33
18
Sa
Titus
6.01
18.31
19
So
15. n. Pfingst. / 14. n. Trinit. 6
6.02
18.29
20
Mo
Eustachius
6.04
18.26
21
Di
Matthäus Ev.
6.05
18.24
22
Mi
Moritz
6.07
18.22
23
Do
Thekla
6.08
18.20
,
24
Fr
Johannis Empf.
6.10
18.18
25
Sa
Kleophas
6.11
18.16
26
So
16. n. Pfingsten / 15. n. Trinit.
6.13
18.13
27
Mo
Kosmas und Damian ®
6.14
18.11
28
Di
Wenzel
6.16
18.09
29
Mi
Michaelis
6.17
18.07
30
Do
Hieronymus
6.19
18.04
Mehr als 300 Kriegsblinde wohnen in Schleswig-Holstein. Das ist eine für die wirtschaftlich nicht
gerade günstigen Gegebenheiten dieses Landes sehr erhebliche Zahl, zumal hier der Prozentsatz
der ostvertriebenen Kameraden weit höher liegt als in anderen Landesverbänden. Vor dem
zweiten Weltkrieg lebten hier nur 58 Kriegsblinde. Unsere Organisation stand also in den
letzten Jahren hier vor größten Schwierigkeiten, insbesondere weil die geringe Industrialisie-
rung des Landes eine Arbeitsbeschaffung für Kriegsblinde ständig erschwert. Soweit die Kame-
raden auf entlegenen Dörfern wohnen, müssen sie durchweg als ungenügend beschäftigte
Bürstenmacher tätig sein. Die Umschulung von Bürstenmachern für Büro- oder Industrieberufe
kann hier nur Sinn haben, wenn gleichzeitig in den Städten Wohnraum beschafft wird. Die
Wohnungsnot ist aber auch unter den Kriegsblinden noch sehr spürbar. 5,5 Prozent der
Kameraden müssen immer noch auf eine Wohnung warten, doch hat der Landesverband
energische Maßnahmen ergriffen, um auch diesen Kameraden wieder zu einem eigenen Herde
zu verhelfen. Erfreulich ist es, daß es gelungen ist, immerhin mehr als 40 Kameraden unter
Auswertung der Kapitalabfindung ihrer V ersorgungsrente in den letzten Jahren ein Eigenheim
zu verschaffen.
Bei allen Sorgen, die uns gerade in Schleswig-Holstein ständig zu schaffen machen, dürfen wir
doch mit den Erfolgen zufrieden sein, die wir nach dem Kriege und nach dem Wiederaufleben
unserer Organisationsarbeit bis zum heutigen Tage erreichen konnten. Wenn wir uns einen
Überblick über die Entwicklung der letzten Jahre verschaffen, so ist festzustellen, daß mit dem
ungewöhnlichen Anwachsen der Mitgliederzahl ein Anwachsen der Berufstätigkeit Hand
in Hand geht, was keineswegs selbstverständlich ist. Im Jahre 19 46 hatten wir 111 Mitglieder,
von denen 41 berufstätig waren, 19 47 = 262 Mitglieder mit 68 Berufstätigen, 19 48 = 298 Mit-
glieder mit 92 Berufstätigen, 19 4 9 = 324 Mitglieder mit 111 Berufstätigen, 19 50 = 311 Mit-
glieder mit 120 Berufstätigen, 19 51 = 311 Mitglieder mit 137 Berufstätigen, 19 5 2 = 306 Mit-
glieder mit 148 Berufstätigen. Im Sommer 19 53 zählte der Landesverband 302 kriegsblinde
Mitglieder (darunter 7 Kameradinnen), von denen 151 im Berufsleben stehen. Trotz dieser stetig
ansteigenden Kurve suchen aber immer noch 31 Kriegsblinde einen Arbeitsplatz. Wir hoffen, mit
Hilfe des neuen Schwerbeschädigtengesetzes recht bald auch diesen Kameraden wieder ein
erfülltes und befriedigendes Leben verschaffen zu können, denn Arbeit ist die beste- Medizin
gegen alle Depressionen und Grübeleien, die einem Kriegsblinden das Leben zur Last machen
können.
Eine besondere Aufgabe ist die berufliche Unterbringung möglichst vieler Kameraden, die jetzt
noch als Bürstenmacher der „St.-Georg“-Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft für Schleswig-
Holstein und Hamburg angehören und durchweg eine nur unzulängliche Beschäftigung haben.
Hier richtet sich aber unser Appell auch immer wieder an die Öffentlichkeit, für die es eine
Selbstverständlichkeit sein sollte, ihren Bedarf an Besen und Bürsten bei den Kriegsblinden
zu decken. Mit Dankbarkeit wollen wir aber anerkennen, daß wir bei vielen Betrieben, Behörden
und Privatleuten dafür Verständnis finden, wie überhaupt eine gute Zusammenarbeit mit
anderen Organisationen und Behörden unsere gesamte Tätigkeit erleichtert hat.
Am 7. Juni wurde bei der Jahresversammlung unseres Landesverbandes in Neumünster ein
neuer V or stand gewählt. Vorsitzender blieb Bruno Eggers, N eumünster , Kloster-
straße 107. Sein Stellvertreter ist Walter Klamann in Bad Oldesloe, der Schriftführer ist Heinz
Koebke (Raisdorf), Schatzmeister: Kurt Schröder (Lübeck), Beisitzer: Hans Boyens (Fockbek).
Für den Bezirk Nord ist Momme Jensen zuständig (Flensburg, Bahnhofstraße 34), für den Bezirk
Mitte Herbert Strauchmann (Kiel, Arfradestraße 29), für den Bezirk Süd Wilhelm Hinzpeter als
Stellvertreter (Grabau, Kr. Lauenburg). (45 305)
■ ^ iiT
/ V
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Fr
Remigius
6.20
18.02
2 Sa
Schutzengelfest
6.22
18.00
3 So
17. n. Pfingsten / 16. n. Trinit.
6.24
17.58
4 Mo
Franziskus V. Assisi
6.25
17.56
5 Di
Plazidus 5
6.27
17.54
'
6 Mi
Bruno
6.28
17.52
7 Do
Rosenkranzfest
6.30
17.49
8 Fr
Brigitta
6.31
17.47
'
9 Sa
Dionysius
6.33
17.45
10 So
18. n. Pfingsten / 17. n. Trinit.
6.34
17.43
11 Mo
Mutterschaft Mariä
6.36
17.41
12 Di
Maximilian ©
6.38
17.39
13 Mi
Eduard
6.39
17.37
14 Do
Kallistus I
6.41
17.35
15 Fr
Theresia, Thekla
6.42
17.33
16 Sa
Gallus
6.44
17.31
17 So
19. n. Pfingsten / 18. n. Trinit.
6.44
17.29
18 Mo
Lukas ®
6.47
17.27
19 Di
Petrus V. Alkantara
6.49
17.25
20 Mi
Wendelin
6.50
17.23
21 Do
Ursula
6.52
17.21
K
22 Fr
Cordula
6.54
17.19
23 Sa
Herfried
6.55
17.17
24 So
20. n. Pfingsten / 19. n. Trinit.
6.57
17.15
25 Mo
Crispinus
6.59
17.13
26 Di
Evavistus ©
7.00
17.11
27 Mi
Sabina
7.02
17.09
28 Do
Simon und Judas
7.04
17.07
29 Fr
Narzissus
7.05
17.06
30 Sa
Serapion
7.07
17.04
31 So
Christkönigsf./Reformationsf.
7.08
17.02
> ■>
Die Schaffung des Südweststaates, d. h. der Zusammenschluß des ehemaligen Landes Südbaden
mit Württemberg-Baden, hat in der Kriegsblindenfürsorge keine wesentlichen Veränderungen
gebracht. Die Organisation, der „Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V., Landesverband
Baden", bleibt vorläufig als selbständiger Verband bestehen und arbeitet ähnlich wie im Land
Nordrhein- Westfalen, wo es gleichfalls einen selbständigen Landesverband Nordrhein und einen
Landesverband Westfalen gibt. Die Arbeitsfürsorge liegt weiterhin im Aufgabenbereich der
Süddeutschen Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft, gern. eGmbH.
Wenn im Jahre 1952 infolge Fehlens eines Schwerbeschädigten-Einstellungsgesetzes keine
wesentlichen Fortschritte in der Berufsfürsorge erzielt werden konnten, so wurden
dagegen die Bauvorhaben restlos durchgeführt. 20 Kameraden haben im Rahmen des
Bundeswohnungsbaugesetzes ein Eigenheim mit Einliegerwohnungen erstellt. Die Finanzierung
konnte nicht in allen Fällen sichergestellt werden, weil Südbaden der einzige Landesteil ist,
welchem aus Ablösungsgeldern über die Hauptfürsorgestelle Darlehen für den Wohnungsbau
Kriegsblinder nicht gegeben werden konnten. Die Einstellungsquote nach dem alten Schwer-
beschädigtengesetz beträgt in Südbaden leider nur 2 v. H., wonach Ablösungsgelder, aus welchen
Hilfe für Schwerbeschädigte geleistet werden könnte, fast gar nicht eingehen. Das neue Schwer-
beschädigtengesetz tritt im alten Südbaden — dem jetzigen Regierungspräsidium Freiburg —
mit seinen Auswirkungen praktisch erst ab 1. 11. 1953 in Kraft. Wir wollen hoffen, daß Ende des
Jahres die lang ersehnte Gleichstellung gegenüber anderen Ländern des Bundes erzielt wird
und unseren Kameraden die notwendige Hilfe in Form von Darlehen usw. gesichert wird.
Im Jahre 1953 sind 6 Ostzonen-Flüchtlinge und 5 Umsiedler nach Südbaden gekommen.
Der derzeitige Mitgliederstand beträgt 152. Von noch 21 stellungsuchenden Kameraden konnten
im Jahre 1953 bisher 5 Kriegsblinde in feste Arbeitsplätze vermittelt werden.. Die Süddeutsche
Kriegsblinden-Arbeitsgemeinschaft beschäftigt 66 kriegsblinde Bürstenmacher, 2 Mattenflechter
und 1 Korbflechter. Infolge Mangels an Arbeitsaufträgen können die Kameraden nur mit 40 v. H.
ihrer Arbeitsleistung ausgelastet werden. Wir hoffen aber, daß durch das neue Schwerbeschä-
digtengesetz und durch das Gesetz über den Vertrieb von Blindenwaren unser Auftragsbestand
sich merklich erhöhen wird, um die Beschäftigungslage weitestgehend verbessern zu können.
Bemerkenswert ist, daß 5 Kameraden, welche neben ihrer Erblindung noch einen Arm verloren
haben, von unserer Arbeitsgemeinschaft als Bürstenmacher und Mattenflechter beschäftigt
werden. Einmalig ist die Leistung eines Kameraden, der vollkommen erblindet ist und beide
Hände verloren hat. Er hat im Februar 1953 seine Arbeit als Mattenflechter aufgenommen.
Es bedeutet einen ungewöhnlichen Aufwand an Energie, mit zwei Hilfsgriffen, die an den
Armstümpfen befestigt werden, Fußmatten aus Kokosgarn ohne fremde Ifilfe herzustellen.
Seine Erzeugnisse sind qualitätsmäßig der Arbeit sehender Handwerker unbedingt gleichzu-
stellen. Ein kriegsblinder Ohnhänder, der neben diesen ungeheuerlichen Verletzungen noch
praktisch gehörlos ist, betätigt sich seit längerem als Schriftsteller.
So bemühen wir uns auch in unserem kleinen Landesverband, mit den Schwierigkeiten fertig
zu werden, die nur zu meistern sind, wenn wir Kriegsblinden uns gegenseitig helfen. Das
geschieht nicht nur mit der Betreuung der Bürstenmacher, deren Zahl prozentual in keinem
Landesverband so hoch liegt wie bei uns, das geschieht auch mit Rat und Hilfe in vielfältiger
anderer Hinsicht und nicht zuletzt mit einem ermutigenden Wort von Kamerad zu Kamerad.
Land e SV erb andsv o,r sitzender des Landesverbandes Baden im Bund der Kriegsblinden
Deutschland e. V. ist wie bisher Ing. Alfons Schramm, F r eib ur g / Br., Kirner Straße 11.
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Mo
Allerheiligen
7.10
17.00
>'
2 Di
Allerseelen
7.12
16.59
3 Mi
Hubert
5
7.14
16.57
4 Do
Karl Borromäus
7.15
16.55
5 Fr
Zacharias
7.17
16.54
6 Sa
Leonhard
7.18
16.52
7 So
22, n. Pfingsten / 21. n. Trinit.
7.20
16.50
8 Mo
Egbert, Gottfried
7.22
16.49
9 Di
Theodorus
7.24
16.47
10 Mi
Justus
7.25
16.46
11 Do
Martin
7.27
16.44
12 Fr
Kunibert
7.28
16.43
13 Sa
Alberich
7.30
16.42
14 So
23. n. Pfingsten / 22. n. Trinit.
7.32
16.40
15 Mo
Leopold
7.33
16.39
16 Di
Othmar, Gertrud
7.35
16.38
17 Mi
Bufi- und Bettag
€
7.37
16.36
18 Do
Maximus
7.38
16.35
19 Fr
Elisabeth
7.40
16.34
20 Sa
Felix V. Valois
7.42
16.33
21 So
24. n, Pfingsten / Totensonnt.
7.43
16.32
22 Mo
Cacilia
7.44
16.31
23 Di
Clemens
7.46
16.30
24 Mi
Chrysogonus
7.48
16.29
25 Do
Katharina
©
7.49
16.28
26 Fr
Konrad
7.51
16.27
27 Sa
Virgilius
7.52
16.26
28 So
1. Adventsonntag
7.54
16.26
29 Mo
Friedrich, Eberhard
7.55
16.25
30 Di
Andreas
7.56
16.24
Westfalen, das Land der Roten Erde, scheint ein Land der Gegensätze zu sein. Flaches Tiefland
in der nördlichen Hälfte, der Süden dagegen gebirgig mit Höhen bis 840 m; Schwerindustrie im
Ruhrgebiet, daneben das uralte Bauernland Herzog Wittekinds. Aber der Mensch, der Westfale,
er ist aus einem Guß, ob Kumpel, Bauer oder Fabrikarbeiter, ln diesem Land der Arbeit wurde
die Berufsfürsorge von unseren Bezirksleitern durch tatkräftige Unterstützung der Haupt-
fürsorgestellen und der Arbeitsämter intensiv vorangetrieben. Es gelang, in einzelnen Bezirken
sämtliche Arbeitsuchenden unterzubringen.
Zur Zeit werden beschäftigt: selbständige Masseure 20, angestellte Masseure 23, Telefonisten
und Postangestellte 88, Stenotypisten und Auskunftserteiler 4, Lehrer, Künstler, Beamte usw.
32, Juristen 8, Arbeiter in Betrieben (Ankerwickler, Sortierer, Packer, Bürstenmacher usw.) 82;
in selbst. Berufen als Kaufleute, Gastwirte, Landwirte, Totostelleninhaber, Bürstenmacher usw.
70. In Ausbildung befinden sich noch 28 Kriegsblinde. 228 Kriegsblinde sind an einer beruflichen
Tätigkeit wegen der Schwere ihres Leidens oder wegen zu hohen Alters nicht mehr interessiert.
22 Kriegsblinde suchen noch einen Arbeitsplatz.
Die Kriegsblinden- H andw er k er - Fürsorge Nordrhein-Westfalen („KHF“) mit dem Sitz in
Dortmund-Marten, Bärenbruch 25, ist als gemeinnütziges Unternehmen anerkannt. Erfreulicher-
weise konnte die Zahl der ihr angeschlossenen Handwerker gesenkt werden, so daß die Zahl der
Beschäftigten z. Z. 186 beträgt. Hierin sind 71 aus Nordrhein und 115 aus Westfalen enthalten.
Sie erhalten durch die Kriegsblinden-Handwerker-Fürsorge die Rohstoffe zur Anfertigung von
Bürsten, Besen, Fußmatten und Körben zugewiesen. Den Vertrieb nimmt die „KHF“ vor. Wenn-
gleich sich der Umsatz im Jahre 1953 gegenüber dem Vorjahre steigerte, so ist die Beschäftigung
der Handwerker noch ungenügend. Die Geschäftsleitung setzt alles daran, um den Beschäf-
tigungsgrad zu erhöhen. Die „KHF“ beabsichtigt, in Kürze eigene Betriebsräume zu errichten,
da die jetzigen unzureichend sind und auch in ihrer Beschaffenheit dem Ansehen der Kriegs-
blinden nicht entsprechen. Ein geeignetes Grundstück wurde der „KHF“ durch die Stadtverwal-
tung Dortmund im Wege des Erbbaurechts in Dortmund-Mitte zur Verfügung gestellt. Nach wie
vor liegt die Leitung der „KHF“ in den Händen unseres Kameraden Wilhelm Scharr a.
Von den 783 in Westfalen zu betreuenden Kriegsblinden haben 205 Kameraden außer ihrer
Blindheit weitere schwere Verletzungen davongetragen, darunter 14 Ohnhänder.
27 Kriegsblinde sind weiblichen Geschlechts.
Außer der versorgungsrechtlichen und fürsorgerischen Betreuung gilt es, den Kameraden bei
der Wohnraumbeschaffung behilflich zu sein. Die Herstellung von Eig enheimen hat in den
ländlichen Bezirken gute Anfangserfolge gezeitigt, dagegen ist in den Großstädten die Beschaf-
fung von Baugelände sehr kostspielig und nicht immer im Erbpachtwege zu erreichen.
In Münster befinden sich das Landesversorgungsamt Westfalen, die Landesversicherungsanstalt
Westfalen und die Hauptfürsorgestelle Münster; durch den Sitz unserer Geschäftsstelle an
diesem Ort ist eine gute Zusammenarbeit mit den Behörden gewährleistet. — Neu eingerichtet
wurden im Vorstand unseres Landesverbandes das Sachgebiet Siedlung und Lastenausgleich
(Bearbeiter: Karl Schleheck, Detmold, Theaterplatz 5) und das Sachgebiet für Invaliden- und
Angestelltenrenten (Bearbeiter: Helmut Dorf, Bochum, Weiherstr. 52). Die Landesverbands-
geschäftsstelle befindet sich in Münster /W estf., Pleistermühlenw eg 71 (Tel. 36198)
und wird von dem Vorsitzenden Heinrich Schütz geleitet. (45 382)
Feste und Heiligennamen
Sonnenlauf
NOTIZEN
1 Mi
Elegius
7.58
16.24
2 Do
Bibiana
7.59
16.23
3 Fr
Franz Xaver
>
8.00
16.23
4 Sa
Barbara
8.02
16.22
5 So
2. Adventsonntag
8.03
16.22
6 Mo
Nikolaus
8.04
16.21
7 Di
Ambrosius
8.05
16.21
8 Mi
Mariä Empfängnis
8.06
16.21
9 Do
Valerian
8.08
16.20
10 Fr
Witgar
®
8.09
16.20
11 Sa
Damasus
8.10
16.20
12 So
3. Adventsonntag
8.11
16.20
13 Mo
Lucia
8.12
16.20
14 Di
Nikasius
8.12
16.20
15 Mi
Rainald, Johanna
8.13
16.20
16 Do
Adelheid
8.14
16.20
17 Fr
Lazarus
e
8.15
16.21
18 Sa
Christoph
8.16
16.21
19 So
4. Adventsonntag
8.16
16.21
20 Mo
Christian
8.17
16.22
21 Di
Thomas
8.18
16.22
22 Mi
Irmina
8.18
16.23
23 Do
Viktoria
8.19
16.23
24 Fr
Heiliger Abend
8.19
16.24
25 Sa
. 1. Weihnachtstag
®
8.20
16.24
26 So
2, Weihnachtstag
8.20
16.25
27 Mo
Joh. Evangelist
8.20
16.26
28 Di
Unschuldige Kinder
8.20
16.26
29 Ml
Thomas v. Canterbury
8.21
16.27
30 Do
David
8.21
16.28
31 Fr
Silvester
8.21
16.29
Die meisten Deutschen sehen gern in den Ländern Württemberg und Baden ein Gebiet, in
welchem Milch und Honig fließt und wo man gemeinhin glücklich und sorgenlos zu leben ver-
mag. Daß es aber nicht gar so einfach zugeht, beweisen die mancherlei Sorgen, die den dortigen
Landesverband des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands e. V. bewegen. Gewiß, die Kunst zu
leben, kennt man hier besser als in vielen anderen deutschen Landschaften, und bei den Kriegs-
blinden zeigt sich das z. B. in einer sehr herzlichen und regen Kameradschaft, die mit vielerlei
kleinen und großen Veranstaltungen vom Kriegsblindenbund gefördert wird, aber die Sorgen
sind hier nicht geringer als anderswo. Das zeigt sich vor allem auf dem schwierigen Gebiet ,
der Handwerkerfürsorge, die traditionellerweise im Vordergrund der Arbeit steht, schon des-
halb, weil ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz unserer Kameraden im Handwerk tätig ist.
Die Zahl der Handwerker in der Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft für Württemberg
und Baden, gern. GmbH., Stuttgart, ist von 275 auf 251 zurückgegangen. Leider hat sich diese
Zahl nicht in dem Maße verringert, wie es im Interesse der übrigen Handwerker angestrebt
wird. Einerseits rührt das von der neuerlichen Aufnahme von 6 Flüchtlingen als Handwerker
her und andererseits von der immer noch sehr mangelnden Vnterbringungsmöglichkeit in der
Industrie. Der Umsatz konnte erfreulicherweise trotz der immer wieder auftretenden Schmutz-
konkurrenz und trotz einigen anderen unerfreulichen Hemmnissen, wie Auftreten der Maul-
und Klauenseuche in verschiedenen Absatzgebieten, mit einem geringfügigen Unterschied auf
der Höhe des Vorjahres gehalten werden. Um die Handwerker voll beschäftigen zu können,
wären natürlich Umsatzsteigerungen von größter Notwendigkeit. Um dies zu ermöglichen, gilt
der Kampf weiterhin in verstärktem Maße der Abwehr unlauterer Geschäftemacher, welche die
Kriegsblinden als Aushängeschild benützen. Vom neuen Blindenwarenschutzgesetz wird nun
erhofft, daß es vielen dieser unsauberen Personen und Firmen das Handwerk legt.
Der Landesverband Württemberg-Nordbaden kann wieder auf eine reichhaltige und ersprieß-
liche Tätigkeit auf dem Gebiete der Betreuung und Fürsorge zurückblicken und ist
immer wieder hilfsbereit dort eingesprungen, wo es die seelische und wirtschaftliche Not bei
den Kameraden erforderlich machte, was nicht zuletzt auf die tatkräftige Initiative und die
soziale Einstellung des 1. Vorsitzenden zurückzuführen ist, welcher für seine 25jährige auf-
opferungsvolle Arbeit vom Bundespräsidenten mit der Verleihung des Verdienstkreuzes am
Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik geehrt wurde. Er war es auch, der wieder einer
Reihe von Kameraden zu einem Eigenheim verhelfen hat.
Von dem der „Selbsthilfe württemberg-badischer Kriegsblinder e.V."
gehörenden Kriegsblinden-Kurheim (Rudolf-Schnaitmann-Haus), Wildbad, kann berichtet
werden, daß sich dieses Heim in immer steigendem Maße des Zuspruchs von Kameraden aus
allen Landesverbänden erfreut, dank der wunderbaren Lage in halber Höhe des Sommerbergs,
im Herzen des Schwarzwaldes mit seiner ozonreichen Luft, dank der für jeden Kameraden 7ind
deren Ehefrauen möglichen Inanspruchnahme der weltbekannten, wunderwirkenden Heil-
quellen und nicht zuletzt dank der allseits lobend hervorgehobenen, vorzüglichen Küche mit
ihrer abwechslungsreichen Speisenfolge und der im Heim käuflichen, gepflegten und preis-
würdigen Weine. Ein Foto im Innern dieses Jahrbuches möge einen Eindruck von der Schönheit
des Heimes geben.
Die Anschrift des Landesverbandsvorsitzenden lautet wie bisher: Rudolf S chnait -
mann, Stuttgart-W., Hermannstraße 13. (40 842/43 389)
Kriegserblindung als Aufgabe
Von Oberstudienrat Dr. Hans Ludwig, i. Bundesvorsitzender
Niemand wird bestreiten, daß der jähe Ver»
lust des Augenlichtes für den Betroffenen
seelisch und körperlich eine Katastrophe Be=
deutet. Aus der Helligkeit des Tages werden
Menschen in der Vollkraft ihrer Jugend= und
Mannesjahre in die Finsternis geworfen und
mit einem Schlage zu Krüppeln gemacht. Das
Auge ist der Spiegel der Seele. So manches
harte Wort würde nicht gesprochen, so manche
böse Tat vermieden und so manches Miß=
Verständnis rasch beseitigt werden, wenn wir
dem andern ins Auge sehen könnten. Mit den
Augen sehen wir die Schönheiten der Natur
und nehmen das Bild einer Landschaft in uns
auf. Mit den Augen betrachten wir die Schöp=
fungen der Kunst, ein Bild, eine Plastik oder
die Meisterwerke der Baukunst. Mit den Augen
lesen wir die Schriftwerke der Dichtung und
Wissenschaft und folgen der Darstellung in
Bühne und Film.
Das alles erscheint mit einem Male in die
Katastrophe der Erblindung mit hineinversun»
ken in ewige Nacht. In zahlreichen Fällen
kommt zu dem Verlust des Augenlichtes noch
ein weiterer Körperschaden hinzu, der den
Betroffenen in seiner körperlichen Bewegungs»
freiheit oft so stark behindert, daß er in allen
Lebensfunktionen auf sehende Hilfe angewiesen
ist. Im Dienste für Volk und Vaterland haben
diese Menschen gestanden und bei der Erfül»
lung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten ihr
Augenlicht verloren und weitere Körperschäden
davongetragen. Der Krieg hat ihnen Wunden
geschlagen, die niemals ganz heilen. Welch
seelischer Kampf hier durchgekämpft wird, ver=
mag nur der zu ermessen, der durch das dunkle
Tal der Erblindung gegangen ist und der von
außen her die nötige Einfühlungsgabe besitzt,
sich in das Leben anderer hineinzuversetzen.
Viele sind an diesem inneren Kampf zer*
brochen und sind nicht fertig geworden mit
ihrem Schicksal. Andere verharren in Bitterkeit,
sie hadern mit dem Schicksal und betäuben sich
krampfhaft. Die weitaus größte Zahl aber hat
das Schicksal gemeistert und sich das Leben
neu gestaltet. Die deutschen Kriegsblinden sind
unter dem Schicksal der Erblindung, das sie
so jäh traf, nicht zusammengebrochen, sondern
Spürt man hier nicht, mit welcher Liebe und Hingabe dieser kriegsblinde Handwerker bei
der Arbeit ist? Oft hat er aber nur zwei Stunden am Tage zu tun, weil es an Aufträgen
fehlt. Enttäuscht und grübelnd sitzt er dann untätig da und muß sich für ein nutzloses Wrack
halten. Brunzendorf
32
sie haben die Niederlage in eine sittliche Auf»
gäbe umgewandelt, zu einer Aufgabe an sich
selbst und zu einer Aufgabe für andere. „Wenn
es etwas gibt, gewaltiger als das Schicksal, so
ist's der Mensch, der's unerschüttert trägt."
Dies Dichterwort haben die Kriegsblinden bei«
der Weltkriege erfüllt. Die Wege sind je nach
Veranlagung und Willen verschieden, die der
einzelne Kriegsblinde zur Erfüllung dieser Auf«
gaben eingeschlagen hat, und der Weg ist
wieder bestimmt worden durch das jeweilige
Ziel, das er sich gesteckt hat.
Von außen sind helfende Hände gereicht
worden. Versorgungs» und Fürsorgeeinrichtun«
gen und eine planvolle Gesetzgebung haben die
Voraussetzungen geschaffen, das Leben neu zu
beginnen und positiv zu gestalten. Die deut«
sehen Kriegsblinden stehen nicht abseits und
fern des flutenden Lebens in Volk und Staat,
sondern sind Glieder ihres Volkes wie alle. Sie
haben Familien gegründet und Kinder erzogen.
Sie haben sich eine berufliche Existenz geschaf«
fen und nehmen aktiv, ein jeder in seinem
Lebenskreis, am sozialen, gesellschaftlichen und
kulturellen Leben teil, das die Umwelt bietet.
Dies Jahrbuch berichtet von dem Leben und
Schaffen der deutschen Kriegsblinden. Es kündet
von den Fähigkeiten und Leistungen einzelner
und legt Zeugnis ab von der Arbeit in der
Gemeinschaft. Kriegserblindung als Aufgabe
für den einzelnen und die Gemeinschaft, so
lautet die Losung. In den Lazaretten und Um=
Schulungsheimen trafen die Kameraden mit
andern zusammen, die das gleiche Schicksal
tragen. Erfahrungen wurden ausgetauscht und
Freundschaften fürs Leben geschlossen. Wie es
kein Einzelleben gibt, sondern jeder Mensch
auf seine Mitmenschen und ihre Gemeinschaft
angewiesen ist, so auch der Kriegsblinde. So
haben sich bereits während des ersten Welt«
krieges die Kriegsblinden zum „Bund erblinde«
ter Krieger" zusammengeschlossen, um ihre
Belange selbst zu vertreten, sich gegenseitig
Hilfe zu leisten und ihre Forderungen gegen«
über Staat und Gesellschaft durchzusetzen. Es
war der erste Kriegsopferverband in Deutsch»
land.
Durch den zweiten Weltkrieg hat sich die
Zahl der Kriegsblinden, die seit 1949 im „Bund
der Kriegsblinden Deutschlands e. V." neu
zusammengefaßt sind, mehr als verdreifacht.
Sie beträgt allein im Bundesgebiet fast 7000.
Hinzu kommen noch etwa dreitausend kriegs«
blinde Kameraden der Sowjetzone, die unter
den gegenwärtigen politischen Verhältnissen
unserer Schicksalsgemeinschaft nicht angehören
können und die wir namentlich nicht einmal
Anschrift des Kriegsblindenbundes
Die Bundesgeschäftsstelle des Bundes der
Kriegsblinden Deutschlands e. V. hat die An«
Schrift: Bonn, Schumannstr. 35 (Tel. 2 23 35).
Dieser Kriegsblinde war vor seinem Wehr-
dienst Goldschmied. Jetzt leistet er, allein auf
das Feingefühl seiner Fingerspitzen angewie-
sen, Präzisionsarbeit bei der Herstellung der
Leica in den Leitz-W erken, Wetzlar.
So bereitete sich der kriegsblinde Jurist Fritz
Baumgarte aus Bremen auf seine Assessor-
prüfung vor. Von der Blindenhochschul-
bücherei Marburg ließ er sich vielfältige
wissenschaftliche Literatur schicken, die er
mit den Fingerspitzen liest. Als ehemaliger
Ingenieur hat er zur Feierabendzeit Freude
am Basteln. Seine Frau war anfangs seine
„Schwester“, nämlich im Lazarett.
3
33
Oberstudienrat Dr. Hans Ludwig, 1. Vor.
sitzender des Bundes der Kriegsblinden
Deutschlands e. V., erblindete im 1. Welt-
krieg und erarbeitete sich dann Abitur und
Studium.
alle erfaßt haben. Dieser „Bund der Kriegs»
blinden" ' bildet in seiner Struktur, wie es
ein Kamerad einmal richtig formulierte, einen
Querschnitt durch unser ganzes Volk. Er stellt
in seinem organisatorischen Aufbau ein Abbild
im kleinen dar, wie ihn der staatliche Aufbau
der Bundesrepublik im großen zeigt. Seine
obersten Organe sind hier wie dort der Bundes»
tag, der Bundesbeirat, der von den Vorsitzenden
der Landesverbände gebildet wird, und der
Bundesvorstand, der gleichsam die Regierung
darstellt. Der Bund gliedert sich einschließlich
West=Berlin in zwölf Landesverbände und
sechzig Bezirke. Dieser Bund bildet eine ge»
schlossene Einheit nach außen und innen und
läßt zugleich der Selbständigkeit und Selbst»
Verwaltung der Landesverbände weitesten Spiel»
raum. Einheitlichkeit in der Zielsetzung und
Erfüllung der hohen Aufgabe, die Kameraden
in ihren persönlichen, beruflichen, Wirtschaft»
liehen, sozialen und kulturellen Anliegen zu
fördern und zu unterstützen, und Mannig»
faltigkeit der Mittel und Wege zu ihrer Er»
reichung.
Unser Bund umschließt alle Stände und
Berufe; Handwerker und Geistesarbeiter, Ar»
beitgeber und Arbeitnehmer, Angestellte und
Beamte, Industriearbeiter, Landwirte und Kauf»
leute. Er birgt in sich alle Spannungen und
Gegensätze, die unser Volksleben im ganzen
durchziehen. Zentrales Denken und landschaft»
lieh gebundene Form stehen in ständiger
Wechselwirkung wie Pol und Gegenpol zuein»
ander, ziehen sich an, ergänzen sich in ihren
Aufgaben für das Ganze und geraten in Span»
nung miteinander. An pulsierendem, span»
nungsreichem Leben hat es in unserer Kriegs»
blindenschicksalsgemeinschaft nie gefehlt. Der
Kampf um die Gestaltung und Förderung der
eigenen Lebens» und Berufsexistenz und um die
Betreuung der Kameraden hält die Kräfte all
derer, die an verantwortlicher Stelle stehen,
stets rege. Unser Kriegsblindenbund ist gleich»
sam eine kleine Welt für sich und nimmt doch
so unmittelbar andern öffentlichen und privaten
Leben und Geschehen -unseres Volks» und
Staatslebens teil.
Groß und mannigfach sind die Aufgaben, die
dem Bund und seinen Organen heute gestellt
sind. Auch in ihnen spiegelt sich das Ganze
unseres Volks» und Staatslebens wider. Aufbau
und Ausbau der Organisation, die in ständigem
Fluß bleibt und sich den gegebenen Forderungen
der Zeit anpaßt; Arbeits» und Berufsfürsorge,
die darauf abzielt, die kriegsblinden Kameraden
in eine ihren Fähigkeiten und Kräften an»
gemessene Berufstätigkeit zu bringen und sie
im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten in
den allgemeinen Arbeitsprozeß einzugliedern.
Daneben steht als besonderes Aufgaben»
gebiet die Erholungsfürsorge, um den Kamera«
den, deren Nerven und Kräfte im Beruf und
im öffentlichenVerkehrsleben stärker angespannt
und verbraucht werden, die erforderliche Erho»
lung zu schaffen und sie neue Kräfte für den
Daseinskampf ihres Lebens sammeln zu lassen.
Und die sieben Kur» und Erholungsheime
unseres Bundes sind zugleich Stätten fröhlicher
Geselligkeit und fördern die kameradschaftliche
Verbundenheit. Sie bieten Gelegenheit zum
Erfahrungsaustausch und zu geistiger Anregung.
Da ist ferner als selbständiger Aufgaben»
kreis die Handwerksfürsorge, die in sog.
Arbeitsfürsorgeeinrichtungen unseren kriegs»
blinden Handwerkern, die es heute im Kon»
kurrenzkampf mit der Industrie so schwer
haben, eine einigermäßen gesicherte Existenz
schafft. Von Kriegsblinden geleitet, stellen die
Arbeitsfürsorgeeinrichtungen einen fest um»
grenzten Wirtschaftsfaktor dar, den kennenzu»
lernen es sich schon lohnt.
. Und da ist nicht zuletzt das Aufgabengebiet
des Wohnungs= und Siedlungswesens, das vom
Bunde und den Landesverbänden mit Eifer
betrieben und gefördert wird, um den Kamera»
den eine eigene Heimstätte in ruhiger und
schöner Umgebung zu schaffen. Hier allein,
unbeobachtet und unbeengt, kann ein Kriegs»
blinder einen Ausgleich für die ungeheure
Nervenanspannung des Alltags finden. Es be»
darf naturgemäß zur Erfüllung all dieser Auf»
gaben der Mithilfe der öffentlichen Hand. Bund
und Länder und alle für das Versorgungs» und
Fürsorgewesen zuständigen Behörden haben
34
durch gesetzliche Maßnahmen die Voraus*
Setzungen geschaffen, nach denen wir die uns
gestellten Aufgaben innerhalb unserer Schick*
salsgemeinschaft lösen können.
Kriegserblindung als Aufgabe für den einzel»
nen und die Gemeinschaft, davon sollen diese
Zeilen und dieses Jahrbuch Zeugnis ablegen.
Vorwärts und aufwärts geht der Weg.
Mit besonderer Sorge erfüllt uns die Versor*
gung unserer Frauen, wenn wir selbst einmal
abberufen werden. Was sie in einem stillen,
opferreichen Leben täglich für uns tun, kann
ohnedies mit materiellen Gütern nicht ausge=
glichen werden. Auch für sie ist die Kriegs*
erblindung ihres Mannes zu einer hohen sitt*
liehen Lebensaufgabe geworden, der sie sich mit
ganzer Seele hingeben. Unsere Pflicht aber ist
es, ihren Lebensunterhalt einmal sicherzustel*
len und sie vor wirtschaftlicher und seelischer
Not im Daseinskampf zu bewahren.
Und da ist weiter die Aufgabe, nicht eher zu
ruhen und zu rasten, bis auch der letzte noch
arbeitswillige und arbeitsfähige Kriegsblinde
eine ihm gemäße berufliche Betätigung gefun*
deti hat, die ihm Freude und Befriedigung ge=
währt und ihn zu einem nützlichen Glied der
schaffenden Gemeinschaft macht.
Schließlich aber legt uns die Schicksals*
Verbundenheit mit den Ostzonenkameraden die
Pflicht auf, diese Verbundenheit zu erhalten
und zu fördern und sie in ihrer schweren
Lebenslage zu unterstützen, bis die Zeit kommt,
da sie wieder vereinigt werden.
Brücken des Verstehens und der Zusammen*
arbeit aber schlagen wir auch zu den andern
Schwerbeschädigtenverbänden, insbesondere zu
unsern zivilblinden Leidensgefährten, die nicht
minder tapfer das schwere Los der Erblindung
tragen und genau so ein Recht auf Arbeit und
Lebensglück haben. Damit sind nur die wichtig*
sten Aufgaben angedeutet, die uns gestellt sind.
Nur im Dienste für andere können wir das
eigene Schicksal überwinden und es zu einer
positiven Aufgabe gestalten zum Wohle des
einzelnen und zum Segen unserer großen
Schicksalsgemeinschaft.
Ein akustisches Feinmeßgerät bedient der Kriegsblinde H. Werner im Werk Vlm der Klöckner.
Humboldt-Deutz AG. Der elektrische Feintaster zeigt normalerweise durch Auflerichien ver-
schiedener Lampen (im Bild das Gerät „O“), also auf optische Weise das Ergebnis der Prüfung
von Werkstücken an. Für den Kriegsblinden kommt ein akustisches Anzeigegerät „A“ in
Anwendung, das mit verschiedenen Summtönen arbeitet. Hugo Werner prüft Kipphebel-
achsen, die für Motoren bestimmt sind, auf ihre Maßhaltigkeit, prüft mit Preßluft die Öl-
bohrungen und vernietet ein Seitenloch der Achsen mit einem Aluminiumstift, „ohne sich
mit dem Hammer auf den Finger zu schlagen", wie sein Vorgesetzter hinzufügt.'
Foto; Magirus-Deutz
?5
y*
„Madot es uns leidster, euch zu begegnen h'
Kriegsblinde berichten von ihren Erfahrungen im Umgang mit Sehenden
„O mei, der arme Kerl!" — Diese Bemerkung
einer Dame zu einer anderen galt mir.
Was schleppen Sie denn den Blinden da mit?
Der soll doch daheim in seinem Bett liegen»
bleiben! — Dies sagte ein Schalterbeamter, als
ich morgens um lo Uhr am Arme meiner Be=
treuerin unter vielen anderen Personen etwas
am Postamt abzuholen hatte. — Ich war wohl
früher aufgestanden als jener Beamte und ar=
beitete mindestens soviel wie er.
Sehen Sie gar nichts? fragte mich mit über«
lauter Stimme ein Mann, als ich auf einer Bank
saß. Darauf meine Antwort: Mit den Augen
nicht, aber mit den Ohren sehe ich sehr gut.
Sie können also leiser mit mir reden!
Da haben Sie eine kleine Gabe! sagte eine
weibliche Stimme, als ich vor einem Laden
stand, in dem meine Betreuerin ihre Hinkäufe
besorgte, und ein Zehnerl befand sich in meiner
Hand. Ich gab es mit freundlichem Dank zu«
rück.
Zu Hause und in meinem Garten verschwand
vor meinen nichtsehenden Augen gelegentlich
dieses und jenes. — Ach, wie seid ihr so blind,
die ihr meint, ein Blinder sähe nur mit den
Augen! — So dachte ich und — schwieg."
Das sind typische Beobachtungen, wie sie der
Kriegsblinde Dr. Norbert Stern, München,
machte: Immer wieder hält man uns für be=
dauernswerte, kranke Kreaturen, die in der
Welt der Sehenden eigentlich nichts zu suchen
haben, in einer Welt also, der wir doch jahre«
und jahrzehntelang angehört haben, in allen
erdenklichen Berufen, genau wie ihr, die ihr
Wos für den sehenden Menschen ein Fotoalbum, das wird für den Kriegsblinden in Zukunft
vielleicht das „Schallalbum“ sein. Etwa 300 Kriegsblinde besitzen bereits ein Kleinmagneto-
phon, also ein Gerät zum Aufnehmen und Abspielen von Tonbändern. Außer für berufliche
Zwecke, etwa um wichtige Akten oder Gesetze „gesprochen“ zur Hand zu haben, benutzen
viele Kriegsblinde ihr Gerät auch zum Festhalten schöner Erlebnisse oder Begegnungen.
So nimmt hier der Kriegsblinde Dr. Binder, Landshut (links), ein Gespräch mit dem Dichter
Günter Eich auf, dem er die Nachricht überbrachte, daß er den von den Kriegsblinden ge-
stifteten deutschen Hörspielpreis gewonnen habe. Frau Binder ist auch hier die Helferin
ihres Mannes und bedient das Mikrophon. Foto: Hans Wagner
36
noch sehen könnt. Sollen wir, die nun zwar am
Sehen verhindert sind, deren Wesen und
Kenntnisse, deren Verstand und Charakter die
gleichen geblieben sind — sollen wir plötzlich
aus dieser Welt ausgeschlossen sein?
Viele bittere Erfahrungen scheinen dafür zu
sprechen, daß sich zwischen den Sehenden und
den ehemals Sehenden eine nicht leicht zu über«
brückende Kluft aufgetan hat. Ergreift unsere
ausgestreckte Hand, damit wir über diese
Kluft hinwegspringen können, zurück in das
Leben, in euer Leben, das doch auch unser
Leben sein muß, wenn wir nicht zugrunde gehen
sollen!
Er kann sogar sprechen!
Der Kriegsblinde Johann Kray aus Lauen«
förde (Niedersachsen) erzählt das Folgende,
und wohl jeder Kriegsblinde könnte es genau
so aus seiner Erfahrung berichten:
„Diejenigen, welche mit mir noch nie etwas
zu tun hatten, haben in den meisten Fällen
eine gewisse Scheu. Habe ich irgendwo etwas
zu erledigen, so wird gewöhnlich meine Beglei»
tung angesprochen, sei es Frau, Kind oder sogar
mein Führhund. Ist es meine Frau, so fragt
man: ,Was möchten Sie bitte haben?' Ist es
mein Kind, so fragt man: ,Na, Kleiner, was
möchtest du haben?' Komme ich mit dem Hund,
so sagt man: ,Na, Hündchen, hast du uns auch
gefunden?' Bei meinen täglichen Spaziergängen
mit meinem Führhund habe ich schon oft im
Vorbeigehen gehört: ,Sei still, der Mann ist
blind, der Hund führt ihn.' Oder: ,Hundchen,
paß schön auf, und führ dein Herrchen gut.'
Mir wäre es viel angenehmer, wenn man mir
einen guten Tag wünschen würde.
Neulich betrat ich das Wartezimmer eines
Zahnarztes. Eine Dame bot sofort ihren Stuhl
für mich an. Nun mußte ich immer wieder ein
und dasselbe hören. ,Ach nein, es tut mir so
weh.' Ich merkte, daß ihr Blick meiner Frau
galt. Habe sehr wohl gemerkt, daß der Dame
kein Zahn wehtat, sondern es sich auf mich
bezog. Schließlich sagte ich in lächelndem Ton:
,Im Wartezimmer sind die Schmerzen zu er«
tragen, weh tut es gewöhnlich erst, wenn der
Zahnarzt einen in Behandlung hat.'
Einen Augenblick war es still. Man hat sich
anscheinend gewundert, daß der Blinde
auch sprechen kann! Es waren ungefähr sechs
Patienten im Wartezimmer. Ich sprach noch
einige humorvolle Worte, und ich merkte, daß
man meine Heiterkeit bestaunt hat.
Man wird sehr oft bedauert, aber gnade Gott,
wenn der Sehende erfährt, daß man zufrieden
ist und einigermaßen ein Auskommen hat. Ich
muß es so oft hören: ,Na ja, wer kann es so
haben! Bei solch schönem Wetter spazieren«
gehn und gut leben!' Ja, so wie man mich
einerseits bedauert, so beneidet man mich
jetzt. Oh, wie bedauernswert in vielen Fällen
die Sehenden sind, die nur das Geld und meinen
Spaziergang sehen. Diese Sorte von Menschen
Was anderen Hausvätern oft ein Ärger ist,
das wird kriegsblinden Hausvätern zur
Freude: sie sind stolz darauf, sich auch daheim
noch nützlich machen zu können. Viele
Kriegsblinde haben sogar das Holzhacken
wieder erlernt. Foto: Seeger
tut mir leid. Noch nie haben sie sich mit dem
Gedanken befaßt, was der Blinde tut, wenn er
nach dem Spaziergang zu Hause sitzt und keine
Beschäftigung hat. Wenn man dazu noch an
den langen Winter denken würde, wo man bei
schlechtem Wetter und Glätte gar nicht aus«
gehen kann . , .
Ich schließe mich trotzdem von der sehenden
Welt nicht aus. Ich sage mir: Du bist da, hast
Frau und Kinder zu ernähren wie jeder andere
Mann. Infolgedessen stehe ich mit beiden
Füßen in der Welt."
„Arm und alt"
LFnser Kamerad Karl Stein aus Heiligen«
haus bei Düsseldorf erzählt: „Es passierte mir
an einem sonnigen Frühlingstag in der Stra»
ßenbahn, daß der Schaffner einen Sitzplatz
freimachen wollte ,für den armen, alten Mann',
und damit war ich gemeint, 4ojährig, guter
Dinge wie der Frühlingshimmel. Aber ich war
blind, also ,arm und alt'. Freundlich und
humorig konnte ich den seltsamen Irrtum rieh»
tigstellen, was meine beiden kleinen Töchter
allein durch ihr Dasein unterstrichen."
Das ist ebenfalls ein sehr typisches Doku»
ment: „Man will uns hilflos haben, man hält
uns für gebrechlich, und wir sollen es bleiben.
Wir können schon jedesmal froh sein, wenn
sich bei solchen Begegnungen mit Fremden nicht
herausstellt, daß man ,blind' mit ,blöd' ver«
wechselt", meint ein anderer Kriegsblinder.
Wieso? Kriegsblinde können tanzen? Diese
verblüffte Frage hört man sehr oft. Mit wel-
chem Schwung sie tanzen können, beweist
unser Bild. Allerdings, ein bißchen dirigieren
muß hier ausnahmsweise einmal die Dame.
Die Monatszeitschrift „Der Kriegsblinde" ver»
anstaltete im Jahre 1953 ein Preisausschreiben
unter dem Thema „Mein Verhältnis zum
sehenden Mitmenschen". Die hier genannten
Stimmen und manch kleine Beiträge aus die»
sem Jahrbuch sind den Einsendungen zu die»
sem Preisausschreiben entnommen. Es sei hier
vorausgeschickt, daß die weitaus meisten Ein»
Sendungen ein erfreuliches Bild abgaben, das
heißt also, daß die meisten Kriegsblinden einen
guten Kontakt zur Umwelt der Sehenden haben
und sich vollauf als Glieder dieser Umwelt füh»
len. Aber neben diesem echten Verständnis,
dem wir unter jenen Mitmenschen begegnen,
für die unsere Erblindung nur ein zufälliger,
körperlicher Mangel ist, neben dieser Aner»
kennung als „normaler" Mensch, die jeder
von uns zum Leben braucht, finden wir immer
wieder viel Unverstand, der uns den Alltag
schwermacht. ,
In den vielen Zuschriften zu dem Prelsaus»
schreiben waren immer die gleichen Klagen zu
hören, angefangen von Kleinigkeiten, z. B.
dem grußlosen Vorbeigehen des Bekannten
oder dem überlauten Ansprechen — falls aus»
nahmsweise überhaupt einmal mit dem Erblin»
deten und nicht mit seiner Begleitung gespro»
chen wird — , und Klagen bis hin zu den peini»
genden Ausdrücken des mitleidvollen Bedau»
erns. Selbst Einzelheiten wurden in fast wört»
lieber Übereinstimmung geschildert, so z. B.
von einer großen Anzahl von Kriegsblinden die
Bemerkung taktvoller Mitmenschen: „Dann
lieber tot!"
Man traut uns nichts zu
Ein Bürstenmacher, unser Kamerad Heinz
Everaers aus Nagold, schildert plastisch, wie es
ihm eine Zeitlang ergangen ist:
„Als ich in einen Ort ziehen mußte, in dem
ich für die anderen fremd und die anderen für
mich fremd waren, hatte ich es als Bürsten»
macher anfangs nicht gerade leicht. Wenn
jemand an der Tür schellte und meine Frau
nicht da war, so ging ich natürlich hin, um zu
öffnen. Fast immer hörte ich: ,Ist Ihre Frau nicht
da?' Ich mußte es verneinen und fragte dann
nach Wunsch und Anliegen. Als Antwort be»
kam ich dann meistens folgendes zu hören:
,Eigentlich wollte ich eine Bürste kaufen,
aber ich komme dann lieber wieder, wenn Ihre
Frau zu Hause ist!' Wenn ich dann sagte, ich
könne das Gewünschte doch auch hergeben,
so wehrte man ab mit den Worten: ,Sie kön»
nen doch nicht alleine die Treppe hinunter»
gehen!'
Ich bewies dann, daß ich schneller die Treppe
hinunterkam als die Besucher selber.
So mußte ich es immer wieder erleben, daß
man nicht für voll genommen wird."
Aber einem Akademiker geht es nicht besser.
Unser Kamerad Dr. Mühlensiepen aus Düssei»
dorf schreibt: „Anfangs hatte ich nicht gewußt,
daß die Menschen so viele Vorurteile gegen
einen Blinden haben, daß sie blind und blöd
verwechseln. So sagte man mir beinahe auf
allen Behörden, als ich mich um einen Beruf
bemühte, ich könne ja doch nicht lesen, und als
ich dann darauf hinwies, daß ich, auch ohne
Schwarzschrift lesen zu können, studiert und
promoviert habe, hieß es meist nur, man wolle
es sich überlegen. Und dabei blieb es dann."
Kamerad Dr. Mühlensiepen schildert dann
jedoch, wie er mit hartnäckiger Ausdauer ver»
■sucht hat, die Mitmenschen von der, „wenn
auch nicht unbegrenzten, so doch möglichen
Leistungsfähigkeit eines Blinden zu überzeu»
gen". Diese Ausdauer im Kampf gegen die Un»
wissenheit habe sich gelohnt: „Als mich neu»
lieh mein Direktor im Unterricht besuchte, war
er erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit
sich die Schüler schon auf ihren blinden Leh»
rer eingestellt hatten."
3^
Den Sinn für Humor und für ein gemütliches Stünd-
chen hat er sich bewahrt, obwohl er seit 37 Jahren nichts
mehr sehen kann. Fotos (2): J. Neven - du Mont
Schmerzende Vorurteile
Solcherlei Vorurteile sind im Be=
rufsleben besonders belastend. Einem
Sachkenner, der viel mit Kriegsblin»
den zu tun hat und der ihre Möglich»
keiten kennt, ist es immer wieder
völlig unverständlich, wie sich Firmen
und Behörden verhalten, wenn ihnen
nahegelegt wird, einen Kriegs«
blinden einzustellen. Ein Beispiel:
In einer Firma ist der Platz eines
Telefonisten frei; am gleichen Ort
sucht ein kriegsblinder Telefonist
Arbeit, der vor der Oberpostdirek»
tion nach umfangreicher Ausbildung
seine Prüfung mit „Sehr gut" abge»
legt hat. Außerdem beherrscht er nicht
nur sicher und schnell eine normale
Schreibmaschine, sondern auch seine
Blinden=Stenomaschine mit dem
guten Tempo von 140 Silben je
Minute. Dennoch aber stellt diese
Firma einen anderen Bewerber ein, der weder
eine Ausbildung als Telefonist hat, noch Steno»
oder Schreibmaschinenkenntnisse. Aber er hat
zwei Augen, und er wird schon deshalb, so
meint man, selbstverständlich mehr können
und zuverlässiger sein als der Blinde. Keiner
fragt danach, daß bereits in Hunderten von
Betrieben und Behörden blinde Telefonisten
arbeiten, ohne daß die Arbeitgeber auch nur
das Geringste auszusetzen hätten. Im Gegen»
teil, jeder dieser Arbeitgeber hält bezeichnen»
derweise den in seinem Hause tätigen Kriegs»
blinden für ein phänomenales Wundertier und
für eine seltene Ausnahmeerscheinung. Das
Vorurteil bleibt also selbst dann noch bestehen,
wenn der Arbeitgeber mit einem Kriegsblinden
zufrieden i^t.
Besonders bitter ist es, wenn ein Arbeitgeber
schließlich aus Großmut oder Barmherzigkeit
einen Kriegsblinden eingestellt hat, ihn aber
praktisch gar nicht beschäftigt. „Er wird ja doch
b „ F r a u e n 1 0 b '*•
1 Wäschepresse
1 die ideale Hilfe am Waschtag,
1
1 keine Anstrengung mehr.
1,^ Entwässern durch Wasserdruck.
Erhältlich in den Fachgeschäften.
' * HERSTELLER:
Karl Glemser
1
b
Maschinenfabrik
Stuttgart - Untertürkheim
nichts leisten können", so denkt man, und man
gibt dem Kriegsblinden keinen redlich verdien»
ten Lohn, sondern nur so etwas vvie Anwesen»
heitsgelder. Wohlwollend duldet man die An»
Wesenheit des Kriegsblinden im Betrieb und
läßt ihn bestenfalls ein wenig Zeitvertreib fin»
den.
Kann es für einen Menschen, der wieder mit»
ten im Leben stehen möchte, eine größere
Demütigung geben?
„Wie alt ist er denn?"
„Ist es nicht zum Verzweifeln", so schreibt
der Kriegsblinde Alfred Spitzer aus dem Kreis
Lüneburg, „daß selbst Behördenangestellte
und Ärzte sich bei Unterredungen ausschließ»
lieh an die mich begleitende Frau wenden! Und
wenn der Arzt fragt: ,Was hat er denn', so
tue ich zwar, als ob hier nach Art des Alten
Fritz das ,Er' als Anrede gebraucht werde, und
antworte an Stelle meiner Frau, werde
aber meistens durch die nächste Frage:
,Seit wann hat es denn Ihr Mann schon?' in die
Schranken verwiesen. Die Selbstverständlichkeit,
mit der gefragt wird: ,Wie alt ist denn Ihr
Mann?' (der Mann ist 45 Jahre alt, aber man
traut ihm nicht zu, daß er es weiß), ist geradezu
entwaffnend."
Natürlich fängt dieser Mangel an Zutrauen
schon in der engsten Familie an, bei den Ver»
wandten etwa, die ihrem Kriegsblinden nicht
einmal zumuten möchten, daß er ohne Beglei»
tung im Park spazierengeht. Besonders in den
Anfangsmonaten war das schlimm. „Meine An»
gehörigen trauten mir fast gar nichts mehr zu",
so schreibt der kriegsblinde Landwirt Senders»
feld aus dem Kreise Leer, „wenn ich nur eben
in den Stall ging, so wurde mir gleich gesagt:
39
Führhund-
Notgeld
aus dem Jalire 1921
während des 1. Weltkrieges wurde in Deutsch-
land und in Österreich der Führhund wieder
entdeckt. Geheimrat Stalling (Oldenburg), der
geschäftsführender Vorsitzender des damali-
gen Deutschen Vereins für Sanitätshunde war.
wurde zum großen Förderer des Führhund-
wesens inxiller Welt. Um Sammler anzureizen,
wurde 1921 gemeinsam mit der Commerz- '
und Privatbank eine Notgeldserie herausgegeben, deren Erlös dem Führhundwesen zugute
kam. Ursprünglich hatte der Deutsche Verein für Sanitätshunde nur die Ausbildung zum
Suchen von Verwundeten als Aufgabe. Bald aber wurde Oldenburg die Geburtsstätte des
systematisch ausgebildeten Blindenführhundes. Die Dresseure waren Sanitätssoldaten, die
in Oldenburg ausgebildet wurden. Die Serie des Notgeldes hatte die gleiche Vorderseite
(linkes Bild), während die Rückseiten verschiedene Situationen zeigen, bei denen der Führ-
hund in Aktion tritt.
Sei vorsichtig! Gewiß, oft habe ich mir den
Kopf gestoßen oder bin gestolpert. Aber es
ging doch nicht, daß ich immer in der Küche
saß und Radio hörte!"
So ist es zu verstehen, wenn der Berliner
Kriegsblinde Bierbach schreibt:
„Der Ankunftstag in der Heimat war für
mich schrecklich. Ein jeder wollte mich besuchen
und sein Mitleid ausdrücken. Doch ich suchte
immer einen Ort auf, wo ich alleine war, und
das geschah auch vor der eigenen Frau. Ver=
schiedene Wochen vergingen, ehe ich von dieser
Scheu etwas befreit wurde. Aber noch heute
gibt es immer wieder kleine Rückschläge, be=
sonders in der Öffentlichkeit. In den ersten
Nachkriegsjahren hat man mehreren Kamera=
den und auch mir persönlich sogar das Wort
,Kriegsverbrecher' an den Kopf geworfen. Die
Meinung der großen Mehrheit war aber eine
andere, und das beruhigte mich. Dieses Gefühl
des Ausgestoßenseins und der Minderwertig=
keit verlor sich aber völlig, als ich einen
Arbeitsplatz bekam. Ich lebe jetzt, als wären
zwischen mir und den Sehenden keine Gegen=
Sätze vorhanden, und ich fahre, wie jeder meiner
Kollegen, täglich zu meinem Arbeitsplatz, von
einem Führhund begleitet. Als Montierer kann
ich noch etwas leisten, und das gibt meinem
Leben wieder einen Wert."
Und doch: kein Vorwurf gegen die Sehenden!
Merkwürdig und von Wichtigkeit ist ja das
Folgende: Jeder Kriegsblinde war ja einst
Sehender und ist als Sehender einst Blinden
auf der Straße oder sogar am Arbeitsplatz
begegnet; er kennt diese seltsame Scheu, das
Gehemmtsein des Sehenden, er kennt die Ab=
wehr, mit der man sich gern gegen einen Er=
blindeten abkapselt. So fragt der Kriegsblinde
Harry Barthel aus Bremerhaven: „Dürfen wir
unsere Mitmenschen verdammen, wenn sie im
Umgang mit uns Fehler begehen? Würden wir
an ihrer Stelle nicht vielleicht die gleichen
Fehler machen?
Gerade wir Späterblindeten haben die ausge=
prägte Gabe, uns in die Verhaltensweise der
Sehenden hineinzudenken. Heute, da wir selber
zu denen gehören, die auch von uns seinetzeit
mit mehr oder weniger gemischten Gefühlen
betrachtet wurden, heute können wir ohne
Scheu darüber reden. Waren wir aber damals
nicht alle — zumindest in unseren Gedanken —
recht unbarmherzig?"
Ebenso schreibt Martin Wellßow aus Han»
nover: „Wie hätte ich als Sehender gehandelt.
40
wäre mir damals ein Blinder begegnet? Und;
ist der Nebenmann nicht äuch mit seinen
eigenen Gedanken beschäftigt? Hat er vielleicht
wirtschaftliche oder familiäre Sorgen?" Manche
Kameraden überlegen, ob es dem Menschen
neben uns nicht vielleicht schlechter geht als uns.
Diese Hinweise sollen zeigen, daß kein
Kriegsblinder mit ungeduldigen Vorwürfen
sich gegen sehende Mitmenschen wenden will,
denn jeder solcher Vorwürfe würde ja eine neue
Schranke errichten. Es geht aber im Gegenteil
darum, all unseren sehenden Lesern klarzu»
machen, daß solche Schranken ganz unsinnig
und überflüssig sind. Ein Kriegsblinder lebte ja
als Sehender und will, auch wenn er am Sehen
verhindert ist, in der Welt der Sehenden weiter^
leben, nicht in einer abgeschlossenen Welt der
Blinden.
Das Anzünden an der Kippe
Ein mühsames Zurückfinden in die Welt der
Sehenden war es, und so fing es an:
„Als einer der letzten Kriegsblinden aus dem
April 1945 kam ich in einer Zeit in die Ge=
meinschaft meiner Schicksalsgefährten, in der
uns niemand die neue Umgebung er-
läutern, noch uns unser zukünftiges Verhalten
lehren konnte. Mit den primitivsten Hilfsmit=
teln und meistens sogar aus eigener Initiative
versuchten wir das einzig Bekannte — das Bett
— zu verlassen, uns im Krankenzimmer zurecht-
zufinden, unseren Kameraden zu suchen, mit
dem wir uns schon rrianchmal unterhalten, den
wir jedoch noch nie gesehen hatten und von
dem wir noch gar nicht so recht wußten, wo er
eigentlich lag. Wir versuchten, uns eine Ziga-
rette an der noch glühenden Kippe des Kame-
raden anzuzünden, man tastete ihm vom Kopf
über die Stirn, die Nasenwurzel, über Nasen-
spitze, Oberlippe auf den Rest des Tabakröll-
chens und brachte dann seine eigene Zigarette
daran. Man stellte aber bei diesem Manöver
unbeabsichtigt fest, wie der Kamerad aussah,
ob er lange Haare, einen Scheitel, eine hohe
Stirn, einen breiten Kopf oder starke Augen-
brauen hatte, ob er eine Brille trug, weitere
Narben im Gesicht besaß oder unrasiert war.
So lernten wir, jeder für sich, unbekannte Dinge
kennen und uns ohne fremde Hilfe eine Vor-
stellung von ihnen zu machen. Diese erste
Selbständigkeit machte uns irgendwie glück-
lich und zufrieden und war eigentlich der erste
Lichtblick in unserem dunklen neuen Leben."
So schildert es der Berliner Kriegsblinde
Werner Krebs, und ähnlich haben es wohl alle
Kriegsblinden erlebt, bis dann endlich der volle
und beglückende Kontakt mit der Umwelt
dadurch gefunden war, daß man einen Arbeits-
platz erhielt und diesen Platz, wie einst in den
früheren Jahren, ausfüllte. Noch haben nicht
alle Kriegsblinden völlig zurückgefunden, noch
bedarf es auch weiterhin des Verstehens und
der Hilfe der Sehenden, aber wenn die Sehen-
den unsere ausgestreckte Hand ergreifen, wird
noch viel Verbitterung überwurraen werden
können, sei es auch nur vielleicht durch ein
paar Worte, die man in der Straßenbahn mit
einem Kriegsblinden wechselt, ohne daß man
mit ihm über Blindheit spricht oder gar dar-
über, „wie schrecklich" solch ein Schicksal sei.
Sprechen Sie doch lieber mit uns über lokale
Ereignisse, über die letzte Opernaufführung im
Stadttheater, über den großen Neubau am
Marktplatz, über Fußball oder über die Steuer-
reform. Und überlegen Sie dabei: unseren Ver-
stand haben wir behalten, auch unsere Ohren,
und nicht zuletzt — unser Herz.
Zwei verschiedene, oft auch miteinander
kombinierte Methoden werden bei der Aus-
bildung von Führhunden angewandt. Hier die
Methode mit dem „künstlichen Menschen“, die
Prof, von Uexküll entwickelt hat: der Wagen
zeigt alle Hindernisse an, die der Hund beach-
ten soll; der vordere, niedrige Bügel stößt
gegen Bordsteinkanten, der hohe Bügel gegen
herabhängende Äste oder gegen einen Brief-
kasten. Bald lernt der Hund, vor diesen Hin-
dernissen stehenzubleiben oder sie zu um-
gehen. Eine andere Methode arbeitet ganz
ohne Gerät. Alle Methoden kommen ohne
Prügel aus. Ein Führhund ist also keineswegs
ein „armer Hund“. Foto: dpa
41
Eine totale Umstellung des Daseins
Kriegserblindung: ein besonderes Schicksal - Erfahrungen aus der Praxis
Von Oberverwaltungsrat Seuferle, Leiter der Hauptfürsorgestelle Stuttgart
Was würde wohl ein Sehender empfinden,
wenn man ihn mit verbundenen Augen mehrere
Tage lang dem Großstadtverkehr mit allen
seinen Gefahren aussetzen würde? Und wäre
er wohl geneigt und bereit, ein solches Experi=
ment ohne zwingende Not zu wiederholen? Die
meisten Menschen werden diese Frage ver=
neinen, sie sollte ihnen aber zu denken geben.
Erblindete sind täglich nicht r»ur der Gefahr des
Straßenverkehrs, sondern vielen täglichen Be=
drohungen ausgesetzt, vor allem einem hohen
Verschleiß ihrer Nervenkraft, am deutlichsten
auf dem Wege zu oder von der Arbeit, nicht
weniger aber bei der Ausübung ihrer Berufs»
arbeit, ja selbst beim Essen noch. Und diese
Belastung will Stunde um Stunde und Jahr um
Jahr bewältigt werden.
Früherblindete in anderer Situation
Erblindung war in den Jahren vor den beiden
Weltkriegen in der Regel entweder Folge einer
„Unsere Fernsprechanlage“, so schreibt der
Landgerichtspräsident in Flensburg, „wird von
dem kriegsblinden Justizangestellten Werner
Jessen seit 1943 bedient. Mit erstaunlicher
Sicherheit versieht Jessen seinen Dienst und
stellt die gewünschten Verbindungen — auch
Fernverbindungen — einwandfrei her. Die für
einen Behördenbetrieb erforderlichen Auf-
zeichnungen der einzelnen Ferngespräche
unter Angabe des Ortes, der Bezeichnung des
Teilnehmers, der Rufnummer des Anmelden-
den und des Aktenzeichens werden von ihm
auf einer Schreibmaschine gefertigt. Es sind
bisher“, so schließt das Gutachten, „keine
Klagen über Verzögerungen pp. vorgebracht
worden. Er steht in keiner Weise den ge~
Sunden Kräften nach.“
schicksalsmäßig verlaufenen Erkrankung oder
aber Merkmal Blindgeborener. Unter ihr ver=
steht man die Unfähigkeit des Auges, Licht auf»
zunehmen und zu unterscheiden; die Folgen
davon sind ernstester Natur und bedeuten eine
vollständige Umstellung des von der Erblindung
betroffenen Menschen, schon im rein psycho»
logischen Sinne.
An sich ist nur der Früherblindete „nicht»
sehend". Er lebt in einer anderen Welt und muß
sich dem Sehenden unter meist langwierigen
und immer schmerzlichen Erfahrungen anglei»
chen. Er kennt nicht den optischen Raum, er
weiß nur um ihn. ln seinem Umgänge mit
Sehenden ist er jedoch gezwungen, sich dessen
Sprache zu bedienen und dessen Begriffe zu
erarbeiten und in sich aufzunehmen. So weiß
der Früherblindete z. B., daß die Sterne, die
Sonne, der Mond vorhanden sind, er spricht von
ihnen, seine Phantasie schmückt alles aus, wie
er es in den schönsten Träumen erhofft. Aberdas
Fundament aller Erkenntnis, die praktische An»
schauung. Ist ihm in fast allem fremd.
Im Gegensatz dazu durchlebt der Mensch bei
einer Späterblindung eine wirkliche Katastrophe.
Bei einer Erkrankung, die eine Erblindung er»
warten läßt, mag er sich noch auf ihre Folgen
vorbereiten können. Für die überwiegende
Mehrzahl der Kriegsblinden hingegen, die von
einer Sekunde zur anderen ihr Augenlicht ver»
loren, bricht eine Welt zusammen, aus deren
Trümmern sie . sich ein neues Leben aufbauen
müssen.
Totale Umstellung des Daseins
Der Impuls dazu scheint zunächst entschwun»
den zu sein. Um sich dem Leben wieder einiger»
maßen anpassen zu können, muß eine völlige
Umstellung des Daseins erfolgen. Neben einer
inneren, menschlichen Ausrichtung auf die neuen
Gegebenheiten wird er in solchen Fällen fast
regelmäßig auch eine neue Berufsausrichturig
vornehmen müssen. Er ist also einer Art von
seelischem Läuterungsprozeß unterworfen und
sinkt oft in bitterste Mutlosigkeit, die mit vie»
len qualvollen Zweifeln verbunden ist. Um die»
sen Zustand zu überwinden, bedarf es meist
langer Zeiträume. Erst dann empfindet der
Späterblindete, daß die Kraftquellen zum Auf»
bau eines neuen Lebens in der Hauptsache in
ihm selbst, in seinem Charakter, seiner Per»
sönlichkeit liegen.
Durch liebevolles Verständnis seiner Um»
gebung muß diese Quelle jedoch vielfach erst
angeschlagen, gewissermaßen zum Fließen ge»
bracht werden. Das tastende Hineinfinden in
neue Lebensverhältnisse, die dabei auftreten»
den vielfachen Rückschläge lösen nicht selten
42
iäiäiiEgs^gl
Wanderer
Holzschnitt von Ottilie Ehlers-Kollwltz
43
Minderwertigkeitslcomplexe aus, verbunden mit
tiefer Niedergeschlagenheit und dem Gefühl,
daß es nie geschafft wird, sich umzustellen und
neue Leistungs= und Lebensfreude zu finden.
Erst nach und nach kehrt langsam die Selbst=
Sicherheit wieder, und zwar wenn durch Erfolge,
also durch die Bestätigung der Leistungsfähig=
keit, erkennbar wird, daß wirklich Aussichten
bestehen, wieder ein vollwertiges Glied der
menschlichen Gesellschaft zu werden.
Immer aber wird Maßstab für den Spät=
erblindeten und seine Arbeit der Sehende sein.
Dies hat die nicht immer erwünschte Wirkung,
daß der Blinde unter erschwerten Vorausset=
Zungen gezwungen ist. Gleiches zu leisten wie
der Sehende. Daß er diese Leistungen auch zu
vollbringen vermag, beweisen zahllose Bei=
spiele; die wenigsten Menschen aber ahnen,
mit welchem Kraftaufwand, vor allem im An=
fangsstadium der späteren Erblindung, diese
Leistung verbunden ist. Mit der
Blindheit sind ja nicht zu vermeidende
Behinderungen verbunden. In kör=
perlicher Hinsicht liegt eine Be=
Schränkung in der Bewegungsfreiheit
vor, die mindestens anfänglich sehr
schwer ertragen wird. Hier ist der
Späterblindete gegenüber dem Früh=
erblindeten, der sich seit seiner Ju=
gend an seinen Zustand weitgehend
anpassen konnte, in erheblichem
Nachteil. Von großer Bedeutung für
die Späterblindetep ist, sich keines»
falls zu gestatten, normale Bewegun»
gen wie Spaziergänge und Wände»
rungen auf ein Mindestmaß zu be=
schränken; tut er dies, muß er schä»
digende Auswirkungen auf seinen
Gesundheitszustand in Kauf nehmen.
Die Muskulatur erschlafft, er atmet
nur mit einem kleineren Teil der
Lunge, wird dadurch anfällig für
Krankheiten, da der Körper dann
nicht widerstandsfähig bleibt.
Schlimmer aber ist, daß dann Re»
aktionen auf den Gemütszustand
nicht ausbleiben. Da und dort tritt
eine schlechte Körperhaltung ein,
nicht zuletzt deshalb, weil die Ver»
gleichsmöglichkeit, die Sehenden zu
eigen ist, fehlt. Sind Späterblindete
nicht starke Persönlichkeiten und
wird ihnen der richtige Maßstab nicht
dauernd zum Bewußtsein gebracht,
unterwerfen sie sich allmählich, aber
sicher dem passiven Teil ihres Innen»
lebens, da sie ohnehin unbewußt im
Willensleben der Seite der Passivität
näherstehen. Ein wesentliches Merk»
mal der Erblindung ist ohnehin, daß
die Ablenkung nach außen fehlt. Der
Blick wird zwangsläufig nach innen
und auf das Ich gerichtet. Dadurch
steht der eigene Körper leicht zu sehr
im Mittelpunkt des Interesses, seine
Funktionen erlangen unter Umstän»
den eine nicht gewollte, überschätzte
Bedeutung. Hier ist stetige Selbst»
Zucht unerläßlich. Dort, wo egozen»
trische Züge auftreten, wird es Auf»
gäbe einer liebevollen Umgebung
sein, in feiner Form mitzuhelfen, den
normalen Zustand wiederherzu»
stellen.
Im Schloß Solitude bei Stuttgart war während des
Krieges ein Lazarett für Kriegsblinde untergebracht, das
nach dem Zusammenbruch unter der Verwaltung der
Hauptfürsorgestelle Stuttgart als Umschulungsstätte für
Kriegsblinde eingerichtet wurde. Hier nahmen insgesamt
704 Kriegsblinde an Kursen teil, in denen sie für einen
neuen Beruf geschult wurden. Schloß Solitude bedeutete
also für einen beträchtlichen Prozentsatz aller Kriegs-
blinden eine Lebenswende. Von den 704 Kriegsblinden er-
griffen 90 den Beruf eines Masseurs, 46 den eines Steno-
typisten, 288 erhielten eine Ausbildung als Blindenhand-
werker und 280 belegten die Grundausbildungsfächer,
d. h. sie erlernten die Blindenpunktschrift und die Hand,
habung einer normalen Schreibmaschine. Viele gingen
danach zu Handelsschulen oder Universitäten oder setzten
in ihrer Heimat ihre Ausbildung fort. Das Heim wurde
später zu einem Schwerbeschädigtenheim umgebaut und
dient zum Teil der Dauerunterbringung Schwerst-
beschädigter, außerdem aber auch der Erholung.
44
Den ersten Brief an die Braut oder an die Frau selber schreiben zu können, ohne ihn einer
Schwester diktieren zu müssen, das war im Umschulungslazarett für jeden Kriegsblinden
so etwas wie ein Triumph. Kaum ein Fach wurde eifriger geübt als Schreibmaschine-
schreiben. Schließlich schreiben ja auch tüchtige sehende Maschinenschreiber „blind“. Warum
sollte das nicht auch ein Kriegsblinder können? Mit freundlicher Geduld hilft die Schwester
in den Übungsstunden.
Wie man einem Kriegsblinden begegnen soll
Beobachtet man einen Blinden etwa bei Ein=
kaufen und Führungen in der Öffentlichkeit, so
fällt dem Sehenden auf, daß eine gewisse Ab=
hängigkeit vorhanden ist. Auch bei stärkster
Aktivität des Späterblindeten wird ein schmerz=
lieh empfundener Rest einer solchen Abhängige
keit vorhanden bleiben. Hier bedarf es gütiger
Betreuung in des Wortes wahrstem Sinne, um
auf keinen Fall das Gefühl, nicht oder nicht
mehr vollwertig zu sein, aufkommen zu lassen.
Der Späterblindete weiß sehr wohl, was er ver=
loren hat, er wird nie Freude darüber empfinden
können, wenn sich ihm gegenüber Mitleid
äußert, es ist auch wenig taktvoll, insbesondere
wenn es sich um Mitreisende in Eisenbahnen,
Straßenbahnen usw. handelt, etwa in den Ruf
auszubrechen „Ach der arme Kriegsblinde"; der
Kriegsblinde verzichtet auf den Ausdruck dieser
Art von Interesse gern; er wird ihm entgegen=
gebrachte Achtung aber stets zu schätzen wissen
und es immer dankbar empfinden, wenn ihm
ohne viele Worte Erleichterungen im Straßen=
verkehr gewährt werden, wenn man ihm bei=
spielsweise beim Einsteigen in die Straßenbahn
ganz selbstverständlich erspart, im Gedränge
sich durchkämpfen zu müssen, und wenn man
ihm bei sonstigen Begegnungen und am Arbeits=
platz Freundlichkeit und Zuvorkommenheit
erweist. ^
Ich habe es mir in jahrzehntelangem Umgang
zur Regel gemacht — und ich kann dies auch
von meinen Mitarbeitern sagen — , alle Blinden,
mit denen ich je zu tun hatte, freundlich und
höflich, aber soweit irgendwie vermeidbar, nie
unter Ansprache ihrer Erblindung zu behandeln,
und dies haben sie stets dankbar empfunden.
Man muß immer neue Wege suchen, um einen
Blinden von seinem Zustand abzulenken, zu=
nächst dadurch, daß man ihn sozusagen zu den
„Sehenden" rechnet und seine Erblindung nicht
zu seinem zentralen Wesensmerkmal macht.
Darüber hinaus aber werden auch gewisse Sinne
bei ihm verfeinert, werden z. B. die Finger des
Blinden vergleichsweise seine Augen und stei=
gert sich auch sein Tastgefühl in einem für
Sehende unvorstellbaren Maße, so darf nie
außer acht gelassen werden, daß Arbeit, und
zwar befriedigende Arbeit für ihn die unent=
behrliche Medizin ist.
Erstklassige Berufsarbeit
Als Träger eines Blindenschulungsheimes,
durch das rund 700 Kriegsblinde ihre AusbiU
45
düng erhalten haben und deren Lebensweg,
soweit möglich, sorgfältig verfolgt worden ist,
glaube ich zu der Behauptung berechtigt zu sein,
daß die Erblindung allein kein Hinderungsgrund
ist, um nicht in einem neuerlernten Beruf erst»
klassige Arbeit leisten zu können. Eine ganze
Anzahl meiner früheren Schützlinge, die vor-
dem etwa ein Handwerk erlernten oder noch
Schüler waren, mußten sich beruflich vollständig
umstellen. Sie leisten in ihren jetzigen Berufen
zum Teil nicht nur Gutes, sondern Vorzügliches;
dabei ist es gleichgültig, ob ihre Begabung und
Neigung sie in ein Blindenhandwerk übergehen
ließen, ob sie als Masseur oder Stenotypist, als
Telefonist oder als Spezialarbeiter in einem
Industriebetrieb stehen, oder ob sie als Rechts-
anwalt, Richter, höherer Verwaltungsbeamter,
ja als Pfarrer, als Musiker im Hauptberuf oder
sonstwie tätig sind, sie stellen ihren Mann. Zur
Ehre und zum Lob ihrer Frauen aber soll gesagt
sein, daß diese — in viel höherem Maße als
Frauen sonst — auch ihre Frau stellen und zu
den besten Kameraden ihrer Männer geworden
sind.
Wir haben beispielsweise damals in unserem
Blindenschulungsheim unter gütiger Assistenz
der Schwestern Tanzabende eingeführt, um
unsere Blinden zu lehren, sich unter Führung
ihres weiblichen Partners unbefangen im Tanz-
saal zu bewegen. Gefördert worden ist u. a. die
Ausübung von Sport, besonders aber das
Schwimmen, und eine ganze Anzahl früherer
Nichtschwimmer hat erst nach ihrer Kriegs-
erblindung gelernt, welche Wohltat es ist, das
nasse Element zu beherrschen; alle sind uns
dafür immer dankbar geblieben. Aus der Schau
einer langjährigen Erfahrung in der Blinden-
arbeit heraus möchte ich auch hier nicht ver-
säumen, auf die günstigen, ich möchte sagen,
lockenden Wirkungen und ap^ die Steigerung
Einen unerhörten Aufwand an Geduld erfor-
dert das Erlernen der Blindenpunktschrift.
Die ohnehin schon übermäßig strapazierten
Nerven des Kriegsblinden haben hier in vie-
len Fällen so versagt, daß mancher Kamerad
dieses mühsame Lernen aufgegeben hat. Viele
aber haben es geschafft und lesen ihre
Punktschriftbücher im gleichen Tempo, als ob
ihnen vorgelesen wird. Freundliche und
immer wieder ermutigende Hilfe war dazu
in dem Ümschulungslazarett nötig.
Arbeits- und Berufskleidung
Herren* und Knabenkleidung
Sportkleidung
Kempel & Leibfried, Urach (Württemberg)
KLEIDERFABRIKEN UND WEBEREI
46
des Lebensgefühls gerade durch den Schwimm=
Sport zu verweisen. Es ist mir immer eine große
Freude, in den Sommermonaten im Freibad
einige meiner jungen Freunde, die kriegsblind
sind, zu treffen; mehrere davon freuen sich
königlich darüber, daß sie mich, ihren früheren
Lehrmeister, jetzt an Schnelligkeit und Aus=
dauer im Schwimmen weit geschlagen haben.
Es fehlt die Spiegelung
Dadurch, daß die Ablenkung nach außen fehlt,
beziehen viele Blinde manches auf das eigene
Ich, wie wir sagten. Dadurch befinden sie sich
in dauernder Gefahr, empfindlich zu werden.
Daher rührt vielleicht auch die Neigung, eine
nicht immer berechtigte Kritik an anderen zu
üben, weil eben der Kanal, der zur Selbst»
erkenntnis führt, viel eher und viel häufiger
Verstopfungen ausgesetzt ist als etwa bei
Sehenden. Letztere erkennen durch Geste und
Mienenspiel ohne weiteres die Unmöglichkeit
ihres Benehmens anderen gegenüber, während
dem Blinden die Wirkung seiner Person, seines
Ausdrucksvermögens auf Mitmenschen verloren»
gehen kann, wenn er sich nicht sorgsam be=
obachtet. Um hier sicher nicht gewollte Takt»
losigkeiten zu vermeiden, muß der Erblindete in
viel höherem Maße wie der Sehende das ganze
Leben hindurch stetig an sich selbst arbeiten,
sich so zu erziehen, daß Entgleisungen vermie»
den bleiben, also das Auge als Kontrollorgan
durch Willenserziehung und Beherrschung zu
ersetzen. Trägt die Frau des Erblindeten in
hohem Maße an seinem Schicksal mit, so ist es
hier mit ihre Aufgabe, dem Kriegsblinden auf»
tretende Schwächemomente in gütiger Form und
in feiner Weise zum Bewußtsein zu bringen.
Nicht immer kann die Frau des Kriegsblinden
eine starke Persönlichkeit sein, und nicht immer
ist Gefühl und das Wissen um das Umsorgen
seiner Person dem Erblindeten eine stets neue
Quelle dankbarer Anerkennung gegenüber
seinem besten Lebenskameraden, leicht können
sich hier in der Zeit des ersten Zusammenlebens
zwischen Ehegatten Spannungen entwickeln, für
die am Ende weder der Kriegsblinde noch seine
Frau wirklich verantwortlich sind. Die stetige
Bereitschaft, hier nichts krumm zu nehmen, ist
auch ein Teil dauernder Selbsterziehung der
Blinden.
Überwindbare Schwierigkeiten
Viel zuwenig beachtet wird, daß es notwendig
ist, den Späterblindeten gegenüber am besten
alle Schilderungen mit optischen Daten zu füh»
ren. Dadurch wird er, wenn dieser Begriff erlaubt
ist, wieder zum innerlich Sehenden. Er soll
immer und immer wieder dazu angehalten
werden, auch in seiner Freizeit, die Gesellschaft
Sehender aufzusuchen, daipit er sich einer
etwaigen Weltflucht entgegenstemmt und stets
zu Vergleichsmöglichkeiten angeregt wird. Der
Kriegsblinde will nur durch seine Leistungen
anerkannt sein, er verschmäht richtigerweise
Mitleid. Ist es möglich — und es wird möglich
sein— , mit Hilfe des neuen Schwerbeschädigten»
gesetzes die arbeitsfähigen Blinden in Beruf und
Verdienst zu bringen, gilt es, ihre Umgebung
mit den sich aus der Lichtlosigkeit zwangsläufig
ergebenden Eigenheiten im Lebensablauf der
Blinden vertraut zu machen, Umgebungs»
Schwierigkeiten also von vornherein schon gar
nicht aufkommen zu lassen, vor allem aber ein
besonders achtungsvolles Benehmen gegenüber
den Blinden zu zeigen.
Was Blinde zu leisten vermögen, wird jedem
klar, wenn er häufiger etwa mit den Leitern der
Kriegsblindenarbeitsgemeinschaften geschäftlich
zu tun hat. Hier tritt klar hervor, daß der Ver»
lust des Augenlichts keinesfalls ein Absinken
von Geschäftstüchtigkeit und beruflichem Wage»
mut zur Folge hat. Bringt man im Berufsleben
dem Kriegsblinden das nötige Verständnis und
beim täglichen Ablauf der Geschehnisse die
erforderliche Rücksichtnahme dar, so wird man
bald finden, daß die Erblindung alles andere,
nur nicht berufliches Versagen zur Folge zu
haben braucht. Was für prächtige Menschen
sind doch jene Kriegsblinden, die in den
Geschäftsstellen und an der Spitze ihrer Ver»
bandsgliederungen stehen und dabei geradezu
Eines Tages war es dann soweit: der Kriegs-
blinde konnte froh und stolz das Umschu-
lungslazarett verlassen. Froh und stolz sind
auch die Schwestern, weil sie mitgeholfen
haben, einem Menschen, der vor Monaten
zermürbt und verzagt ankam, den Rückweg in
ein erfülltes Leben zu ebnen.
Fotos (4!): Seeger
47
der Anker des Lebensschiffs der Kriegsblinden
geworden sind!
Gelingt es, und es wird gelingen, mit der Zeit
die zum Teil unhaltbaren Wohnungsverhält=
nisse unserer Kriegsblinden zu bereinigen, ihnen
also ein behagliches, zum Ausruhen geeignetes
Heim zu schaffen, in dem sie neue Kraft zu
täglich neuem Tun schöpfen können, und wird
das Verständnis um sie und ihre Lebensverhält»
nisse neu geweckt, und dazu sollen diese Zeilen
dienen, so wird auch ihr Leben freudiger und
freundlicher gestaltet. Kommen aber trotzdem
da und dort Stunden der Niedergeschlagenheit
oder gar der Verzweiflung, so gilt hier ein Wort
Dostojewskijs, das er für den Alltag geprägt hat:
„Held sein, eine Minute, eine Stunde lang,
das ist leichter, als in stillem Heroismus den
Alltag tragen. Nehmt es nur auf euch, das Leben
in diesem grauen, eintönigen Alltag, dieses
Wirken, für das euch niemand lobt, dessen HeU
dentum niemand bemerkt, das in niemandem
Interesse für euch erweckt; wer diesen grauen
Alltag erträgt und dennoch dabei Mensch bleibt,
der ist wirklich ein Held."
Bei den Minoxwerken in Heuchelheim bei
Gießen ist der Kriegsblinde Joh. Schwarz in
der Abteilung „Teilkontrolle" tätig. Das für
diese Arbeiten notwendige feine Gefühl, so
sagt anerkennend die Firmenleitung, ist bei
ihm von äußeren Einflüssen frei und stark
ausgeprägt. Seine große Arbeitsfreude und
seine Zuverlässigkeit machen ihn zu einem
beliebten Kollegen. Foto; v Deschwanden
Wer ist „Kriegsblinder“?
Der Ausdruck „kriegsblind" scheint in der
deutschen Öffentlichkeit längst ein fester Be»
griff geworden zu sein. Dennoch fehlt ihm
aber, wie man immer wieder feststellen muß,
eine klare Umgrenzung. Jedermann weiß, daß
es Kriegsblinde ''gibt. Das ist nicht selbstver»
ständlich, denn noch im vorigen Jahrhundert
wußte man wenig davon, da die ärztliche Kunst
noch nicht im entferntesten so wie heute bei
schweren Kopfverletzungen helfen und die
Verwundeten am Leben erhalten konnte. Auch
hat der moderne Krieg mit seinen Schnell»
feuerwaffen und Explosivgeschossen eine weit
größere Anzahl von Kopfverletzten mit sich
gebracht als früher, insbesondere auch weit
mehr Kriegsblinde. Bis zum ersten Weltkrieg
blieben es immer nur wenige, aber schon die
Jahre 1914 und 1915 ließen so viele Soldaten,
und zwar Angehörige aller Gesellschafts»
schichten, das Augenlicht verlieren, daß die
Öffentlichkeit in besonderem Maße an ihrem
Schicksal Anteil nahm. Einzelpersonen und
karitative Verbände, insbesondere auch die
erst 1912 gegründete Selbsthilfevereinigung
der Zivilblinden, also der Reichsdeutsche
Blindenverband, organisierten vielerlei Sam»
mel» und Hilfsmaßnahmen. Die Kriegsblinden
empfanden es aber mehr und mehr als schmerz»
lieh, öbjekte des Mitleids und der Blindenfür»
sorge zu sein, was sie vor allem beim Aufent»
halt in den Blindenerholungsheimen spürten,
die der Reichsdeutsche Blindenverband mit den
für die Kriegsblinden gesammelten Geldern ein»
gerichtet hatte. Sollten sie in die Reihen der
zwar bemitleideten, im übrigen aber von der
Welt der Sehenden ausgeschlossenen Blinden
gehören? Gehörten sie nicht im Grunde immer
noch — wie vor wenigen Monaten — der Welt
der Sehenden an?
Viel trug zu dieser Trennung der Kriegs»
blinden von den Friedensblinden auch die da»
malige verständnislose amtliche und private
Berufsberatung bei, die ohne Rücksicht auf
Vorbildung und früheren Beruf auch für die
Kriegsblinden nur die typischen Blindenberufe
wie Korb» und Bürstenmacher kannte. Die
Kriegsblinden fühlten sich in erster Linie als
Kriegsverletzte, und auch heute noch ist ihre
seelische und geistige Situation wesensunter»
schieden von der eines Zivilblinden, ins»
besondere der Kindheits» oder Geburtsblinden,
die ja mit der Welt, die sie umgibt, nur schwer
eine Vorstellung verbinden können.
So nahmen die Kriegsblinden aus einer für
sie bezeichnenden Aktivität heraus schon 1916
selber die Meisterung ihres Schicksals in die
Hand, um die Verbindung mit der sehenden
Welt nicht zu verlieren. Sie gründeten einen
Bund, der schließlich mit der Erfassung aller
3000 Kriegsblinden des ersten Weltkrieges zu
einer echten Schicksalsgemeinschaft wurde.
48
f^ff
Foto; Barbara Seidl-Herberz
Die Frage, wer a's „Kriegsblinder" zu be=
zeichnen ist, kann darüber hinaus natürlich
genau nur mit rechtlichen Hinweisen geklärt
werden, also gegenwärtig unter Bezugnahme
auf das Gesetz zur Regelung der Versorgung
der Kriegsopfer (Bundesversorgungsgesetz oder
„BVG"). Da besteht nun die merkwürdige Tat=
Sache, daß im gesamten BVG, trotz vielfacher
Sonderregelungen für die Kriegsblinden, der
Begriff „Kriegsblinder" nur im § 25 (2) aus=
drücklich verwandt wird. Bei allen anderen Be=
Stimmungen, z. B. § 11, § 13, § 31 und § 35 BVG,
ist nur von „Blinden" die Rede. Dies ist voll=
auf berechtigt, denn für das BVG ist ja die
Blindheit ohnehin eine der vielfachen Folge=
erscheinungen der im Kriege erlittenen Ver=>
letzungen und Gesundheitsstörungen, wie es
daneben die Hirnverletzten oder die Ampu=
tierten usw. gibt. Entscheidend ist allein, daß
im Sinne des BVG nur derjenige als „Kriegs»
blinder" zu bezeichnen ist, dessen Blindheit in
ursächlichem Zusammenhang mit dem Wehr»
dienst oder mit den Kriegsereignissen steht
(§ 1 BVG). Gemeint sind also Beschädigungen,
49
die bei Ausübung militärischer Dienstverrich«
tungen erlitten wurden, ob durch Unfall oder
durch Feindeinwirkung, oder Beschädigungen,
die durch die bei solchem Dienst eigentümlichen
Verhältnisse herbeigeführt wurden. Ferner
gelten alle unmittelbaren Folgen des Krieges,
vor allem also die Folgen des Luftkrieges — aus
diesem Grunde finden wir unter den Kriegs»
blinden' auch sehr viele Frauen und Kinder —
ebenso die Folgen der ' mit dem Krieg ver»
bundenen Tatbestände der Kriegsgefangen»
Schaft, Internierung usw.
„Blind" im Sinne des BVG ist jeder auf
solche Art Beschädigte, der „nichts mehr oder
so wenig sieht, daß er sidi in einer ihm nicht
vertrauten Umwelt nicht allein zurechtfinden
kann", wie es in den Verwaltungsvorschriften
zu § II und § 35 festgelegt ist. Sobald dies
durch ärztliche Gutachten, gemäß den Anhalts»
punkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
Versorgungswesen, im Rentenbescheid rechts»
kräftig festgestellt und anerkannt ist, handelt
es sich um einen „Kriegsblinden".
Dr. P. Plein
BBC
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gegen Vergeudung von
Brennstoffen und Verderb
von Lebensmitteln beute
große Bedeutung hoben.
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5°
Kriegsblinde erzählen:
Tränen um Troll
Dort stehen die beiden kleinen Tannen, dort,
wo im Garten unseres Hauses der Rasen ist!
Schatten wirft das Haus tagsüber um die heißen
Stunden des Mittags. Wie immer setze ich mich
zu ihnen, zu meinen kleinen Tannen. Was sage
ich, kleinen Tannen? Sind sie noch klein, so wie
sie es waren vor mehr als fünf Jahren? Meine
Hände gleiten über die jungen Triebe. Beim
Erheben stelle ich fest, daß sie fast einen Meter
hoch geworden sind. Meine beiden kleinen
Tannen! Aber — da ist ein Hügel, ein blumen=
übersäter kleiner Hügel, just dort, wo die
Tannen stehen, und wieder gleiten meine
Hände über die beiden Bäumchen. Wie ein
Pärchen haben sie sich miteinander, ineinander
verbunden, verbunden, wie es so kommen
mußte in den fünf Jahren, weil es weitergeht,
das Leben. Aber — ich wollte doch von meinem
Troll sprechen, von meinem Troll. Angesichts
des Hügels, dieses kleinen Grabhügels will ich
sprechen von Troll, sagen, warum dort die Tan=
nen sind, die Blumen, der Hügel, das Kreuz.
Will, daß der Wind es bringt, was ich denke
hier am Grabe des Troll.
Da klappert wer mit Tellern, auch Töpfe
schrapt man und reinigt sie, und Kinder vom
Grundstück nebenan pfeifen einen Gassen»
hauer. Wind fährt mir durch das Haar! Der
Wind, ja, von dort weht er, wohin ich einst
geschritten bin mit Troll, von wo aus unsere
Wege zumeist begannen und wo Mutter und
Frauchen uns abends zurückerwarteten, vom
Weg dort, abseits der breiten Straße. Warum
erzähle ich das von Troll? Muß gerade jetzt die
Nachbarin mit ihren Kindern zetern und
schreien, daß es widerhallt von den kleinen
Häusern gegenüber? Das Feuerzeug klickt, eine
Zigarette soll mich beruhigen. Kamerad, wenn
deine Hände den Kopf deines Hundes fassen,
du, sei glücklich, doch — jetzt erzähl' ich dir
von Troll! Seltsam, was eine Zigarette bis»
weilen fertigbringt!
Von übermäßigem Wuchs war er, er, mein
Troll. Stark und ungestüm, jung und schwarz
wie das Gefieder des Kolkraben. Pranken hatte
Troll, wie sie nicht oft zu finden sind beim
deutschsbelgischen Schäferhund, und Augen
wie Bernstein und Zähne wie Elfenbein. Gleich
Glas sprängen die Knochen, sagten die Leute.
Wer hatte nicht trotz Schwere der Zeit zu fres»
sen für ihn? Mein Gott — , sind das fünf Jahre
her, fünf endlos lange Jahre? Winzig nur
waren die beiden Tännchen derzeit, als wir sie
ihm aufs Grab setzten, und heute? Meine Hände
greifen ihren Stamm. Unglaublich, kinderarm»
dick sind sie fast geworden. •
Kamerad, ich weiß nicht, was du durchlebt
hast. Aber — soll ich dir sagen, daß ich noch
heute sein Bellen höre, das Knirschen des Le»
ders seines Führgeschirrs und aufschrecke des
Nachts im Schlaf, weil — , doch hör' weiter vom
Troll. Von Ortschaft zu Ortschaft zogen wir,
mein Hund und ich. Es füllte sich mein Ruck»
sack in der schweren Zeit nach dem Kriege.
Daß meine Familie nicht Not litt, das war allein
sein Verdienst. Woche um Woche unermüdlich
Monat um Monat, sonnabends ging es zum
Hamstern. Dieses Wort kennst du doch noch aus
der Zeit, Kamerad, oder? Nun, ich kann jetzt
schwer sprechen von Treue, von all dem, was
war um uns zwei, um meinen Hund und mich.
Und doch kam es eines Tages, geschah, tat sich
wie immer im Ablauf alles Irdischen. Der Tier»
arzt mußte kommen! Der Mann kam noch ein»
mal, ein drittes und ich glaube noch viele Male.
Ich spürte es, hörte dann und ja — — , eine
Rettung gibt es nicht mehr, Wassersucht! Der
Tierarzt sagte es. Zusehends schwoll der Leib
meines Hundes, wurde dicker von Tag zu Tag.
Troll trank nur noch. Sein Leib wurde zum
Erbarmen ungestalten. Entsetzlich trat das
Rückgrat hervor. Meine Hand wagte ich nicht
darüberzulegen. Heiß ging der Atem meines
Tieres, und Röcheln war in ihm, ein furcht»
bares Röcheln!
Was weiter geschah zu jener Zeit, was sich
dann tat eines Abends, als der Förster kam,
so genau kann ich es nicht mehr sagen, kann es
nicht aussprechen. Eisige Ruhe, Schweigen
währte minutenlang! Wer ihn geliebt hatte,
verschloß sich rpit den Händen das Ohr, und
ich — ich zählte und zählte, weiß nicht, wie
weit ich kam mit meinem Zählen, zählte noch,
bis der Schuß fiel. Ein Knall zerriß die Luft, ich
habe das Echo gehört, seltsam, daß ich das ver»
nahm, dreimal, viermal oder mehr.
Längst war tiefer Abend um unsere Ortschaft
und, Kamerad, als die drei großen Männer
miteins da waren, begriff ich erst! Schwere
Pickel schlugen sie in die Erde, ihre Spaten
kreischten im steinigen Boden. Kamerad, ich
sagte: es wurde Nacht! Als ich seinen Kopf
nahm, das warme klebrige Blut fühlte, du, da
war ich der Dunkelheit dankbar. Von drei gro»
SdiadodilictQ
€IN WeiNBRÄND, D€R HÄLXWÄS SCIN NÄ\\e VeRSPRlCHT
4*
51
f3en und derben Männern sprach ich; sie haben
es mir leicht gemacht, leicht und schwer zu=
gleich. Männer weinen, Männer unserer Zeit
weinen um einen toten Hund? Warum sprach
keiner, wie es sonst ihre Art war? Weshalb
gruben und schaufelten sie so schnell, so hastig?
Eng war meine Kehle, wie zugeschnürt. Ich
habe doch das große Sterben derzeit erlebt!
Aber hier, Männer weinen um einen Hund, nur
um einen Hund . . .
Längst ist kein Pickeln mehr um uns, kein
Schaufeln, nur Stille. Eine unbeschreibliche
Stille. Beim Buchenberg schreit ein Nachtvogel,
und Irgendwo gehen Menschen über die neue
Teerstraße.
So — so war es um Troll!
Meine Hände fühlen heute wieder die
Stämme der kleinen Tannen. Verzeih, Kame=
rad, wenn ich mich etwas verlor. Jetzt ist Mit=
tag, und fünf Jahre sind vergangen. Du sollst
aber hören, was ich sage, wenn du deinem
Hund durch die Halskrause fährst: Sei gut zu
ihm, sehr, sehr gut! Am Ende könnte es dir
sonst so gehen wie mir. Ein ungerechter Hieb,
den du ihm gibst, gereut dich vielleicht wie bei=
spielsweise — mich: heute noch! John Warncke
Ein Realist der Mens(blid)keit
Als der Geschäftsmann Henry Dunant aus
Genf 1859 Kaiser Napoleon III. in der Lom=
bardei aiifsuchen wollte, um bei ihm seine alge=
rische Mühlenkonzession, die ihm die Kolonial»
Bürokraten verweigerten, durchzusetzen, geriet
Henry Dunant, gehören am 8. Mai 1828 in
Genf, war ursprünglich ein nüchterner Ge-
schäftsmann. Durch Zufall erlebte er 1859 in
der Schlacht bei Solferino das grauenvolle
Leid verlassener Verwundeter. So wurde er
zum geistigen Schöpfer des Roten Kreuzes.
Nach einem Holzschnitt von Prof. v. Dombrowski
er in Solferino in die blutigste Schlacht des
Jahrhunderts. Ein typischer Zeitmensch, nur sei»
nen Geschäften auf Kosten der menschlichen
Substanz lebend, stand hier plötzlich der Reali»
tät des nackten Lebenskampfes in seiner grau»
samsten Gestalt gegenüber. Er schloß nicht feige
die Augen und floh nicht, er brach auch nicht
zusammen vor dem Inferno einer ungeahnten
Barbarei, die bis zurNiedermetzelung Tausender
wehrloser Verwundeter auswucherte: Dunant
erlebte sein Damaskus.
Der Genfer Kaufmann zog die Konsequenz
und handelte, er schuf auf dem Schlachtfeld
durch bloßes Helfen jenseits der bis dahin
üblichen Scheidung von Freund und Feind, von
Siegern und Besiegten, ein überdauerndes
Werk, er rief mit traumwandlerischer Sicherheit
die Urzelle des Roten Kreuzes ins Leben. Und
nach dem Erstaunen, das jeder schöpferische
Beginn in der Masse Mensch bewirkt, erntete er
schon mit der praktisch hilflosen, weil unvor»
bereiteten Tat von Solferino den Sieg, den sie
in sich barg: das Volk von Solferino, die italie»
nischen Bäuerinnen gehorchten seinem Ruf und
halfen mit — und es erwachte angesichts von
abertausend verblutenden, verschmachtenden
Verwundeten der erkennende Leitruf über dem
Feld des Grauens: „Tutti fratelli!" Alle sind^
Brüder! — Auch die feindlichen Brüder. — Ddr
wehrlose, wunde Feind wurde verbunden und
versorgt, soweit dies ohne die primitivsten
Hilfsmittel überhaupt möglich war.
Bis dahin ist das Erleben und Handeln
Dunants die Erfahrung und Tat eines aus Her»
zensträgheit und Geldjagd erwachten Mannes
seiner Zeit. Es hat immer und vor allem im
ig. Jahrhundert erschütterte Herzen gegeben,
die aus dem Erleben mitmenschlichen Leides
zum Samaritertum als der Forderung der Stunde
fanden und dann wieder in ihr gewohntes
Leben zurückkehrten.
Dunants Wandlung führte jedoch zu einer
weltweiten Mission, die' den ganzen Menschen
abforderte. Und einzigartig wurde sein Werk
nur deshalb, weil er in seinem zähen Ringen
um eine übernational bindende Konvention der
52
in aen Kriegen von J866 und 1870171 trat, wenige Jahre nach der Genfer Konvention,
zum ersten Male das „Rote Kreuz“ als Schutzmacht der Menschlichkeit in Erscheinung. Diese
rührende Zeichnung von Albert Hendschel mag zwar die Teilnehmer der Kriege des 20. Jahr-
hunderts lächeln lassen, aber doch ist sie ein schönes und ehrlich gemeintes Dokument. Die
Helferin trägt bereits die Armbinde des Roten Kreuzes. Henry Dunant war bald in Ver-
gessenheit und in größtes Elend geraten, aber seine Schöpfung und seine Ideale hatten sich
durchgesetzt. Millionen verwundeter Soldaten sind ihm Dank schuldig.
Staaten bewies, daß hier kein Romantiker des
Gefühls, sondern ein Realist der Menschlichkeit
seine Forderung an die Menschheit richtete: mit
den wachsenden Waffenwirkungen, die seit der
Heraufkunft der Technik zu unausdenkbaren
Vernichtungen führen müssen, den Kampf
durch ein von allen anerkanntes und völker=
rechtlich bindendes, begrenzendes Maß zu ver=
menschlichen — und im Zeitalter der Masse, der
anonymen Kollektiv=Gewalten und ihrer groß=
mächtigen Apparaturen dem Menschen ein
erstes und letztes Grundrecht zu sichern, dem
Individuum Mensch, wie es als Einzelwesen ge=
boren wird und sterben muß.
Keine idealistische Parole: „Nie wieder
Krieg!" — Kein ideologischer Absolutheits=
Anspruch: „Die Waffen nieder!" — Dunant
kannte den Menschen in seiner Paradoxie,
seine zwiespältige Natur, seine Götzen und
Dämonen, sein Unmaß und seine Grenze. Er
ahnte die Heraufkunft der vernichtenden Mächte
des 20. Jahrhunderts. Und er blieb deshalb ein
unbestechlicher Realist, der nicht mehr forderte,
als „hier und heute" zu erreichen war. So siegte
seine Idee über das tragische Schicksal ihres
ersten Trägers hinaus, der sich durch ein diffa=
mierendes Elend bis ins hohe Alter quälen
mußte.
Das Rote Kreuz überdauerte die beiden un=
menschlichsten Kriege der Geschichte, seine Auf=
gaben wuchsen über das gesetzte Maß des
19. Jahrhunderts weit hinaus; es stand im Luft=
krieg vor den verstümmelten und verbrannten
Frauen, Greisen und Kindern, im Partisanen=
krieg und im Bürgerkrieg vor dem Geisel=
System, im totalen Krieg vor der Zwangsarbeit,
Austreibung und Tötung von Millionen Zivi=
listen.
Und obgleich es — wie sein Gründer in Sol=
ferino — nicht das Feuer der Unterwelt zu
löschen vermochte, versuchte es zumindest, mit=
ten hinein in den Rachen der Hölle zu greifen,
und zeugte so für die Bruderschaft alles Leben=
digen — im Dienst an Freund und Feind, auch
53
^t)U iPcHafi ‘poGtiwr 'K^vatttf »
wenn es paradox scheint, den Mord zuzulassen
und nach dem Schlachten den Überlebenden,
soweit sie wehrlos geworden sind, zu helfen.
Nach jener Schlacht bei Solferino lagen 40 000
Verwundete hilflos in ihrem Blut; die ganze
Nacht hindurch hörte man das Schreien und
Jammern der Verwundeten, und es war einfach
unvorstellbar, daß die Ärzte sich der „feind-
lichen" Verwundeten annahmen. Was galten
Menschen! „Was wollen Sie! Man kann keinen
Eierkuchen backen, ohne Eier zu 'zerschlagen!"
Das war die Antwort des Kriegsmanns, des
Generals Beaufort, als ihm Dunant auf dem
Schlachtfeld Vorwürfe machte.
Mit Mühe gelang es Dunant, österreichische
Ärzte, die als Gefangene weggeführt wurden,
zur Pflege der Verwundeten frei zu bekommen.
Er bildete eine erste Samaritergruppe. Ein An=
fang war gemacht.
Jeder deutsche Soldat, gerade auch diejenigen,
denen dieses Buch hier gilt, haben etwas von
dem Segenswerk Dunants am eigenen Leibe er=
fahren. Darum gelte ihm auch hier ein Wort
des Dankes. Gerhard Eschenhagen
Vom „Sehen" der Kriegsblinden
Daß wir Kriegsblinden einmal haben sehen
können, ist unser Schmerz und zugleich unser
Glück, auf das wir nicht um alles verzichten
möchten. Schmerz deshalb, weil wir wissen,
was wir verloren haben. Glück, weil uns das
Gegenständliche der Welt, wenn wir es nen=
nen hören, zum Bilde wird, weil wir es „sehen".
Freilich ist der Vorgang unseres „Sehens" an=
ders als bei den Sehenden. Während diesen
das Bild unmittelbar durch das Auge bewußt
wird, müssen wir es aus dem Schatz unserer
Erinnerungen in uns erst hervorsuchen und
„sehen" es innerlich. Daß dieses Bild von Wald,
Wiese, Berg, Straße, Haus und Heim nicht der
Wirklichkeit entspricht, selbst wenn man es
uns noch so genau beschreibt, versteht sich von
selbst. Doch kommt es darauf auch nicht so
sehr an wie darauf, daß uns die Welt außer
uns nicht überhaupt verödet und daß wir fort=
fahren, sie zu „sehen".
Zu diesen Gedanken regt mich eine Beob=
achtung an, die ich an mir selbst gemacht habe.
In den ersten Monaten nach meiner Verwun=
düng „sah" ich, wenn ich draußen war und
durch die Straßen ging, so lebendig, daß ich
die Straßen, durch die ich ging und die ich nicht
kannte, mit buntem Leben füllte. Ich „sah"
Straßen, Verkehrsmittel, Bäume, Menschen,
„sah" z. B, eine Straßenbaustelle mit Warnungs»
Schild, aufgerissenem Straßenpflaster, frei-
liegenden Straßenbahnschienen, den dampfen-
den Teerwagen, die hantierenden Männer —
alles Dinge, die wohl zu irgendwelchen
Straßenbildern gehören mochten, aber hier und
in dieser Art gar nicht vorhanden waren. Das
ging so weit, daß ich plötzlich den Schritt ver-
hielt, weil ich spielende Kinder nicht umlaufen
wollte, die ich vor mir auf dem Weg mit Puppen-
wagen und einem Holzpferd am Bindfaden
stehen „sah"; oder: daß ich auf einmal den
Kopf einzog, weil ich mich auf einen Mauer-
vorsprung zugehen „sah". Auch diese Hinder-
nisse waren in Wirklichkeit gar nicht da. Sie
gehörten aber zu dem -Bild 'in mir, das ich mir
von der Umwelt machte. Nach und nach verlor
sich dieses „Sehen", die Umwelt, die ich durch-
di.e^^l/Uelt • . .
Artikel und Buchauszüge von bleiben-
dem Wert aus den führenden Zeitschriften
und meistgelesenen Büchern der Welt
Monatlich für 1 Mark
54
Winter im Dorf
Holzschnitt von Ottilie Ehlers-Kollwitz
55
ging, wurde mehr und mehr zum wesenlosen,
gestaltlosen Raum.
Ich denke mir nun, daß es' so oder ähnlich
auch anderen kriegsblinden Kameraden ge=
gangen sein mag. Und hierin liegt die Gefahr,
daß wir die gegenständliche Verbindung zu
unserer Umwelt verlieren, daß wir zu „sehen"
verlernen. Freilich soll an Stelle des von mir
eben geschilderten „Phantasie=Sehens" ein der
Wirklichkeit möglichst angenähertes „Sehen"
treten. Das aber will geübt und ständig ge=
pflegt sein. Hier liegt eine wichtige Aufgabe
unserer Begleitung, vor allem unserer Frauen.
Sie sollen uns helfen, unsere Umwelt zu
„sehen". Sie sollen, ohne daß wir fragen, uns
unsere Umgebung so genau wie möglich be=
schreiben, sollen viel Farbe ins Bild tun —
wissen wir doch, was Farbe, was Licht ist —
sollen uns von Gebäuden die Größe, Form und
Bauart beschreiben, sollen, wenn wir in freier
Natur sind, uns die Landschaft „sehen" lassen,
und zwar systematisch, wie wir es als Soldaten
bei der Geländebeschreibung taten, Vorder=
grund, Mittelgrund, Hintergrund, immer von
links nach rechts, sollen uns auf Besonderhei=
ten, einen schönen Baum etwa, „aufmerksam"
machen, kurz, uns alles mit „sehen" lassen,
was sie selbst sehen.
Das ist nicht immer leicht und will gelernt sein;
aber es lohnt sich, daß sich unsere Begleiter
ernsthaft darum bemühen; denn sie machen uns
die graue, leere Welt bunt und gegenständlich
lebendig. Daneben fällt für sie selbst noch ein
Gewinn dabei ab: sie selbst lernen bewußt sehen,
genau sehen. Aus diesem Grund empfiehlt man
selbst solchen, die nicht zeichnen können, sich
auf Wanderungen etwa einen Skizzenblock mit=
zunehmen und eifrig zu zeichnen, was sie sehen
„Bitte, lies mir diesen Brief vor!“ — „Kannst du mir jetzt etwas aus der Zeitung vorlesen?“
Solche Bitten sind jeder Kriegsblindenfrau vertraut, und immer wieder muß sie Zeit haben
für ihren Mann, auch wenn es die Hausfrauenarbeit gar nicht erlauben will. Das Vorlesen
stellt Ansprüche, aber auch das Zuhören. Mancher Kriegsblinde brauchte viele Monate, ehe
er, z, B. beim Studium, sich völlig auf das Ohr umgestellt hatte und wirklich aufnahm, was
ihm vorgelesen wurde. Foto: Dau
56
— ganz gleich, was zeichnerisch dabei heraus»
kommt — , weil sie so überhaupt erst richtig
sehen lernen. Ein solches Zeichnen, nur mit
Worten und aus Worten geformten Bildern, ist
die Beschreibung der Umwelt durch unsere Be=
gleitung.
Ein weiterer Weg, unser Inneres mit Bildern
zu füllen, ist das Lesen guter Naturbeschreibung
gen oder für den, der Freude daran hat, von
Reisebeschreibungen. Wir haben wohl früher,
wenn wir ein Buch lasen, solche Beschreibungen
von Orten oder Naturbildern gern als lang»
weilig überschlagen. Heute sollten wir sie recht
aufmerksam lesen und das, was uns da erzählt
wird, recht eindringlich in uns aufbauen.
Daß wir uns die Räume, in denen wir leben
und arbeiten, die nähere Umgebung unserer
Wohnung, den Weg zur Arbeitsstelle und auch
die Menschen, "mit denen wir umgehen, ganz
genau beschreiben lassen, ist eigentlich selbst»
verständlich und Vorbedingung dafür, daß wir
in unserer näheren Umwelt heimisch werden.
Kurz, „blind" sind wir Kriegsblinden, die
wir doch einst zu den sehenden Menschen ge»
hörten, nicht, jedenfalls so lange nicht, als wir
uns eine Vorstellung von der Umwelt zu er»
ringen und zu bewahren suchen. Bodo Schütz
Beim Essen hat die Frau eines Kriegsblinden
immer zwei Teller zu beachten, ihren und den
ihres Mannes. Sie muß ihm das Fleisch schnei-
den (es hat immer seinen bestimmten Platz
auf dem Teller), und beim Frühstück streicht
sie für ihn die Brote. Kleinigkeiten? Viel-
leicht! Aber eine Vielzahl solcher Kleinig-
keiten ergibt eine beträchtliche Summe . . .
Wie sie ihren Männern die Last leidofer madoen
Ein Wort zum Lobe unserer Frauen
Das ist das Äußere: peinliche Ordnung, der
Aschenbecher immer am gleichen Platz, ebenso
die Sessel und Stühle, der Schuhanzieher und
die Handschuhe. Der Mann will sich nicht an
Gegenständen stoßen, die er vor sich nicht ver»
mutet — darum Zimmer» und Schranktüren
immer schließen! — , und er will rasch finden,
was er braucht. Überhaupt ist im äußeren Leben
einer Kriegsblindenfrau alles Organisations»
kunst: da muß die Zeit zum Vorlesen aus der
Zeitung einkalkuliert werden und die Zeit, um
den Mann — vielleicht mit dem Tandem — zur
Arbeitsstätte zu bringen oder wenigstens zur
Straßenbahn, und schwieriger noch: die Zeit,
um ihn abzuholen. Mancherlei Belastung kommt
hinzu, die sonst ein Ehemann seiner Frau ab»
nimmt, ob es das Unkrautjäten im Garten ist
oder das Nachsehen der Schularbeiten der Kin»
der. Kurz, der Alltag einer Kriegsblindenfrau
verlangt von ihr eine Menge, dem Beobachter
meist verborgener Anstrengungen.
Zu dieser Meisterung des Alltags, der die
Kräfte vieler unserer Frauen vorzeitig aufreibt.
kommen aber weitere wesentliche Aufgaben.
Es sei hier nicht von den vielen Handreichungen
und Hilfeleistungen gesprochen, die der Kriegs»
blinde ständig benötigt, auch nicht von der
körperlichen und nervenmäßigen Erschöpfung,
mit der ein Kriegsblinder oft von der Arbeits»
Stätte helmkehrt und die es ihm unmöglich
macht, zum Feierabend irgend etwas Hübsches
mit seiner Frau zu unternehmen; es sei hier
vielmehr nur einmal auf einen tieferliegenden,
bedeutungsschweren Punkt hingewiesen: der
Mann behält den Kontakt mit der Welt allein
durch die Augen seiner Frau, das heißt also,
daß es allein an der Frau liegt, was für Vor»
Stellungen sich der Mann von der Umwelt
macht und m welchem Maße er etwa schon
dadurch innerlich verarmt, daß Schönheit und
Fülle des Sichtbaren ihm nicht mehr mit jener
Plastik vermittelt werden, die einzig die dunk»
len Mauern um ihn aufbrechen kann. Das er»
fordert bei der Frau viel Kunst nicht nur des
Schilderns in Worten, sondern auch der Erlebnis»
fähigkeit. Schon ein Ausruf, ein Führen der
Die „HOHENSONNE“ ORIGINAL HANAU
schenkt Ihnen
Wmm
Gesundheit - Schönheit - Leistungssteigerung!
O^OlNAl HANAU
57
Für jedeip. Kriegsblinden gibt es immer wieder
Stunden tiefer Niedergeschlagenheit, auch bei
den Kriegsblinden des ersten Weltkrieges;
denn „gewöhnen“ kann man sich nicht daran.
Tag für Tag in Dunkelheit zu leben, ln solchen
Stunden der Depression ist es immer wieder
die Frau des Kriegsblinden, die ihm neuen
Mut gibt. Foto; Seeger
Hand zu einer Knospe etwa, kann viel ver=
mittein. Glücklich jener Kriegsblinde, der sagen
kann: „Ich habe zwei helle, wache Augen, die
Augen meiner lieben Frau!"
Das sind Schicksale
Zu einer Zeit, als man an Krieg und Kriegs=
geschrei noch nicht dachte, hatten beide die
Ehe geschlossen, und das Leben floß dahin in
einer ruhigen Bahn. Am Steuer des Eheschiffes
saß ja der Mann. Er war Halt und Stütze für
sie, und beide meisterten gemeinsam die un=
ausbleiblichen Schwierigkeiten des täglichen
Lebens. Dann kam der Krieg, und mit ihm kam
der Abschied. Die Sorge für die Familie lag
auf den Schultern der Frau. Das war eine
ungewohnte Bürde.
Dann kam eines Tages ein Brief, von einer
fremden Hand geschrieben, und in diesem Brief
stand die Nachricht von der schweren Verwun=
düng des Mannes. Sein Augenlicht sei gefähr=
det, hieß es da. Sie wußte, was das zu bedeuten
hatte. Allzu gut hatte sie seit dem Beginn des
schrecklichen Krieges gelernt, das zu lesen, was
nicht geschrieben wurde ...
Sie wußte es: ihr Mann war durch seine Ver-
wundung erblindet!
Eine Welt brach zusammen, und sie meinte,
die Sonne müsse ihren Schein verlieren und die
Welt müsse stille stehen. Aber beides geschah
nicht! Die Sonne schien freundlich wie am
Hochzeitstage, und die Welt drehte sich weiter.
Das Schicksal ihres Mannes und ihr eigenes, sie
waren ja viel zu winzig, um den Lauf der Welt
zu beeinflussen. Und diese Erkenntnis war wohl
der erste geringe Anfang ihres Willens zum
Dennoch und zum Trotzallem!
Dann sah sie eines Tages ihren Mann im
Lazarett wieder. Es war bitterschwer, und es
kostete sie fast ein Übermaß an Kraft, aber sie
trat ihm mit ihrer heiteren, gütigen und freund=
liehen Art entgegen, wie früher. Keine Träne
floß, und mit keinem Wort erwähnte sie die
schwere Verwundung. Sie erwähnte auch nicht
die glückliche Vergangenheit. Nur die Gegen=
wart ist lebendig und die Freude, sich endlich
wieder zu haben.
^Allerdings: was da geschah vom Zeitpunkt
an, als sie den Brief gelesen, bis zum Augen=
blick des Wiedersehens mit ihrem Manne, das
geschah im stillen Kämmerlein, und nur sie, die
Frau, weiß darum, und sie wird nie darüber
sprechen.
CAMERAS . SICHERHEITSSCHLÖSSER
SPIEGELLEUCHTEN
MED. KOLORIMETER
ZEISS IKON AG GOERZWERK
BERLIN-FRIEDENAU • RHEINSTRASSE 45-46 • AMERIKANISCHER SEKTOR
5«
Ihr freundliches, scheinbar unbekümmertes
Wesen aber waren die ersten Stützen, an denen
sich der Mann in seinem neuen Leben in Nacht
und Dunkel aufzurichten vermochte.
Eines Tages kehrte der Mann heim. Zur Sorge
um die Familie kam jetzt noch die Pflege des
Mannes hinzu als eine zunächst unbekannte
Größe. Dazu kamen Aufgaben ganz neuer Art.
Sie mußte sich daran gewöhnen, aufs Dach zu
steigen, wenn der Wind einen Dachziegel ge=
löst hatte. Sie lernte, mit dem Hammer und der
Zange umzugehen, den Malerpinsel zu führen,
die Hacke zu schwingen und die Schaufel zu
heben. Sie mußte sich aber auch mit dem Ge»
danken vertraut machen, daß der Feierabend
dem Manne gehörte. Die fleißige Nadel mußte
HÖR AUF DEN HERZSCHLAG!
Die Sonne soll scheinen,
Der Mond, er soll leuchten!
Die Wolke muß regnen,
das Erdreidi zu feuchten.
Und siehst du kein Leuchten,
weil Nacht dich umgibt,
so hör auf den Herzschlag
der Frau, die dich liebt!
Es s<^lägt mit dem Klang,
der tn alledem wohnt:
in Sonne und Erdreich
und Wolken und Mond!
WILFRIED MÜHLENSIEPEN
ruhen. Statt dessen lernte sie, ein Buch vorzu=
lesen, und siehe da! Sie erfuhr, daß die Dinge
schon halb getan waren, wenn man sie nur mit
beiden Händen zugleich anfaßte. Mit schier un=
endlicher Geduld und zartem Feingefühl ver=
suchte sie, ihren Mann zu lenken und zu führen.
Nicht zu jedem Augenblick standen Geduld und
Feingefühl in ausreichendem Maße zur Ver=
fügung. Sie war ja auch nur ein Mensch, deut=
lieber gesagt: nur ein Mensch . . .
„Wie bitte? Sie haben mit Ihrer Frau eine
Radtour gemacht?“ So lauten am Montag-
morgen die ungläubigen Fragen der Kollegen.
„Und ob!“ erklärt lachend der Kriegsblinde,
„allerdings mit dem Tandem! So ein Doppel-
sitzer scheint für unsereins erfunden zu sein.“
So kam es zu großen und kleinen Schwierig=
keiten in der Ehe und in der Familie. In dem
Maße aber, wie sie Herrin dieser Schwierig=
keiten wurde, wuchs die Kameradschaft zwi=
sehen den beiden zu einem Block aus einem
einzigen Guß. Wenn je das Wort von der
Kameradschaft Gültigkeit hat, so hat es seinen
tiefsten Sinn im Ehe= und Familienleben des
Kriegsblinden gefunden.
Von einer anderen Gruppe von Frauen soll
hier noch die Rede sein. Als junges Mädchen
lebt man das Leben der glücklichen und unbe=
schwerten Jugend. Da tritt plötzlich und unver=
Zur ßaarpfleße
SCHWARZKOPF
59
„Ohne die Charlotte hätte ich es wohl nie geschafft!“ sagt dieser kriegsblinde Rechtsanwalt.
Charlotte ist seit sechs Jahren seine Frau und Mitarbeiterin. In vielen Kriegsblindenehen,
vor allem bei den selbständig tätigen Kriegsblinden, ist die Frau zur Mitarbeiterin ihres
Mannes geworden, und diese gemeinsame Arbeit verbindet beide noch enger. Charlotte ist
inzwischen Mutter zweier Mädchen und eines Jungen geworden. Über Langeweile hat sie
also nicht zu klagen, auch wenn im Haushalt ein Mädchen hilft und im Büro eine Sekretärin.
mittelt ein Mann in das Leben dieses jungen
Mädchens, ein Mann, der vom Kriege sehr
schwer gezeichnet ist. Er verlor in den letzten
Tagen des i. Weltkrieges sein Augenlicht, seine
beiden Hände und das Gehör fast völlig. Und
das junge Mädchen fühlt ebenso plötzlich und
unvermittelt die Berufung in sich,Lebensgefähr=
tin dieses Mannes zu werden. Sie lernten sich
durch einen Zufall im Jahre igzö kennen und
Ausschneiden — Einsenden!
Gutschein 426
Gegen Einsendung dieses Gutscheines erhalten
Sie das vielgeriihmte
Gärtner Pötschkes Gartenbuch
für nur 1, — DM einschließlich Versandkosten.
144 Seiten Inhalt. 419 Bilder (davon 200 Blumen-
und Schädlingsbilder in prächtigen Farben) und
ungezählte Winke eines alten Gärtners. 1, — DM
in Briefmarken einsenden an den bekannten
Gärtner Pötschke (22a) Neuß 2, Abt. 426
Um die Unversehrtheit dieses wertvollen Kalen-
ders zu bewahren, genügt auch Bestellung unter
Angabe obenstehender Kenn-Nummer
heirateten im Jahre 1927. Aus der Ehe sind drei
Söhne hervorgegangen, drei Jungen, auf die die
Eltern stolz sein können. Die Mutter und Gattin
eines kriegsblinden Ohnhänders erzog sie, und
unter dem Eindruck der Persönlichkeit ihres
vom Kriege schwer getroffenen Vaters wurden
sie zu brauchbaren Menschen. W$s hat diese
Frau in ihrer nun 27 Jahre währenden Ehe alles
hinter sich gebracht! Sie spricht nicht davon,
und niemand kann es in seiner ganzen Trag=
weite erfassen als nur sie und ihr kriegsblinder
Mann. Ein Besuch bei ihnen aber ist ein Genuß.
Man spürt, wie beide miteinander verwachsen
sind und wie der eine des anderen Last mit
Geduld trägt und wie sie Freude und Leid mit=
einander teilen, und ich meine, daß die Freude
in ihrem Leben überwiegt.
Solche junge Mädchen, die in ihrem jungen
Leben eine Kehrtwendung vollführten und es
ganz in den Dienst ihres schwergeprüften Man=
nes stellten, gab es nach dem 1. und nach dem
2. Weltkrieg. Und nach beiden verlorenen Krie=
gen konnte es nicht die Rente sein, die die
jungen Menschen zu diesem Tun bewogen hätte.
Die Versorgung der Schwerkriegsbeschädigten
60
war nach beiden Weltkriegen durchaus unge=
nügend.
„Große Frauen unserer Zeit"
Wenn man eine Kriegsblindenfrau von sol=
chen inneren Erfahrungen sprechen hört, wenn
man sie kennenlernt, diese tüchtigen, immer
unermüdlichen Frauen, die das Leben ihres
Mannes ganz zu ihrem eigenen machen, dann
versteht man, daß einer der bedeutendsten
Männer der Gegenwart ausrufen konnte: „Sie
gehören zu den großen Frauen unserer Zeit!"
Niemand spricht von ihnen, und sie treten
nicht in das Licht der Öffentlichkeit. Und wenn
ihr Mann, den sie jahrzehntelang betreut und
gepflegt haben, stirbt, geraten sie meist in
Armut und Elend, denn die Witwenrente liegt
weit unter dem Existenzminimum.
Aber wir gedachten unserer Frauen nicht, um
hier zu klagen, sondern um ihnen zu danken.
Sie haben es verdient, daß man von ihnen weiß
und daß man über sie nachdenkt.
Die Frau eines Kriegsblinden erlebt oft einen
Schmerz, den wohl niemand unter unseren
sehenden Lesern bisher bedacht haben dürfte.
Eine dieser Frauen schildert — als ob sie ein
Gespräch mit einer Schicksalsgefährtin führe —
eine solche schmerzliche Spannung:
Daran denkt keiner . . .
Ihr seid unterwegs, du und dein Mann. Ihr
findet einen Sitzplatz in der vollbesetzten
Bahn. Die Mitfahrenden sind trotz des Ge»
dränges freundlich, hilfsbereit. Da fängst du
die Blicke einiger Umstehender auf: Sie sind
auf deinen Mann gerichtet. Daß^ seine Augen
oder auch seine Stirn oder irgendein anderer
Teil seines Antlitzes nicht unversehrt geblieben
sind, war dir lange Zeit hindurch ein Schmerz;
denn du bist eitel auch auf deinen Mann. Du
warst von jeher stolz auf ihn, auch auf sein
Äußeres, sein gutes Aussehen, seine gute Hai»
tung, seinen sicheren, freien Gang. Nun hast du
für dich diesen Schmerz bezwungen, daß es
nicht mehr so ist wie früher. Wenn nur die
Menschen nicht wären, die plumpen, neu»
gierigen, taktlosen Menschen! Jedesmal bei
solchen Begegnungen ist derselbe Schmerz wie»
der hellwach, und du möchtest weit weg sein,
du schämst dich.
Ja, du schämst dich deines Mannes. Und
gleichzeitig schämst du dich deiner selbst. Du
bist hilflos und zornig und sehr einsam in dei»
nem Kummer. Und du fragst dich: Liebst du
deinen Mann denn nicht mehr wie früher? Ist
es nicht schlimm, daß du dich seiner schämst?
Du fühlst dich klein und schlecht und minder»
wertig. Du willst wissen: Ist es denn nicht
ganz gleichgültig, mit welchen Augen andere
euch beide betrachten? Ob sie in unverwandter
Neugier deinen Mann anstarren und auch wohl
den Gefährten neben sich auf ihn aufmerksam
machen? Und wenn es nur das wäre! Aber so
manches Mal werden deine sehr wachen Augen
von einem Blick getroffen, der dir sagt: Wie
tust du mir leid! Wie bist du deines Mannes
wegen zu bedauern! Und nicht nur die Augen
sagen es. Auch wörtlich kannst du es hören.
An Mutters Geburtstag können Vater und
Tochter einmal besonders herzlich zeigen, wie
dankbar sie der Mutter sind. Gut gelaunt
holen sie noch Blumen für den Geburtstags-
tisch. Die Frau eines Kriegsblinden hat ja
durch die Betreuung ihres Mannes sehr viel
mehr zu tun als andere Hausfrauen. Sie emp-
fängt dafür auch sehr viel mehr Dankbar-
keit — allerdings nicht vom Staat . . .
Foto: Bartl
Der gute Schuh für alle
40 Verkaufsstellen im Bundesgebiet
Anschriften der Tack-Verkaufsstellen durch:
CONRAD TACK & CIE. G.m.b.H. Offenbach/Main
6i
D u aber hast ihn wieder haben wollen. Um
jeden Preis. Und so ist es für dich — und für
uns Kriegsblindenfrauen alle — gleichgültig,
was die anderen, die „da draußen", denken und
sagen. Es fällt uns nicht allen gleichmäßig
leicht, das zu wissen, uns das in jedem Augen=
blick deutlich zu machen. Es gibt so manche
unter uns, die erst langsam wieder eine feste
Basis gewinnen mußte oder muß, von der aus
sie der Mitwelt unbeirrt gegenübertreten kann.
Eines Tages wird es ihnen aufgehen: Ihre
Eitelkeit sollte jetzt eine andere Richtung be=>
kommen. Nicht auf äußere Eigenschaften und
Vorzüge ihres Ehegefährten sollten sie stolz
sein, sondern vielmehr auf sein in hartem
Kampf neu errungenes Lebensgefühl, auf sein
Sich»selbst=Behaupten, auf sein Ja=Sagen zum
Leben, auf seine innere Haltung und Sicher»
heit. Und doppelt stolz, wenn sie' wissen dür»
fen, daß sie ein wenig dazu geholfen haben.
Bei Erreichen einer Bordsteinkante bleibt
der Führhund stehen und warnt auf diese
Weise seinen Herrn. Nach einem kurzen
Tasten mit dem Stock gibt der Kriegsblinde
ein Kommando, und weiter geht’s.
Weberei Frittlingen
ALBER & CO., G.m.b.H.
Frittlingen bei Rottweil
Werk Frilllingen, Telefon Dosheim 182
Vorbangstoffe, MSbelbezugstoffe, Tischdecken
Werk Spaichingen, Telefon Spaichingen 395/396
Segeltuche, technische Gewebe, Regenmantel-
popeline, Färberei und Ausrüstung
Planen, Decken, Zelte
Regen- und Sportbekleidung
Oh, welche Geduldsprobe!
Seufzer eines Führhundhalters
Zu einer Geduldsprobe eigener Art ist für
mich mein Führhund geworden, und zwar was
das Verhalten der Sehenden anlangt. Anschei»
nend glauben viele, daß ich ihn nicht gut
genug für sein treues Führen belohne. So wird
er gefüttert, gestreichelt, geneckt, und alles
ohne mich, den Besitzer, zu fragen. Alle meine
Bedenken werden beiseitegeschoben mit dem
Bemerken, daß mein Hund ja ein so lieber Kerl
sei, dem man nicht widerstehen könne. Das
wäre ja noch zu ertragen, und auch die täg=
liehen Gespräche über Hunde, die ich morgens
und nachmittags zu führen gezwungen bin,
wenn ich im Abteil sitze. Aber — wenn nur das
Schnalzen nicht wäre! Vor uns wird geschnalzt,
hinter uns wird geschnalzt. Vorübergehende
schnalzen, und bevor ich im Lokal oder Abteil
bin, schnalzt schon jemand — , und jedesmal
gibt es mir einen Stich. Ich weiß nicht, soll es
Anfeuern sein, damit der Hund besser führt,
oder was sonst? Ich glaube, es ist Gedanken»
losigkeit. Und ich ertappe mich manchmal bei
dem recht verständlichen Gedanken, daß
mein nächster Hund ein ausgesprochen häß=
liches Tier sein soll, das jeden anknurrt, der
sich zu nähern wagt. Alfred Spitzer
\\ ir Kriegsblinden können unser Leben nur meistern,
wenn uns helfende Hände entgegengebracht werden!
Im Beruf, auf der Straße,
bei allen Begegnungen brauchen wir Ihr Verständnis,
diso nicht Ihr Mitleid, sondern Ihre Hand!
40219/40223/45275/45308/45310/45323/51312
62
Beim Stöbern unter alten Büchern einer ehr=
würdigen Bibliothek fiel mir ein merkwürdiges,
im Jahre 1840 erschienenes Buch in die Hände,
eine Reisebeschreibung in englischer Sprache.
Der Titel lautete übersetzt „Reisen in Madeira,
Sierra Leone, Teneriffa, St. Jago, Fernando Po
etc. etc." Der Inhalt interessierte mich nicht
besonders — Erdkunde war immer meine
schwache Seite — , und auch den Autor kannte
ich nicht. Oder haben Sie schon einmal etwas
von James Holman gehört? Ich wollte das Buch
bereits weglegen, als mein Blick auf eine merk=
würdige Stelle in der Einleitung des 1. Kapitels
fiel.
Aber vernehmen wir zunächst einmal eine
kleine Probe, die von der Kunst plastischen
Beschreibens zeugt, wie sie diesen James Hol=
man in seiner Zeit hochberühmt gemacht hat.
Ein fast willkürlich herausgegriffener Abschnitt
aus dem Kapitel 8. Da lesen wir:
Die Reibung der Bärte
„Um 9 Uhr, wie sie versprochen hatten,
kamen der König von Baracoüta, sein Bruder
und fünf oder sechs andere Häuptlinge an Bord
unseres Schiffes. Eine Beschreibung ihrer phan=
tastischen Kleidung dürfte interessant sein.
Zuerst einmal waren ihre Körper von oben bis
unten mit einer bestimmten Art von Farbe oder
Schminke eingeschmiert: die Farbe Seiner Maje=
stät war gelb, wie die der chinesischen Herr=
Scherfamilie, die seiner Begleiter dunkelrot. Das
Haupthaar war in langen, dünnen Locken
frisiert, die am Rücken herunterhingen und
statt mit Pomade und Puder mit .Ocker und öl
steifgemacht. Über der Stirn waren die Haare
ebenfalls in gleichmäßige Locken aufgeteilt und
hingen über beide Ohren herab, was mich fast
an den Stil von van Dykes Frauenporträts
erinnerte. Die Anordnung der Locken ließ die
Stirn hoch genug erscheinen, daß man auf eine
gute Portion Intellekt schließen konnte. Dieser
Eindruck wurde künstlich verstärkt durch die
Sitte, das Haar bis ein Inch über dem natür=
liehen Ansatz abzurasieren. Bei manchen waren
an Stelle von Locken 7 bis 8 Perlenschnüre sorg=
fähig auf dem Vorderteil des Kopfes befestigt.
63
Sie waren einzeln hinter den Ohren herum»
geführt, und ihre Enden hingen bis auf die
Schultern.
Dieser einzigartige ornamentale Kopfschmuck
^vurde überragt von einem flachen Hut mit
schmaler Krempe, der wiederum umrahmt war
von einem merkwürdigen Flechtwerk aus Blät=
tern, Tierknochen und weißen und roten Federn,
von denen die letzteren aussahen, als habe man
sie in das Blut eines sterbenden Tieres getaucht.
Nacken und Arme, Oberkörper und Beine von
den Knien an waren umschlungen mit Bändern
und Perlenschnüren mit den eingeflochtenen
Wirbeln kleiner Schlangen. Überdies trugen sie
lange Bärte. Diese rieben sie — ob aus Gründen
der Etikette oder als Dankbarkeitsbezeigung,
war nicht zu erkennen — an den Bärten der=
jenigen unter uns, die auch einen trugen.
Wir zeigten ihnen unser Schiff, unser Vieh,
ließen die Bordkapelle spielen, und nachdem sie
alles mit Staunen und kindlicher Freude unter»
sucht hatten, verließen sie das Schiff zufrieden
und in bester Stimmung."
1810 als Seeoffizier erblindet
Ist es denkbar, daß eine so ungemein farbige,
ganz auf das Auge bezogene Beschreibung von
einem völlig , Erblindeten stammt? Und es ist
in der Tat so; James Holman, geboren am
15. 10. 1786 in Exeter, trat als junger Kadett
im Jahre 1798 in die britische Marine ein. Im
Englisch=Französischen Krieg wurde er 1810 ver»
wundet und verlor sein Augenlicht völlig. Aber
der junge Seeoffizier verlor nichts von seinem
Lebensmut. Schon einige Jahre nach seiner Er»
blindung unternahm er weite Reisen durch
Europa (z. B. in den Jahren 181g bis 1821 Frank»
reich, Italien, die Schweiz und Holland), worüber
er in seinem ersten, 1822 erschienenen Buch
berichtete. Schon als Sehender hatte er große
Seereisen, vor allem in amerikanischen Gewäs»
sern, gefnacht, und ihm kam zugute, was noch
heute jedem Kriegsblinden zugute kommt: die
Herkunft aus der Welt des Sehens, die. Erinne»
rung an das Geschaute und damit ein gutes
Vorstellungsvermögen. Er lebte, wie es auch
heute jeder Kriegsblinde versucht, weiterhin
in der Welt der Sehenden.
Spionageverdacht der Russen
Sein erster Versuch, die ganze Welt zu um»
reisen, scheiterte schon damals in einem Land,
das heute noch immer nicht für Reisende beson»
ders zu empfehlen ist, nämlich in Rußland.
Etwa 1000 Meilen hinter Smolensk verhaftete
man den Blinden und bezichtigte ihn der
Spionage für England. Er wurde gewaltsam an
die Westgrenze zurückgebracht und kehrte
durch Österreich, Sachsen, Preußen und Han»
nover nach England zurück. Diese mißglückte
Reise beschrieb der Unermüdliche in einem zu
seiner Zeit aufsehenerregenden Buch „Reise
durch Rußland" 1825.
Bald darauf gelang ihm aber der große Plan,
wenn er auch fünf Jahre dazu brauchte: er
reiste um die Welt. Er umschiffte Afrika, durch»
wanderte große Teile von Indien, drang so weit
in China vor, als man es ihm gestattete, be=
suchte im Sommer 1831 Australien, dann das
amerikanische Festland und kehrte 1832 nach
England zurück. In nicht weniger als sechs Bän»
den beschrieb er seine Erlebnisse. Zehn Jahre
später war er auf dem Balkan, zuvor — aus der
Beschreibung davon drucken wir hier Abschnitte
ab — auf Madeira und Teneriffa, kurz, Holman
war ein Reisender aus Leidenschaft und dazu
ein geschickter und fleißiger Schriftsteller.
Als James Holman am 27. 7. 1857 in London
starb, konnte er vielleicht nicht von sich sagen,
daß er viel in der Welt gesehen hätte, aber
er hatte die Welt erlebt und. einen erstaunlichen
Beweis seines Lebensmutes erbracht.
„Es hat doch für Sie keinen Zweckt“
Was mir beim Blättern in dem vergilbten
Buch von der Madeirareise Holmans auffiel und
was mich veranlaßte, mich mit diesem be=
wundernswerten Kriegsblinden zu beschäftigen,
waren einige Abschnitte aus der Einleitung des
1. Kapitels; hier lernen wir Holmans persön»
liehe Einstellung zu seinem Schicksal kennen,
und es ist merkwürdig: ein Kriegsblinder, der
in unserer Gegenwart diese Worte Holmans
hört, wird sie gern unterschreiben. Holman
schreibt dort:
„Ich glaube, die Leidenschaft für das Reisen
ist manchen Naturen angeboren. Jedenfalls
kenne ich selbst den Wunsch, ferne Länder zu
erforschen, von frühester Jugend an. Es lockte
mich, den Einflüssen des Klimas, der Gebräuche
und Gesetze auf die Spur zu kommen, die all
64
James Holman (1786 — 1857) trat 1798 in die
britische Marine ein und verlor als junger
24jähriger Offizier im Kriege sein Augenlicht.
Trotz seiner Erblindung machte er viele große
Reisen, darunter auch eine mehrjährige Reise
rund um die Erdkugel. Er schrieb viele Bücher,
die ihn zu einem der beliebtesten Reiseschrift-
steller seiner Zeit machten. Auf unserem Bild
hat er eine der frühesten Schreibtafeln für
Blinde vor sich.
die verschiedenen Lebensformen gestalten hal=
fen, mit unermüdlicher Sorgfalt die Unter=
schiede zu untersuchen, die die Nationen der
Erde voneinander trennen Ich glaube daran,
da(3 eine weise und gütige Vorsehung meine
Fähigkeiten und Kräfte in diese Richtung lenkte,
als zu einer Quelle des Trostes in dem schweren
Los, von den Freuden und Schönheiten der
sichtbaren Welt abgeschlossen zu sein. Die
dauernde Beschäftigung des Geistes, die An=
regung seelischer und körperlicher Betätigung
tragen zur Verminderung, ja zur Überwindung
des Gefühles bei, etwas zu entbehren und ver=
loren zu haben. Dieses Gefühl hätte mich ohne
Zweifel niedergedrückt, während die BefriedU
gung meiner Reiseleidenschaft kaum Zeit zum
Verzagen läßt, sondern im Gegenteil lauter
Freude bringt.
Als ich in die Marine eintrat, fühlte ich den
unwiderstehlichen Drang, so viel von der Erde
zu sehen, als ich irgend konnte. Ich wollte nicht
ruhen, bis mir die Umsegelung der ganzen
Welt gelungen wäre. Aber im Alter von 24 Jah=
ren, mitten in den starken, frischen und frohen
Enthusiasmus meiner Jugend hinein, traf mich
das Unglück. Ich kann nicht beschreiben, wie
mir zumute war, als man mir sagte; daß ich
wahrscheinlich das Augenlicht verlieren würde.
Die Zeit der Ungewißheit war am schwersten,
und ich bat meine Ärzte, mir auch das Schlimmste
nicht zu verschweigen. Ihre Antwort erleichterte
mich, anstatt meine Bedrücktheit zu vergrößern.
Ich konnte mich nun keinen falschen FIoffnun=
gen mehr hingeben.
Immerhin war meine Gesundheit damals so
angreifbar, mein Sinn so bedrückt und ängstlich,
daß ich gar nicht auf den Gedanken gekommen
wäre, jemals mein Land allein verlassen zu
können. Aber mit der Rückkehr von Kraft und
Gesundheit, mit der Notwendigkeit, sich auf
einen Punkt zu konzentrieren, überkam mich
meine alte Leidenschaft. Allein und blind wagte
ich *mich auf meinen gefährlicheri und un=
gewöhnlichen Weg, und ich kann nicht zurück^
blicken auf all die Szenen, die mich umgaben,
all die merkwürdigen Entdeckungen und Um=
stände, die mir vertraut wurden, ohne ein leb=
haftes Gefühl der Dankbarkeit für die gütige
Fügung des Allmächtigen, der mich das größte
menschliche Unglück überwinden ließ durch
Erfüllung meines größten Wunsches.
Wenn Sie mich fragen, welche Vergnügen
denn der angeblich stärkende Geist des Reisens
einem Mann in meiner Lage bringen könne,
dann möchte ich Sie fragen: Wer könnte sein
Leben ertragen ohne einen Sinn, ohne das
Streben nach einem Ziel, dessen Erreichung all
seine seelischen Kräfte zu gesunder Aktivität
aufruft? Ich wüßte nicht, was aus mir hätte
werden sollen, wenn mein Verlangen, dieses
Ziel zu erreichen, enttäuscht worden wäre.
Man fragt mich immer wieder, und ich möchte
es hier ein für allemal beantworten, was es
denn für einen Zweck hätte zu reisen, wenn
5
65
Ein Postsparbuch
54000 Zahlstellen in Stadl und Land stehen
tut Einzahlungen und Abhebungen zur Ver-
fügung. Bei 61 Postämtern in Bahnhofsnähe ist
die Postsparkasse Tag und Nacht geöffnet.
ntillionen Frauen
vertrauen in den kritischen Tagen auf die
naturgemäße CAMELIA-Hygiene. CAMELIA
dient Ihrer Gesundheit, erspart' das lästige
Waschen und ist dabei noch so preiswert.
allen Frauen
Sicherheit und Selbstvertrauen
66
man nichts sieht. Meinen Sie wirklich, jeder
Reisende hätte gesehen, was er beschreibt?
Sogar Humboldt selbst griff auf die Beobachtun»
gen anderer zurück. Es stimmt, daß mir alles
Bildhafte in Natur und Kunst verschlossen ist.
Aber vielleicht stärkt dieser Umstand den Sinn
für das Besondere. Man unterscheidet und
untersucht genauer und feiner, als ein gewöhn»
lieber Reisender für nötig hält, dem der ober»
flächliche Blick genügt und der sich mit dem
ersten geschauten Eindruck zufrieden gibt. Ich
bin gezwungen, alles einzeln zu erforschen und
zu erfragen, und komme durch geduldiges
Untersuchen, durch Anregungen und Beleh-
rungen zu gründlicherer Kenntnis als manche
anderen Reisenden. Meine Blindheit bewahrt
mich vor übereilten und ungerechten Schlüssen.
Obwohl ich mir mein Augenlicht natürlich
zurückwünsche, glaube ich doch nicht weniger
interessante Punkte auf meinen Reisen aufzu-
suchen als die Mehrzahl meiner Zeitgenossen.
Glauben Sie mir, das ist das Geheimnis meiner
Freude am Reisen. Es gibt mir den dauernden
Trost geistiger Betätigung und reizt mich zu
physischer Anstrengung."
Der heitere Handel der Sierra Leone
Zum Abschluß sei noch ein besonders hüb-
scher Abschnitt wiedergegeben, mit dem Hol-
man seltsame Handelssitten erzählt:
Der Handel der Sierra Leone mit dem Hinter-
land erstreckt sich hauptsächlich auf die Foulahs
und dieMandingos. Sie bringen Gold in kleinen
Selbst beim Sackhüpfen müssen die Frauen ein wenig den Steuermann spielen, damit es
keine Karambolagen gibt. Bei den Kameradschaftsfesten der Kriegsblinden geht es immer
sehr lustig her. Hier geben sich auch jene, denen ihr Schicksal schwer zu schaffen macht,
fj^i und unbefangen, weil sie hier, im Kreis der Kameraden, weder angestaunt noch bemit-
leidet werden. ^ ^ *
Foto: Neven-du Mont
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Mengen und tauschen es gern gegen europäische
Artikel. Ihre Art zu reisen ist nicht wenig sclt=
sam. Zuerst wählen sie unter sich einen Führer,
der für die ganze Expedition verantwortlich
ist. Dann machen sie sich auf den Weg, min=
destens sechs, manchmal aber bis dreißig oder
mehr an der Zahl. Jeder trägt auf dem Kopf
eine Art Korb mit seinem Hemd, einem
Flaschenkürbis und einer Schaffelltasche, die
den Koran, etwas Reis, Brot, Messer, Schere
und ähnliche nützliche Dinge enthält. Zwischen
all diese Dinge stecken sie ihr Beutelchen mit
Gold. Sie verschließen die Tasche, indem sie
die Schmalseiten des korbähnlichen Gebildes
aufeinanderlegen und das Ganze mit einem
starken Strick zusammenbinden, den sie aus
Gras machen. Auf den Korb legen sie lose
Bogen und Köcher für den Fall, daß sie unter»
Wegs von wilden Tieren im Walde oder von
einem der Stämme angegriffen werden, durch
deren Gebiet sie ihr Weg führt. Außerdem
tragen sie eine Art Speer aus einem langen
Bambusstab mit Eisenspitze und eine Art
Messer oder Schwert, das sie mit Hilfe eines
Riemens um den Arm schlingen. Unterwegs
leben sie hauptsächlich von den wilden Früchten
des Landes, gelegentlich erhalten sie auch etwas
in den Dörfern, durch die sie kommen. Sie
Eine Liebkosung, die man gut verstehen kann! Das Fohlen spürt genau, daß es einen treuen
und sachverständigen Herrn hat: Und der kriegsblinde Bauer beschäftigt sich besonders
gern mit dem Vieh, weil seine Hand warmes Leben fühlt. So wird für ihn sogar das Pferde-
putzen zur Freude. Foto: Dau
laufen nur zwischen 6 und lo Uhr morgens und
zwischen 2 und 6 Uhr am Nachmittag.
Wenn sie endlich in Freetown angelangt sind,
drücken sie sich erst einmal zwei Tage in der
Stadt umher, um die Goldpreise herauszu»
bekommen. Dabei sind ihnen ihre Landsleute
behilflich, die schon länger in der Stadt leben
und etwas Englisch können. Diese Leute be>
streiten ihren Lebensunterhalt davon, daß sie
alle anderen betrügen, die armen Wanderer
ebenso wie die reichen Kaufleute.
Der Handel selbst dauert drei bis vier Tage.
Danach denken sie aber nicht etwa daran, die
Kolonie schon wieder zu verlassen. Sie treiben
sich in den Straßen umher, schauen hier herein,
befühlen da die ausgelegten Waren, und zwei
oder drei Tage, bevor sie endlich abziehen, ver=
kündet die ganze Gesellschaft allenthalben, daß
sie sich nun auf den Rückweg mache. Das ist
ein Wink mit dem Zaunpfahl und soll heißen,
daß man nun Geschenke für sie bereitlegen
möge. Wenn man ihnen nichts gibt, halten sie
einem folgende Rede:
„Mein Freund", sagt einer, fügt den Namen
des Kaufmanns hinzu, breitet mit großer Geste
Ahl MEINE FRAU
Du kamst zu mir, als Dunkel um mich war
und ich in Kälte einsam irre ging.
Jetzt ist mein Leben reich und warm und klar,
und alle Not ward mir durch dich gering.
Du trägst mit mir und für mich manche Last,
und manch ein Schmerz um mich und durch
mich schlug dich wund.
Karg leuchtet dir der Freude Glast,
dir, die ein Herz voll Hoffen zu mir trug.
BODO SCHÜTZ
die Arme aus und streckt die Hände von sich,
„seht Ihr meine Hände? Seht Ihr, daß sie leer
sind? Ganz leer! Wenn ich in mein Land zurück»
komme, werden mich meine Leute fragen, ob
ich nicht den großen Kaufmann gesehen habe.
Und das wird bedeuten: wo hast du seine
Geschenke? Oh, wenn sie sehen, daß meine
Hände leer sind, werden sie mich einen Lügner
heißen, denn sie werden niemals glauben, daß
der große Kaufmann irgend jemand mit leeren
Händen gehen läßt. Ich bin von meinem Lande
hergewandert, nur um Euch zu sehen, nur zu
Euch bin ich gekommen. Gewiß, ich habe dies»
mal nur wenig gebracht, aber wenn ich zurück»
komme zu meinen Leuten und ihnen sage: ich
*war bei dem großen Kaufmann, seht hier die
Geschenke, die ich von ihm bekommen habe —
o glaubt mir, dann werden alle kommen
und Euch Ware bringen, soviel Ihr nur wollt."
Das endet natürlich regelmäßig mit einem
Geschenk, und die habgierigen afrikanischen
Händlerseelen sind versöhnt und strahlen.
(Übersetzungen: Helga Jahr)
Die Pferde kennen ihren Herrn. Mit kundi-
ger Hand schirrt er sie trotz seiner Erblindung
an. Foto (2): Engert
Das Füttern der Kühe ist seine Sache. So
macht sich ein kriegsblinder Bauer in Königs,
brunn bei Augsburg auf seinem Hof trotz sei-
nes Alters immer noch nützlich.
69
Kriegsblinde erzählen:
Ein seltsamer Grenzausweis
Es sei hier ein halb komisches, für manchen
Leser vielleicht auch halb gruseliges Abenteuer
erzählt:
Anfang 1946 war ich zur blindentechnischen
Grundausbildung in einem Heim an der thü«
ringisch=bayerischen Zonengrenze. Nach dort
war ein Teil der Silex=Schule -aus Berlin ver»
lagert worden. Da die Schule mit Kriegsblinden
nicht voll ausgelastet war, wurden auch Arm»
amputierte zur Umschulung auf neue Berufe
dorthin entsandt. Dies war gerade für uns
Kriegsblinde insofern recht angenehm, als wir
nun Kameraden hatten, die uns etwas vorlesen
und uns helfen konnten und nicht zuletzt: die
mit uns in den nahegelegenen Wäldern spa»
zierengehen konnten, denn es stand nur eine
einzige Schwester zur Betreuung zur Ver»
fügung, und wir waren zehn Blinde.
Da es zu jener Zeit noch keine Ausweise
gab, stellte unsere Schule vorläufige Personal»
ausweise aus, die auch von den Behörden —
und selbst von der dortigen russischen Orts»
kommandantur — anerkannt wurden. Dies war
sehr wichtig, denn einige hundert Meter hinter
unserem Heim verlief im Wald die Zonen»
grenze.
Nun geschah es eines Tages wieder, daß sich
ein Armamputierter einen Kriegsblinden unter
den verbliebenen Arm klemmte und sie in den
Wald spazierengingen. Sie genossen so recht
den herrlichen Vorfrühling. Die Freude wurde
aber nach kurzer Zeit jäh unterbrochen durch ein:
„Stoi!" Hinter einem Busch trat ein russischer
Posten hervor und verlangte „Dokumenti",
also die Personalausweise.
Der Armamputierte griff in die Tasche, holte
den Ausweis der Schule hervor, und die Sache
war „karosch". Aber — o Schreck! Der Blinde
hatte seinen Ausweis zu Hause gelassen. Es
entspann sich das übliche Kauderwelsch mit
Zeichensprache, wie es üblich ist, wenn keiner
des anderen Sprache beherrscht. Alles nützte
nichts. Der Posten verlangte, daß der Blinde
mit zur Kommandantur sollte, während der
Armamputierte gehen konnte.
Da kam dem Kriegsblinden im letzten
Augenblick eine rettende Idee. Er griff hoch,
nahm seine beiden Glasaugen heraus und hielt
sie dem Soldaten auf der flachen Hand entgegen.
Da hörte er auf einmal nur noch ein schallen»
des Gelächter und brechende Zweige. Der Soldat
war so erschrocken, daß er mit schlotternden
Knien das Weite suchte, als sei der leibhaftige
Teufel hinter ihm her. Diese Augensprache
hatte er verstanden, hier war kein weiterer
Ausweis mehr nötig. J. Hirthammer
Keiner traute sich . . .
Eine kleine Erinnerung
Im Mai 1944 wurde ich verwundet und verlor
dabei mein Augenlicht. Vom Lazarett aus
wurde ich auf unbestimmte Zeit in meine Hei»
mat beurlaubt. Unser Dorf hatte mehrere hun»
dert Einwohner, jeden kannte ich. Meine Eltern
waren sehr erschüttert über mein Los, aber
schlimmer erging mir das mit meinen Bekann»
ten und allen Ortseinwohnern. Eines Tages
machte ich mich auf, um einen Spaziergang
durch unseren Ort zu machen, in dem ich jeden
Weg und Steg kannte. Aber es war alles wie
ausgestorben. Wohl hörte ich von weitem
flüstern, aber wie ich näher kam, wurde alles
still, und man ließ mich ruhig vorbeiziehen.
Obwohl mich jeder kannte, getraute sich kei»
ner, mich anzüsprechen. Mir wurde es langsam
unheimlich zumute, es kam sogar so weit, daß
man mich gegen eine offene Tür laufen ließ,
obwohl Menschen in der Nähe waren.
Seit 1866
Wollstoffe für Damen- und Kinderkleidung
einfarbig und bunt gewebt
H. F. SCHÄFER, (16) Schlüchtern
Spinnerei • Weberei -Färberei - Ausrüstung
Verkauf durch Vertreter nur an Firmen des Einzelhandels
70
Dieses übergroße Mitleid ging mir auf die
Nerven, bis es mir gelang, den Kontakt selbst
herzustellen. Die Gelegenheit bot sich beim
Kaufmann. Ich trat ein mit einem lauten
„Guten Morgen", und zögernd wurde mir ge=
dankt. Da fragte ich: „Sagt mal, trauert ihr
schon um mich, so wie ihr seht, lebe ich ja
noch." Und dann, nach einem guten Witz,
kamen wir sehr gut ins Gespräch. Von dieser
Zeit an wurde das Verhältnis zu den Sehenden
von Tag zu Tag besser. Ich wurde nun auch
des öfteren eingeladen, und alle Menschen
kommen mir freundlich und ohne Scheu ent=
gegen. Es machte mir nun auch wieder Freude,
in unserem Ort zu leben, und ich trug mein
Schicksal leichter, Artur Birr
Einer von Tausenden erzählt
Der Weg ins Dunkle und der Weg zurück ins Leben
1942. Der Rückzug aus dem Kaukasus war
beendet und der Kuban=Brückenkopf gebildet.
Wir sollten uns in einem herrlich gelegenen
Weinort von den schweren Rückzugskämpfen
erholen. Wir taten das um so lieber, als wir
hörten, daß sich in diesem Ort eine große
Sektkellerei mit riesigen Vorräten befinde.
Aber — kaum hatten wir uns häuslich ^n»
gerichtet, kaum einmal den russischen Sekt
probiert, uns kaum zur Ruhe begeben, als wir
auch schon wieder mitten in der Nacht alar»
miert wurden. Wir hatten uns zu früh gefreut!
Irgendwo im Rücken unserer Kaukasusfront
sei es dem Gegner bei Nacht und Nebel gelun»
gen, einen Landekopf zu bilden, so hörten wir.
Nach einem Tagesmarsch waren wir da, und
in der folgenden Nacht lösten wir eine aus»
geblutete Panzereinheit ab.
Es war eine herrliche, sternklare Vollmond»
nacht. Es war so hell, daß man mühelos lesen
konnte, und es war ein herrlicher Fleck, diese
Bucht von Noworossijsk, aber auch ein sehr
gefährlicher. Zwar war das Meer, dicht halb»
links von uns, seltsam glatt und friedlich.
Dunkel und geheimnisvoll lag das Wasser im
Mondlicht, dazu links von uns die schroffen,
kahlen Gebirgsrücken des Kaukasus. Ich nahm
das großartige Bild dieser nächtlichen Land»
Schaft tief in mich auf, als ob ich ahnte, daß
es der letzte Blick auf die Schönheit dieser
Welt sein sollte.
Jede Deckung, den kleinsten Schatten aus»
nützend, jedes Geräusch vermeidend, krochen
Wir in das Schützenloch, das Fritz Menzer und
mir zugewiesen wurde. Direkt vor uns im
nächsten Haus, kaum 40 Meter entfernt, saß
der Gegner. Ab und zu ein Feuerstoß von
drüben . . . unwillkürliches Ducken . , . das
Zischen der Leuchtspurgeschosse über uns hin»
weg. Ab und zu ein Granatwerfereinschlag in
der Nähe. Leuchtspurgranaten gurgelten und
rauschten nach drüben und schlugen mit lautem
Krach ein. Die Splitter surrten bis zu uns her»
über. Dann wieder die Antwort der Russen.
Kurz — das Übliche. Die erste Nacht in einer
neuen Stellung. Und über all dem Grausigen
wölbte sich der majestätische Sternenhimmel.
Noch heute ist mir dieser Anblick unvergeß»
lieh: die flimmernden, glitzernden Sterne mit
dem stillen, freundlich lächelnden Mond.
Opfer der eigenen Artillerie
Stündlich lösten wir beide uns am MG. ab.
Schon fingen die Sterne an blasser zu werden.
Der Tag war nicht mehr weit. Wieder hörte
ich hinter mir Abschüsse de eigenen Artillerie.
Die Granaten schlugen drüben ein, doch einige
krepierten rechts von mir dicht bei einem SMG.
der 4. Kompanie. Ich dachte wütend: Die
Eigenen, diese Esel, die schießen ja zu kurz!
Ich setzte sofort meinen Stahlhelm auf und
duckte mich tief in unser Felsenloch. Da hörte
ich schon die nächsten Abschüsse hinter mir.
Ich hatte es gleich im Gefühl: „Die nächste
kommt hierher", und im nächsten Augenblick
schon spürte ich einen Schlag am Kopf. Die
Luft blieb mir weg. Dabei war es plötzlich um
mich her stockfinster. Mein erster Gedanke
war: Mich hat’s erwischt, jetzt ist es aus! Ich
riß meine Augen auf, versuchte zu meinem
Kameraden hinüberzublicken, aber vergeblich!
Ich führ mit der Hand ins Gesicht, wollte die
Augen auswischen, da spürte ich Schmutz,
klebrige Flüssigkeit . . .
„Fritz! Fritz!" rief ich, und nochmals „Fritz!"
Was war das? Ich hörte meine eigene Stimme
nicht. Hatte ich meine Stimme verloren, oder
hörte ich nichts mehr? Endlich konnte ich wie»
PjSrfeIt><M*fer
^wenfenf
Düsseldorfer Senf Industrie
Düsrt'ldorf • Otto Frenze! • l'rl. I 2.'i.53;'56 ■'
71
Kegelklub der Kriegsblinden
Noch etwas erschöpft und mitgenommen
vom heißen Kampf zeigt uns der Kriegsblinde
Hans Lindner das Tischbanner des Kegel-
klubs „Kameradschaft“. Er gründete diesen
Klub, dem nur Düsseldorfer Kriegsblinde an-
gehören, vor 25 Jahren. „Wir Kriegsblinden
lassen uns die Freude am Dasein nicht neh-
men“. sagt er, „trotz allem!“
der freier atmen, und da hörte ich auch meinen
Kameraden: „Menschenskind, wie siehst du
aus! Du hast ja nur noch den Korb von deinem
Stahlhelm auf dem Kopf! Und dein Gesicht!"
Ja, mein Gesicht brannte auch wie höllisch
Feuer, und ich fühlte das warme Blut über Ge=
sicht und Hals herunterlaufen . . .
Wiederum riß ich die Augen auf und ver=
suchte, mich umzublicken, an mir herunter*
Zusehen, aber tiefe Dunkelheit um mich. Kein
Mond, kein Sternenhimmel, älles um mich in
tiefster Nacht! Da packte mich eine unsinnige
Angst, und ich beschwor meinen Kameraden:
„Fritz, Fritz, schnell! Bring mich schnell nach
hinten zum Arzt! Gleich wird es hell, und dann
können wir nicht mehr weg von hier!"
Schlimme Minuten
„Ich kann das MG. nicht verlassen, ich darf
es nicht!" hielt mir Fritz entgegen. Doch dann
stellte er fest: „Das MG. ist kaputt samt der
Munition, auch die Handgranaten sind los*
gegangen!" Also konnte er, nachdem er den
Nachbarposten verständigt hatte, mich am Arm
packen und mich ein kleines Stück zurück füh=
ren. Aber er fand, behindert durch mich, den
Kompanie=Gefechtsstand nicht. Er mußte mich
stehenlassen und allein weitersuchen. Er hole
mich ab, versprach er. So stand ich nun ganz
allein da, irgendwo, ohne jede Deckung, ohne
zu wissen, wo vorn und wo hinten ist, und
wartete und wartete auf die Rückkehr meines
Kameraden. Dabei fühlte ich das Blut ununter*
brochen herabtropfen. Auch an meinem rechten
Arm, das spürte ich nun, war ich verwundet.
Wieder packte mich die Angst. Wird Fritz
mich wiederfinden? Ist ihm etwas zugestoßen?
Wenn der Tag anbricht, stehe ich vielleicht als
Zielscheibe da? Ich versuchte, allein zu gehen,
und stolperte ein paar Schritte vorwärts. Aber
wohin? Vielleicht geradewegs zum Feind? Ich
kniete mich hin und wartete weiter, horchte in
die Finsternis hinein.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, kam
Fritz und holte mich. Bald darauf brachte mich
ein Melder zum Hauptverbandsplatz, zum
Arzt. Mit einer fürchterlich brennenden Flüs*
sigkeit wurde mir das Gesicht abgewaschen.
Beruhigend klang die Antwort auf meine
Frage, was mit meinen Augen los sei: „Deine
Nase ist noch dran, und das Sehen kommt auch
wieder." Ich wurde weiterbefördert bis zur
nächsten Bahnstation, von dort mit dem Laza=
rettzug in eine Krankensammelstelle. Flug=
zeuge sollten uns abholen. Schon wurden wir
in Papiersäcke verpackt und auf den Flugplatz
gefahren, aber die Ju.s konnten des hohen
Drecks wegen nicht landen. Also mit der Bahn
weiter, wieder ausgeladen, wieder warten auf
Flugzeuge. Tage vergingen, und ich war immer
noch nicht in augenärztlicher Behandlung. Als
endlich ein Augenarzt herbeigeholt war, machte
der zunächst einen mächtigen Krach, weil man
mich solange hatte liegenlassen. Er leuchtete
mir mit einer Lampe in die Augen, und wie
freute ich mich: als er ins linke Auge leuchtete,
sah ich plötzlich Licht. Wieder kam ich in ein
anderes Lazarett, aber noch war eine Behänd*
lung der Augen nicht möglich, da sie dick ver*
schwollen waren. Aber immerhin kam ich zum
ersten Male in ein richtiges Bett. Dann noch ein*
mal vergeblich auf den Flugplatz, bis es end*
lieh gelang. Ich wurde nach der Krim geflogen.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage es dauerte,
bis ich endlich von einem Lazarettzug in ein
richtiges Lazarett gebracht wurde, tief in Ruß*
land noch, aber zu einem guten Facharzt.
„Ich brauche doch keine Blindenuhr!"
Am rechten Auge war nichts zu heilen, denn
hier war der Sehnerv durchschossen, aber nach*
dem mir aus dem linken Augapfel einige Split*
ter herausgeschnitten worden waren, konnte
ich sogar durch den Verband hindurch eine
Helligkeit wahrnehmen, wenn das elektrische
Licht im Zimmer eingeschaltet wurde oder
wenn mich ein Sonnenstrahl traf.
Als ich fieberfrei war, ging es mit einem
Kurierflugzeug in Richtung Berlin weiter. Ich
hatte mir früher immer gewünscht, einmal in
solch einem Vogel zu sitzen und die Welt von
oben betrachten zu können. Jetzt war es so weit,
aber — Ironie des Schicksals! — ich kam ja
dennoch nicht auf meine Kosten. In dem Ber*
7*
liner Lazarett und in denkbar bester Pflege
wuchs meine Hoffnung von Tag zu Tag, bald
wieder sehen zu können, denn tatsächlich nahm
die Helligkeit vor meinem linken Auge zu.
Eines Tages erhielt ich hier den Besuch eines
Herrn Dann, eines Kriegsblinden des ersten
Weltkrieges. Er überreichte mir im Auftrag der
Deutschen Kriegsblindenstiftung eine Blinden=
uhr. Ich war nicht wenig überrascht, und mir
war der Vorgang ganz unverständlich. Ich
sagte: „Ich brauche doch keine Blindenuhr, ich
kann doch bald wieder sehen!" Der Herr be=
ruhigte mich; ich solle die Uhr ruhig nehmen;
wenn ich wieder sehen könne, solle ich sie wie=
der zurückgeben.
Dieser Vorgang machte mich doch stutzig
und nachdenklich. Als ich das nächste Mal zur
Untersuchung in die Dunkelkammer geholt
wurde, bat ich den Arzt, er möchte mir rück=
haltlos die Wahrheit sagen. Nach einigem
Zögern sagte er: „Ihre Augen sind sehr schwer
getroffen. Man hätte es vielleicht mit einer
Operation versuchen können, aber Ihre Augen
sind zu schwer getroffen ..."
Der Sturz in den Abgrund
Für mich fiel die Welt ein! Ich drehte mich
um, ließ mich auf mein Zimmer bringen, legte
mich ins Bett und weinte, weinte wie ein klei=
Manche Kriegsblinde, zumal solche mit
Beinprothesen, werfen die Kugel aus der
Grätschstellung. Das erlaubt auch ein sicheres
Zielen.
Gleich kommt der große Wurf des Abends! Man merkt es diesem Kriegsblinden an, wie er
den Abend im Kegelklub der Kriegsblinden, genießt. Fotos (3); BölU
73
die Spitzenerzeugnisse
aut den NIgrin-Werken Carl Centner
Göppingen
nes Kind. Das war mein Todesurteil! Hätte ich
noch etwas zum Knallen gehabt, in jener
Stunde hätte ich bestimmt Schluß gemacht. Ich
haderte mit Gott, mit der Welt und vor allem
mit mir selber. Warum hatte ich in jener Nacht
nur den Stahlhelm aufgesetzt! Ach, hätte ich
es doch unterlassen! Dann wäre ich heute weg
von dieser Welt! Was konnte das Leben noch
für einen Wert haben? Ein Dasein in Dunkel=>
heit schien mir unerträglich. Es schien mir ganz
einfach undenkbar, dieses Leben, das doch kei»
nes mehr war, weiterzuführen.
Doch merkwürdig, das Leben ging weiter,
auch in der Finsternis. Es war stärker. Als ein
paar Tage später der Arzt mich aufforderte,
täglich eine Stunde aufzustehen, da fragte ich
mich zwar: W'as soll ich denn aufstehen? Es
hat doch keinen Zweck! Ich kann doch keinen
Schritt allein tun! Doch — Befehl ist Befehl, und
so stand ich auf, stand an meinem Bett, tastete
mich um das Bett herum und nochmals um das
Bett herum, dann zum Tisch hin, daran entlang
zum Fenster, zur Türe und dann zu den Betten
der Kameraden.
Mein erster Orientierungsgang ohne fremde
Hilfe! Das war ein überraschendes Erlebnis.
Man konnte also auch gehen, ohne zu sehen?
So tastete ich am nächsten Tag alle Einrich=
tungsgegenstände ab und konnte mir bald ein
Bild von unserem Zimmer machen. Der
Aktionsradius wurde nach und nach größer.
Auch über die Flure suchte ich meinen Weg
selber. „Immer an der Wand lang", so hieß
nun mein Wahlspruch. Mein Selbstbewußtsein
nahm wieder zu und damit auch mein Lebens»
Wille.
Wir „Blindgänger" durchstreifen Berlin
Es ist wohl einst allen Kriegsblinden so er»
gangen wie mir, daß sie nämlich wie ich im
Beisammensein mit Kameraden, die das gleiche
oder ein ähnliches Los trugen, die alte Ruhe
und Heiterkeit wiederfanden. Besonders war
da ein Kamerad namens Eberling, der hatte
nicht nur sein Augenlicht, sondern auch beide
Hände verloren. Er war unter uns einer der
fidelsten und trug sein Geschick mit groß»
artigem Humor. Wie hilflos war er doch, er
mußte sich ständig von fremden Händen hei»
fen lassen! Da verblaßte mein eigenes Schick»
sal.
Meine Wunden heilten allmählich ab. Nur
die Augen begannen zu schrumpfen, ich konnte
die Augenlider einfach nicht mehr heben.
Eines Tages war es so weit, daß ich meinen
ersten Ausgang machen durfte. Andere Karne»
raden, die noch einen Sehrest hatten, nahmen
Bei ihrer Ausbildung wird den kriegsblinden Masseuren nichts geschenkt. Sie haben ein
Jahr hindurch gewaltig zu pauken, um die staatliche Prüfung bestehen zu können.
74
mich in die Mitte, und hinaus ging es wieder
in das Leben. Zuerst allerdings ging es zu
einem Optiker. Eine Brille mußte her! Hinter
der fühlte ich mich vor all den neugierigen
Blicken der lieben Mitmenschen geborgen. So
lernte ich Berlin durch meine schwarze Brille
betrachten. Ich nahm an allem Anteil, sogar
das Kino besuchten wir und das Theater. Be»
sonders gut gefiel es uns Blindgängern in den
Rheinischen Winzerstuben. Wer verstände das
nicht!
Ein Fräulein mit sympathischer Stimme
Eines Tages hatten wir uns bei einer solchen
Streife durch Berlin verlaufen. Ein Kamerad
aus Sachsen, der noch etwas sehen konnte,
sprach eine junge Dame an und fragte, wie
man zum Lazarett gelangen könne. Eine frische,
jugendliche Stimme gab lachend eine Auskunft
und setzte hinzu: „Es wird das beste sein, ich
begleite Sie dorthin. Ich hätte sowieso einen
Spaziergang gemacht." Wir nahmen das Fräu»
lein mit der sympathischen Stimme in die
Mitte, und lustig plaudernd ging es zum Laza»
rett. Als wir dort ankamen, hatte ich mich
schon mit dieser süßen Stimme — sie hieß
Betty — für den nächsten Tag verabredet.
Am folgenden Tag wartete ich mit nagenden
Zweifeln. Wird sie auch kommen? Tatsächlich,
das Mädel hielt Wort. Ich war ganz glücklich,
als ich an diesem Tag, endlich einmal ganz
allein zu zweien, fern der Berliner Steinwüste
in Feld und Wald herumstrolchen konnte. Als
wir zwischen wogenden Kornfeldern hingingen
und ich meine Hand durch Halme und Ähren
gleiten ließ, dachte ich mit Wehmut an mein
heimatliches Dorf im Schwäbischen und an die
elterliche Landwirtschaft. Aber ich war stolz,
daß ich meiner Begleiterin die Getreidearten
erklären konnte, die ich fühlte. Und als Gegen»
leistung erklärte mir Betty, als wir am Wald»
rand saßen, die Schönheiten der märkischen
Landschaft.
Von jetzt an hatte ich eine aufmerksame,
treubesorgte Begleiterin. Sooft es ihr Dienst
zuließ, holte sie mich ab.
Erster Besuch in der Heimat
Mitte Juli wurde ich bis zum Beginn der Um»
Schulung beurlaubt. Ein einäugiger Kamerad
brachte mich nach Hause. Hier versuchte ich,
mich möglichst nützlich zu machen, und ließ
mich auf Acker, Wiese und Weinberg mitneh»
men. Aber es war zu ärgerlich, viele Arbeiten
konnte ich beim besten Willen nicht mehr aus»
führen, am allerwenigsten in den Weinber»
gen. Nur Trauben schneiden konnte ich noch,
wie ich später feststellte. Als ich schließlich von
einem Heuwagen, den ich fast fertig geladen
hatte, hinunterstürzte, war mir endgültig klar«
geworden, daß ich einen anderen Beruf erler»
INALLEN f A C H G E S C H Ä f T E N
nen mußte. Aber was? Auch Betty grübelte
mit. Sie verbrachte während der Erntezeit ihren
Urlaub in meinem Elternhaus, und als sie wie»
der zurück nach Berlin fuhr, betrachteten wir
uns als verlobt.
Am 1. September 1943 kam ich in das Um»
Schulungslazarett, und zwar zum Schloß Soli»
tude bei Stuttgart. Ich alter Esel — schon 31
Jahre alt war ich — mußte nun wieder die
Schulbank drücken. Schreiben und lesen zu 1er»
nen hieß nun die Parole. Eine Stunde Punkt»
Schriftmaschine, eine Stunde Schreibmaschine,
eine Stunde lesen, so ging es mit mancherlei
Fächern Tag für Tag. Der Kopf rauchte.
Ich werde Masseur
Schlimm war es anfangs mit dem Lesen der
Punktschrift. Ich fühlte wohl die kleinen War»
zen auf dem Papier, aber ich konnte sie nicht
unterscheiden, und beim Unterricht mußte ich
oft mit einem kläglichen Gestammel aufwarten.
Da in Rußland meine Fingerspitzen erfroren
waren, konnte ich einfach nicht fühlen. Es kam
vor, daß ich voller Verzweiflung mitten in der
Nacht meine Fibel vornahm, um den Sinn der
geheimnisvollen Punkte zu erforschen. Aber
ich blieb beharrlich und schaffte es auch endlich.
Während dieser Grundausbildung wurde die
Frage der Berufsauswahl immer dringlicher. Im
75
i4u8 Indochina heimgekehrt — als Kriegsblinder! Auf
einem Pariser Bahnhof wird er empfangen. Auch deutsche
Fremdenlegionäre verloren im Dschungel ihr Augenlicht
und kehrten inzwischen nach Deutschland zurück. Und
auch in Korea forderte der Krieg Opfer. „Blindgeschossen“
— soll das nie ein Ende nehmen?
Berliner Lazarett hatte ich einen Kriegsblinden
des ersten Weltkrieges kennengelernt, der dort
als Masseur beschäftigt war. Auch der Beruf
des Telefonisten wäre in Frage gekommen,
aber damals fiel mir das Lesen noch zu schwer.
Richtige Büroberufe haßte ich noch von der
Zeit her, als ich Rechnungsführer auf einem
Rittergut war. Also: Masseur!
Bald besuchte ich eine staatliche Massage=
schule in der Nähe von Straßburg. Als ich
hörte, daß die Ehefrauen kriegsblinder Mas=
sageschüler an der gleichen Schule ausgebildet
werden könnten, entschloß ich mich, kurzer»
hand zu heiraten und meine Frau zur Schule
mitzunehmen. Ich überlegte mir, daß Betty mir
eine Idilfe und Stütze sein würde, selbst dann,
wenn sie später nicht mitarbeiten sollte. Ich
hatte dann doch wenigstens einen verstehenden
Menschen, mit dem ich über Berufsfragen
sprechen konnte. Diese Überlegungen haben
sich später als sehr richtig erwiesen.
Pfingsten 1944 heirateten wir. Eine Woche
zuvor begann der Kursus. Schon rückte die
Westfront näher, und Herr Professor Kohl»
rausch mußte seine Vorlesungen oft im Luft»
schutzkeller halten. Schließlich wurde
die Schule, ein paar Tage vor der
Eroberung Straßburgs, rvach Stutt»
gart verlegt. Hier machte ich meine
staatliche Prüfung und wurde am
31. Dezember 1944 aus der Wehr»
macht entlassen. Ich war wieder
Zivilist.
Der Kampf draußen in der zivilen
Welt begann anfangs verheißungs»
voll. Frühzeitig hatte ich mich um
eine Anstellung an den Lazaretten
in Bad M. beworben, und als ich
sogar eine Wohnung dort erhalten
hatte, begann ich meine Arbeit. All
die vielen Verwundeten wollten be=
handelt sein. Es war eine ungeheure
Anstrengung für mich, aber meine
Arbeit machte mir Freude, besonders
wenn ich bemerkte, daß ich Erfolg
hatte. Der kleinste Erfolg war für
mich eine Genugtuung: du bist trotz
deiner Blindheit noch zu etwas nütze!
Jetzt erst wurde ich der Mensch, der
ich früher war. Meine Arbeit ging mir
über alles. Der Umgang mit den
Patienten gab mir das sichere Gefühl,
mitten im Leben zu stehen.
Und dann — arbeitslos!
Aber im Winter 1946 verlor ich
meine innere Ruhe. Ich war arbeits»
los geworden! Aus dem Lazarett war
zunächst ein Interniertenhospital ge»
worden, an dessen Stelle nun ein Tbc»
Krankenhaus errichtet wurde. Nun
saß ich zu Hause, und mein Leben
war wieder eintönig, grau und trübe.
Ich kam wieder ins Grübeln. Untätig»
keit ist für einen Blinden Gift. Man kommt ins
Sinnieren, in ein einziges, auswegloses Fragen
nach dem Warum. Was ist der Sinn des Lebens?
Meines Lebens? Dieses furchtbare Frage»und»
Antwort=Spiel, mit dem Gedanken immer unter»
Wegs und immer um das „Warum" kreisend,
ist ein aufreibender Zeitvertreib. Es ging noch
an, wenn ich Radio hörte, aber man kann es
nicht von morgens bis abends tun. Ich wurde
unausstehlich und mürrisch.
Ich lese wieder Bücher
Ich sah ein: so konnte es nicht weitergehen!
Ich mußte mir eine Betätigung schaffen. Da
faßte ich den Entschluß, meine Punktschrift»
bücher auszugraben und wieder den Sinn der
verhaßten Punkte zu enträtseln. Als erstes fiel
mir ein Roman in die Hände, „An heiligen
Wassern" von Johann Heer. Das Fühlen machte
mir immer noch große Schwierigkeiten, aber
dann stellte ich mit Befriedigung fest, daß das
Gefühl meiner Fingerspitzen besser geworden
war. Dieser Roman fesselte mich derart, daß
ich mir keine Ruhe ließ, ehe ich die Punktschrift
76
wieder voll beherrschte. Ich wurde nun Abon=
nent der „Marburger Umschau" — einer Zeit»
Schrift in Blindendruck — und wurde ein flei=
ßiger Benutzer der Marburger HochschuU
bücherei für Blinde.
Als Sehender war ich eine richtige Leseratte
gewesen, und nun war ich wieder eingekehrt
in diese schöne Welt des Buches. So wurde ich
wieder der alte Mensch, der seine ganze Um»
gebung vergessen konnte, wenn er ein gutes
Buch vor sich hatte. .Alle Grübelei hatte ein
Ende.
Am 1. Oktober 1947 erhielt ich auch wieder
einen Arbeitsplatz. Ich konnte helfen und mei»
nem Leben wieder Inhalt geben. So stehe ich
heute mitten im Leben und bin ein zufriedener,
selbstbewußter Mensch, dem die Arbeit am
hilfsbedürftigen Mitmenschen über alles geht.
Allerdings, bisweilen kommen schwarze Stun»
den, in denen ich mit meinem Schicksal hadere.
Aber ich kann ohne bitteren Stachel wieder an
jene unvergeßliche, sternklare Vollmondnacht
in der Bucht von Noworossijsk denken. Und in
meinen Träumen sehe ich mit aller Deutlichkeit
das runde, volle Gesicht des Mondes still und
freundlich lächelnd auf mich herabblicken, als
wolle er sagen; „Sei still, es wird schon alles
gut werden . . Karl Stark
(Ein £)er3og ftarb al6 ßne00blm5cr
Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig und die Schlacht bei Auerstedt
Die Mitwelt hat in Karl
Wilhelm Ferdinand neben
Friedrich dem Großen den
herrlichsten Helden, den
weisesten Staatsmann der
Zeit gesehen. Niemand ist
lauter gefeiert worden als
er, auf niemand hat
Deutschland und Europa
größere politische Hoff»
nungen gesetzt als auf ihn.
Der Grund hegt darin,
daß Karl Wilhelm Ferdi»
nand in allem der echte
Sohn seines Jahrhunderts
gewesen ist. So ist es kein
Widerspruch, wenn wir
feststellen: Seine Zeitge»
nossen mußten nie vor
stürmisch genialem Vor»
wärtsdrängen, vor der
Kraftentfaltung leiden»
schädlich politischen Ehr»
geizes zurückschrecken,
durch den ganz große
Männer ihrer Mitwelt un»
heimlich und rätselhaft
werden. So reif, so klug,
so klar auch seine Gedan»
ken waren, über die Ideen
seiner Zeit ragter sie doch
nie hinaus. Abei er hat es
wunderbar verstanden,
kantisches Pflichtbewußt»
sein und Sittenstrenge,
Au.fkiärung und Humani»
tät, enzyklopädische Schön»
geisterei und patriarcha»
lische Staalsfüi'sorge zu
einer Einheit lebendig zu»
sammenzuschließen und
alle abstrakten Gedanken
umzusetzen in praktische,
fruchtbare Wirklichkeit.
Herzog Ferdinana von araunscnweig wird mit zerschossenen Augen
vom Schlachtfeld bei Auerstedt (1806) getragen.
(Nach einem Holzschnitt von J. J. Kirchhoff)
77
Gerade aber weil er ganz in seiner Epoche
wurzelte, ist die Geschichte, die nur nach den
Maßstäben des Fortschrittes, der Weiterentwick=
lung wertet, über ihn hinweggeschritten. Denn
der neuen Zeit ist Karl Wilhelm Ferdinand kein
Wegweiser oder Bahnbrecher geworden. Es war
sein herbes Schicksal, daß sein Tod auch das
Ende seines Jahrhunderts bedeutete, daß mit
Auerstedt das alte Preußen zu Grabe sank und
frische Kräfte auf neuen Grundlagen einen
neuen Staat schufen, in den des Herzogs Wirken
nicht mehr reichen sollte.
Es gibt in der Geschichte eine Persönlichkeit,
deren Charakter an den Welfen erinnert: Wal»
lenstein. Wie jener war Karl Wilhelm Ferdinand
dazu berufen, inmitten stürmischer Zeiten der
legitimen Macht Rückhalt und Tatkraft zu ver«
leihen, einem alten Staatskörper neues Leben
einzuflößen und eine beherrschende Stellung
über den Parteien einzunehmen. Wie dem Fried=
länder kamen auch Karl Wilhelm Ferdinand die
Zeit, die Umstände und die Menschen entgegen.
Wie jener vermochte er es aber nicht, diese
Umstände auszunützen, weil er im entscheiden»
den Augenblick immer wieder vor der Ver«
antwortung eigenmächtiger Handlungen, vor
dem kühnen Entschlüsse zurückbebte. Aus dem
Gefühl der inneren Unsicherheit und Schwäche
brannte in beiden die Angst vor dem Urteil der
Mitwelt und bestimmte ihre Handlungen. Des»
halb scheiterten beide schließlich an der Tragik
ihres Lebens, daß alle leidenschaftliche Hingabe
nicht den glühenden Willen, aller klare Verstand
nicht jenen staatsmännischen Dämon ersetzen
kann, der aus eigener Kraft heraus schaffen,
gestalten und die Welt erneuern muß.
Der Verlauf des für Preußen so Verhängnis»
vollen Krieges gegen Napoleon ist allgemein
bekannt. Der Oberbefehl über das Heer und
damit dqs Geschick des Staates wurde dem
Weifenherzog anvertraut. Karl Wilhelm Ferdi»
nand war damals ein einundsiebzigjähriger
Greis, noch immer körperlich rüstig und von
ungeschwächter Geisteskraft, aber sein Mangel
an Entschlossenheit, das zaghafte Mißtrauen in
die eigene Kraft, das allzu vorsichtige Abwägen
jeder überhaupt denkbaren Möglichkeit —
Charaktereigenschaften, die schon früher seine
kriegerischen Erfolge beeinträchtigt hatten — ,
waren mit den Jahren noch gewachsen. Hinzu
kam seine fast krankhafte Besorgnis, den einst
in seiner Jugend erworbenen Kriegsruhm am
Ende seiner Tage einzubüßen. Am 14. Oktober
1806 sah sich die preußische Armee, die in zwei
Hauptteilen getrennt im Saaletal bei Jena und
Auerstedt stand, zu gleicher Zeit von über»
legenen Streitkräften angegriffen. Napoleon
selbst überwältigte an der Spitze der Korps von
Ney, Lannes, Soult und Augerau den preußischen
linken Flügel, während den vom Weifenherzog
befehligten Heeresteilen durch Marschall
Davoust eine vollständige Niederlage bei»
gebracht wurde.
Der Herzog hatte im Schlachtgewühl seine
alte Kaltblütigkeit wiedergefunden und setzte
sich unerschrocken dem feindlichen Feuer aus.
Eine französische Kugel traf ihn in der rechten
Schläfe und beraubte ihn der Sehkraft beider
Augen. Man hob ihn auf ein Pferd und brachte
ihn glücklich aus dem Gefecht nach Auerstedt,
wo sein Leibarzt Dr. Voelker ihm den ersten
Verband anlegte.
Diese Verwundung in einem Zeitpunkt, da
die Entscheidung unmittelbar bevorstand, fiel
schwer zu Ungunsten der preußischen Waffen in
die Waagschale. Mit ihr hörte jeder einheitliche
Oberbefehl auf, jeder handelte nur noch auf
eigene Faust. Mit einem Schlage hatte der Ver»
lust der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt
den bis dahin noch immer die preußischen Fäh»
nen umschwebenden Zauber der Unbesiegbar»
keit zerstört.
Der unglückliche Herzog wurde von Dr. Voel»
ker und Oberst v. Kleist trotz der Schmerzen,
die die Wunde verursachte, auf Nebenwegen
eilig in seine Residenz Braunschweig gebracht.
Da Napoleon jeden Gnadenerweis gegen das
Land wie die Person des Herzogs ablehnte,
regelte Karl Wilhelm Ferdinand die Erbfolge
und schloß seine älteren, von Kindheit an blin»
den Söhne zugunsten des jüngsten Friedrich
Wilhelm aus, der dann später bei Quatrebas
fiel. Erstmals unterschrieb hierbei der Herzog,
ohne sehen zu können, seinen Namen, ziemlich
fest, mit den gewohnten Zügen.
Zwar erreichte Karl Wilhelm Ferdinand auf
seiner weiteren Flucht dänischen Boden, doch
hatten die Unbequemlichkeiten des Transportes
seinen Zustand wesentlich verschlimmert. Am
" 10. 11. 1806 starb er in Ottensen bei Altona und
wurde in dem Gewölbe der dortigen Dorfkirche
beigesetzt, bis vier Jahre nach der Befreiung
Deutschlands vom Joch Napoleons seine sterb»
liehen Reste in dem alten Dom Heinrichs des
Löwen zu Braunschweig ihre letzte Ruhestätte
fanden.
Dr. Alexander Tuchs
Dos bewährte Hustenbonbon, hergestellfjnil^jExTrekhBn^vgetf^nerJljeilpflajT^cg^
IN DER
NEUEN .FRISCHHALTEPACKUNG
Meine Begegnung mit einem Kriegsblinden
Der Brief einer dankbaren Massage-Patientin
Liebe Gertrud!
Wie leid tut es mir, daß Dein Arm Dir noch
so schmerzhafte Beschwerden macht. Es ist schon
keine Kleinigkeit, so ein Armbruch, und aus
eigener Erfahrung kann auch ich Dir nur drin=
gend die angeratene Massagebehandlung emp=
fehlen. Nun fragst Du mich, ob Du nicht lieber
zu einem sehenden Masseur gehen sollst statt
zu dem Kriegsblinden, den man Dir genannt
hat.
Nun: bevor ich selbst den üblen Unfall hatte,
der eine langwierige Nachbehandlung erfor=
derte, hätte ich wohl nicht gleich eine so klare
Antwort geben können, wie ich das jetzt ver=>
mag: ich würde immer wieder einem Blinden
den Vorzug geben, obwohl ich, ehe der Kriegs»
blinde mich behandelte, zwei sehr tüchtige
sehende Masseure hatte. Die Gründe dafür sind
vielgestaltig, und ich will versuchen, sie Dir
in Kürze zu entwickeln.
Zunächst muß ich gestehen, daß mich bei der
Eröffnung, meine Behandlung würde einem
Nichtsehenden anvertraut werden, eine leise
Angst befiel: wird er, der ja die Reaktion des
Schmerzes an meinem Gesicht nicht ablesen
kann, mit meinem noch überaus schmerzemp»
findlichen Bein nicht zu gewaltsam umgehen,
wie ich es von manchem Sehenden ohne böse
Absicht erfuhr? Wird er von mir an Beweglich»
keit nicht mehr verlangen, als ich schon leisten
kann? Diese Sorge war aber wenige Augen»
blicke, nachdem der Blinde mein Krankenzimmer
betreten hatte, völlig geschwunden und machte
dem Gefühl einer vertrauensvollen Sicherheit
Platz, die von jeder Bewegung, ja, dem ganzen
Wesen des Mannes ausging.
Wie wohltuend war es allein schon, sich einem
Menschen gegenüberzufinden, der nicht vom
Tempo des beruflichen Getriebes gehetzt, son»
dem in einer von der Außenwelt unbeeinflußten
Ruhe an seine Arbeit ging! Auch irrten die
Hände nicht ziellos umher, sondern griffen
geschickt und sicher zu; so vergaß ich ganz, daß
sie einem Blinden gehörten. Mit welcher Behüt»
samkeit wurde das verletzte Glied abgetastet
und wie rasch die Schmerzzone ohne meine
geringste Mithilfe festgestellt! Es war fast, als
spürte der Blinde den Schmerz eher als ich
selbst, und er war daher imstande, ihn zu ver»
meiden! Mit. einer Konzentration, wie sie nur
dem eigen ist, der durch keinerlei optische Ein»
drücke abgelenkt wird, wurde die Massage ge»
handhabt und von mir in ihrer äußerst einfühl»
Samen und doch kräftigen und gezielten Art
als ungemein wohltuend und wirksam empfun»
den. Das hat sich in all den Monaten, die mein
komplizierter Fall an Behandlungszeit erfor»
derte, nicht geändert; auch im heftigsten Ge»
triebe, wo alles rannte und die Unruhe sich
überall bemerkbar machte, behielt der Blinde
die stets gleiche, konzentrierte und sichere
Gelassenheit und teilte sie unwillkürlich dem
Patienten mit. So ergab sich das für den Hei!»
erfolg so wesentliche Vertrauensverhältnis zum
Behandelnden von selbst. Ich spürte es: diese
Hände wollten wohl und nicht wehe tun!
Gleichzeitig mit dieser äußeren Wirkung ent»
stand aber eine andere, die mir vielleicht noch
wertvoller geworden ist. Zum ersten Male er»
lebte ich ja die Begegnung mit einer mir bis
dahin ganz fremden Welt, dem Schicksal der
Kriegsblinden! Fast schäme ich mich heute,
sagen zu müssen, daß ich sie vorher nicht
gekannt habe. Ich habe sie zwar nicht bewußt
gemieden, aber eben auch nicht gesucht — über
ein gelegentliches mitleidiges Gedenken und
einige Geldspenden ging es nicht hinaus, und
LASTWAGEN. TRAMBUSSE
79
Gebr. Mayer GmbH.
Trikotwarenfabriken
Burladingen
so bedeutete diese Begegnung für mich etwas
entscheidend Neues. Ich erfuhr bald, wie wenig
angebracht das Gefühl des bloßen Mitleids ist,
wenn es nicht im echten Wortsinn zum Mit=
Leiden führt.
Hier stand mir ja ein Mensch gegenüber, der
als voller Mensch genommen sein wollte und
der zwar nicht optisch sehen konnte, aber dafür
eine Fähigkeit der inneren Schau und eines
reichen Erlebens besaß, wie sie uns „Sehenden"
weithin fehlt. Hier wurde ein Schicksal — wohl
eines der schwersten, das junge, hoffnungsfrohe
Menschen treffen kann — nicht in dumpfer Er=
gebung oder gar Verbitterung ertragen, sondern
willig angenommen und sinnvoll gestaltet und
dadurch zu einem Kraftfeld gewandelt, das noch
anderen sich mitzuteilen vermochte. Wie klein
erschien daneben das eigene, vorher als so
schwer empfundene Unglück, und wie fühlte
man sich aufgerufen, sich der Wirkung dieser
Kräfte zu überlassen! Im Grunde kann ja erst
derjenige, der selbst durch Leid gegangen und
nicht daran zerbrochen ist, anderen Leidenden
Hilfe geben.
Während der Behandlung ergab sich so man=
ches Gespräch, das über das Vordergründige
hinaus in das Wesentliche vorzustoßen suchte.
und oft hat es mich betroffen, wie unbestechlich
und klar ein Blinder, der nicht von äußerlichem
Beiwerk und Zufälligkeiten, die das Auge fes=
sein, abgelenkt wird, den Wesenskern seiner
Mitmenschen zu erfassen vermag.
Und — anfangs überraschend — auch noch
dies als schöne Zugabe: auch der Sinn für
Heiterkeit und Humor erwies sich als nicht ver=
kümmert, gerade im gemeinsamen Lachen war
auch die leiseste, aus der Blindheit des andern
herrührende Trennung völlig überwunden. Wie
überflüssig war doch meine anfängliche, scheue
Distanzierung gewesen!
Ob Du nun verstehen kannst, warum ich Dir
ohne Einschränkung Mut machen möchte. Dich
von einem Kriegsblinden behandeln zu lassen?
Du wirst dabei nur gewinnerr, und für diese
Menschen, die im Schatten leben müssen, ist
es doppelt wichtig, die nahe Verbundenheit mit
der Welt der Sehenden und ein Verstehen zu
spüren, das unserer von Gleichgültigkeit und
Mißtrauen erfüllten Menschheit sobitter not tut.
Ich hoffe. Du wirst mir bald von Deiner Be=
handlung durch den kriegsblinden Masseur be=
richten.
Mit herzlichen Grüßen und guten Wünschen
Deine Else.
Ein kleines Problem ist es immer, wenn ein Kriegsblinder etwas unterzeichnen soll. Zwar
kann er schreiben — selbst das verwundert manchen Sehenden! — , ober es muß ihm die
Hand dorthin geführt werden, wo die Unterschrift stehen soll. Für jeden kriegsblinden
Kaufmann oder Beamten ist diese tägliche kleine Schwierigkeit längst belanglos geworden.
Aber es gibt viele Kleinigkeiten dieser Art. angefangen bei der Kunst, sich selbständig eine
Zigarette anzuzünden, bis hin zum richtigen Erkennen des Geldes. Fotos (2): Lengemann
So
Viele Einwohner Kassels kennen den Finanzbeamten Hellmut Vogt und schätzen ihn als
tüchtigen Fachmann und stets hilfsbereiten Menschen. Tausende von Lohnsteuerkarten
gingen während der letzten Jahre durch seine Hand. Seine Sekretärin und Vorleserin steht
ihm seit drei Jahren zur Seite und bringt ihn nach dem Dienst zur Straßenbahn.
Seltsame Visite
Im Kriegsblindenlazarett war es üblich, daß
jeder Sehende beim Betreten eines Zimmers
seinen Namen und Rang sagte, damit die Blin=
den orientiert waren. Das geschah natürlich
auch, wenn ein Arzt das Zimmer betrat. Das
machten wir uns für einen Spaß zunutze, der
— ich gebe es zu — recht derb war:
Eines Tages trifft ein neuer Kamerad ein.
Er wird auf sein Zimmer geführt und erhält
sein Bett angewiesen. Einige Zeit später öffnet
sich seine Zimmertür, und eine Stimme meldet
sich: „Ich bin der Stabsarzt. Für das Kranken=
journal muß ich noch einige Fragen an Sie
richten." Eine markante Stimme. Der Kriegs»
blinde nimmt einigermaßen Haltung an und
gibt gehorsam alle gewünschten Auskünfte.
Er ahnt nicht, daß sich nur ein paar „alte"
Kameraden einen Jux mit dem „Neuen"
machen. Hinter dem Fragenden stehen die an»
deren Bösewichter und verbeißen sich das
Lachen. Zunächst ganz harmlose und über»
zeugende Fragen: Name? Geburtstag? Rang?
Wo verwundet? Verheiratet?
Dann aber werden die Fragen fataler: Dienst»
strafen? Freundin? Uneheliche Kinder? Krank»
heiten? Der letzte Punkt wird höchst genau
vorgenommen. Schulleistungen? Besondere
Wünsche? Kurz, der Kamerad wird buchstäb»
lieh bis unters Hemd ausgefragt. Der Fragende,
der ja selber nichts sehen kann, tut so, als ob
er alles in eine dicke Akte einträgt. Als man
aber draußen den richtigen Stabsarzt heran»
nahen hört, wird die seltsame Visite rasch
abgebrochen.
Am andern Morgen ließ dann der Stabsarzt,
der diesen Streich bald herausgekriegt hatte,
doch einige warnende Worte von sich, in die
eine Richtung strenger, in die andere Richtung
versöhnlicher. Es ist dann auch nicht wieder
vorgekommen. Lux
Dumm gewesen
Eines schönen Tages kam zu uns ein Hand»
werker, der schon in früheren Jahren öfter bei
uns gearbeitet hatte, und nahm eine Reparatur
im Hause vor. Dabei sah er mich mit der
Schreibmaschine schreiben und beobachtete
auch, wie ich in mein Magnetophon sprach.
Sichtlich stieg sein Interesse an mir und meiner
Tätigkeit, und er schien sich darüber Ge»
danken zu machen. Als er, nach Beendigung
Megenbesch^verden
Bullpicli
PULVER 40 PPG.. TABLETTEN 0.30u.l.50
6
8l
seiner Reparatur, dann ein paar Tage später
wiederkam, um die Rechnung zu überreichen,
brachte er auch seine Frau mit. Anscheinend
hatte diese die Neugier hergetrieben. So äußerte
sie auch schon nach kurzer Zeit den Wunsch,
das Magnetophon zu sehen, und ich zeigte ihr
bereitwillig das kleine Wunder und auf welche
Weise ich es fürs Maschinenschreiben ver-
wende.
Als der Besuch beendet war und sich das
Ehepaar verabschiedete, konnte die gute Frau
ihre Meinung, der sie irgendwie Ausdruck zu
geben versuchte, nicht mehr zurückzuhalten.
Sie sprach zu meiner Frau: „Wissen Sie, es ist
schon ein großes Unglück, daß Ihr Mann im
Krieg blind geworden ist. Es ist aber auch ein
großes Glück, daß er dafür jetzt so gescheit
wurde!"
Da blieb mir nur die fatale Überlegung
übrig: Wie dumm muß ich gewesen sein!
Wilhelm Schwind
Glückliche Tage in der Hauptstadt Perus
Kleine Plauderei über die Merkwürdigkeiten der Stadt Lima
Während der Überfahrt hatte man mir er-
zählt, daß die Stadt Lima nicht gerade schön
sei, die Straßen seien sehr schlecht gepflastert,
und alles sei sehr staubig, weil es so gut wie
gar nicht regne. Wenn es aber einmal regne,
seien überall große Pfützen und die Wege so
glitschig, daß Mensch und Tier Mühe hätten,
nicht auszurutschen. Verunglücke ein Tier auf
der Straße, dann lasse man es einfach liegen,
und die Aasgeier kämen dann und übernähmen
das Amt der Gesundheitspolizei. Ich sah es
später tatsächlich: diese schrecklich aussehen-
den großen Vögel fressen in ganz kurzer Zeit
bis auf das Gerippe alles auf, was auf der
Straße verendet.
Ich ließ mich jedoch durch all das Unken an
Bord nicht einschüchtern; denn ich sagte mir,
daß dort, wo mein Verlobter sich wohl fühle,
auch ich mich wohl fühlen würde. Und so war
es auch. Callao, der größte Hafen von Peru —
hier wurde ich abgeholt — , machte einen sehr
ordentlichen Eindruck auf mich. Und noch an-
genehmer überrascht war ich
von der gut asphaltierten
Chaussee, die von Callao nach
Lima führt. In großen schönen
Straßenbahnwagen, in denen
man nach Belieben die Rücken-
lehnen verstellen kann, je
nachdem, ob man vorwärts
oder rückwärts fahren will,
gelangt man nach Lima.
Durch ihre dicken lehm-
artigen Mauern fallen in Lima
die ganz besonders schönen
alten Kirchen auf, man riecht
förmlich ihr Alter, wenn man
sie betritt. Frauen und Mäd-
chen gehen zum Teil heute
noch mit ihren wundervollen
schwarzen Spitzen-Mantillas,
die kunstvoll im Haar be-
festigt werden, in die Kirche.
So war bereits mein erster
Eindruck alles andere als ent-
täuschend.
Drei Schrilie Abstand
Gleich aiii Tage meiner An-
kunft wurden wir in der deut-
schen Gesandtschaft in Lima
getraut. Es war im Jahre 1924.
Lima ist die Hauptstadt von
Peru, eine schöne alte, zum
Teil aber auch moderne Stadt.
Überall findet man Plätze mit
Palmen, mit schönen Anlagen
und Denkmälern. Auch gibt es
82
Unuset im spanisdien Kolo-
nialstil mit geschlossenen,
v>/undeivolI geschnUzten dunk-
len Holzbaikonen. Durch die
Schnitzereien der Baikone
konnten die Damen des Hau-
ses ungesehen das Leben und
Treiben auf der Straße beob-
achten, seinerzeit, als es noch
nicht üblich war, daß die Da-
men der Gesellschaft ohne Be-
gleitung auf die Straße gingen.
Es verstieß noch vor zwanzig,
dreißig Jahren, als ich in Peru
lebte, gegen den guten Ton,
allein auch nur Besorgungen
zu machen. Zumindest mußte
eine ältere Hausangestellte als
Begleiterin mitgehen, jedoch
nicht an der Seda ihrer Schutz-
befohlenen, sondern stets ein
paar Schritte hinterher. Da-
mals war es fast unmöglich,
d.aß eine Haustochter irgend-
einen Beruf ergreifen durfte.
Die Zeiten haben sich geän-
dert. Es gibt Töchter aus ersten
Häusern, die heute allein im
Beruf stehen, allein ihre Be-
sorgungen machen und auch
sogar allein ins Kino gehen,
was früher einfach unmöglich
war.
< Holzschnitte: Fritz Sindel
suchten die deutsche Schule in Miraflores oder
in Callao. Miraflores (auf deutsch: Schau die
Blumen!) ist ein entzückender Villenvorort von
Lima und liegt direkt am Meer.
Hier wohnen die meisten Ausländer in hüb-
schen Häusern mit gepflegten Gärten. Stark
duftende Sträucher und Blumen stehen in den
Gärten, und die Terrassen zieren Rank-
gewächse in allen Farben, daß es eine Pracht
ist. Viele kleine Kolibris naschen in den Blüten
den Honig. Auch lebt dort ein Vögelchen, das
unserer Feldlerche ähnlich ist und den ganzen
Tag fröhlich zwitschert und singt. Eukalyptus-
bäume, Akazien und andere Bäume, die man
hier nicht kennt, säumen die Straßen ein. Die
Gärten werden künstlich bewässert. Minde-
stens einmal in der Woche kommt der Gärtner,
öffnet die Siele und Kanäle, um die Gärten
regelrecht zu überschwemmen, da die Feuch-
tigkeit ja mehrere Tage anhalten muß. Es reg-
net ja kaum in Lima. Die Feuchtigkeit, die
nachts niederfällt, genügt nicht für die Pflan-
zen. Die Wintermonate Juni, Juli, August, Sep-
tember, Oktober und zum Teil auch noch No-
vember sind natürlich nicht mit dem euro-
Die Peruaner haben sehr
viel Familiensinn. Die ganze
Familie (Eltern, Geschwister,
Großeltern, Tanten und Onkel,
zum Teil Weiße, zum Teil
oft Mischlinge und Schwarze) hält sehr zusam-
men und unterstützt sich gegenseitig — , wenn
es einmal not tut, mit der größten Selbstver-
ständlichkeit. Auch die Gastfreundschaft gegen
jedermann ist außerordentlich groß und herz-
lich. Alle Peruaner, die ich kennengelernt habe,
waren äußerst höfliche und freundliche Men-
schen.
Feilsdten in deutschen Geschäften überflüssig
In den Hauptgeschäftsstraßen von Lima fin-
det man recht hübsche Geschäfte, und die größ-
ten von ihnen befanden sich in deutschen Hän-
den, jedenfalls damals, also bis kurz vor dem
zweiten Weltkrieg, als ich das Land verließ. Die
reichen Peruaner, die Wert auf Qualität leg-
ten, kauften sehr gern in deutschen Häusern,
weil sie genau wußten, daß sie dort reell und
gut bedient wurden. Selbst auf das Feilschen
verzichteten sie bei den Deutschen, obgleich
dies im ganzen Lande üblich ist. Man kann
wohl sagen, daß die Deutschen in Peru sehr
angesehen und beliebt sind und sich dort auch
recht gut eingelebt haben. Die Kinder der mei-
sten Deutschen in Lima und Umgebung be-
6*
S3
päischen Winter zu vergleichen. Die Tempera»
tur sinkt höchstens bis auf 13 Grad Celsius,
über Null natürlich. Da die Luft aber sehr dünn
ist und da es in den Häusern keine Öfen gibt,
haben wir manches Mal ganz schön gefroren.
Ja, man sieht sogar Pelzmäntel dort. Fährt man
jedoch im Winter anderthalb Stunden mit der
Eisenbahn oder eine Stunde mit dem Auto in
die Berge, dann weiß man genau: dort ist Son=
nenschein und strahlend blauer Himmel, wäh»
Das ist Frau Gebhard, die uns auf diesen
Seiten in so reizvoller Weise von ihren Erleb-
nissen in Peru berichtet. Als sie dort lebte,
konnte sie noch sehen. Kurz vor dem Kriege
kehrte sie zurück und verlor durch Bomben
den Mann und die Tochter und selber das
Augenlicht. Ihr Sohn ist gefallen. Trotz allem
nahm sie ihr Leben tapfer in die Hand. Seit
einigen Jahren ist sie als Stenotypistin und
assistierende Mitarbeiterin in der- Hamburger
Schulbehörde tätig, und zwar in der Abteilung
Schülerkontrolle, die viel mit psychologischen
Tests arbeitet: Unterhaltungen mit Schülern
werden auf Dimafonplatten aufgenommen.
Frau Gebhardt kann die Texte von der Platte
aus übertragen, und man legt auch großen
Wert auf ihr psychologisches Urteil. Auf die
gleiche Weise überträgt sie auch Briefe, ein
Verfahren, das viele kriegsblinde Steno-
typisten heute vorziehen. Es erspart die Nieder-
schrift eines Stenogramms und erspart, was
noch wichtiger ist, dessen mühsames Ent-
ziffern.
rend es in Lima kalt und dunstig ist. Man hat
also auch im Winter immer Gelegenheit, sich
voll Sonne zu pumpen. Alle,, die es sich leisten
können, wohnen während des Winters in dem
Kurort Chosica, der etwa 1000 m über dem
Meeresspiegel liegt. Am Tage genießt man den
herrlichen Sonnenschein und die gesunde Berg»
luft, und nachts kann man dort wunderbar
schlafen, da es, sobald die Sonne untergegan»
gen ist, merklich abkühlt.
In Kakteen gefallen
Die höchste Bahnstation der Welt, das 5000
Meter über dem Meeresspiegel gelegene Ticlio,
erreicht man mit der Bahn über Chosica, und
von Ticlio, aus eisiger Kälte, geht es wieder
bergab über Tarma nach La Merced, das 800
Meter hoch liegt, wo ausgesprochenes Tropen»
klima ist. Die ganze Fahrt kann man heute in
18 Stunden machen, wobei man sämtliche
Klimata genießt. Alle Züge, die über Chosica
hinausfahren, verlassen Lima nie ohne Arzt
und Sauerstoffapparate, da viele Menschen die
Höhenluft nicht vertragen können. Die Berge
sind kahl und steinig. Nur in der Regenzeit
zeigt sich ein kleines Pflänzchen, ähnlich wie
unsere Begonien mit rosafarbigen Blüten.
Daneben wachsen Kakteen in vielen Arten, u. a.
auch solche mit Früchten, die ähnlich wie un=
sere Stachelbeeren schmecken. Ich bin einmal
beim Pflücken der Früchte ausgerutscht und in
die Kakteen gefallen, was bestimmt kein Ver»
gnügen war, denn meine Arme und Beine
waren voller Stacheln, die nur mit großer Ge»
duld und unter vielen Schmerzen entfernt wer»
den konnten.
Aschermittwoch — letzter Badetag
Von den Bergen kommen die „fruteras"
(Obstverkäuferinnen) mit ihren herrlichen
Früchten wie Chirimoyas, Paltas, Granadillas,
Mangos, Bananen, Äpfeln usw. in die Stadt. Sie
tragen weite Röcke in leuchtenden Farben,
einen Panamahut mit schwarzem Band und ihr
schlichtes schwarzes Haar in Hängezöpfen. Fast
nie sieht man eine „frutera" ohne Kind auf dem
Rücken, das sie in einem schräg auf der Brust
verknoteten Tuch trägt. Mit der größten Selbst»
Verständlichkeit und ganz ungeniert nährt sie
ihr Kind auf der Straße. Die „fruteras" ge»
hören zu den sogenannten „cholos", das sind
Mischlinge mit glatten schwarzen Haaren,
ganz dunklen Augen und gelblichem Teint. Die
„cholos", die in den Bergen wohnen, wenn sie
nicht als Hausangestellte in der Stadt arbeiten,
fertigen u. a. auch sehr schöne handgewebte
Decken und Teppiche an in hübschen leuchten»
den Farben, wobei die peruanischen Landes»
färben Rot»Weiß eine große Rolle spielen.
Zu Weihnachten beginnt die Badesaison.
Von den frühen Morgenstunden bis in den
Abend sieht man die Leute zum Strand hin»
84
unter wandern, um im Meer Erfrischung zu
suchen. Es ist eine Wonne, sich von den Wellen
schaukeln zu lassen. Hierzu muß man sich
natürlich die Zeit aussuchen, in der das Wasser
einigermaßen ruhig ist, damit man nicht zu
weit ins offene Meer hinausgetrieben wird. Mit
dem Sonnen nach dem Baden muß man jedoch
sehr vorsichtig sein, da man dort sehr leicht
einen fürchterlichen Sonnenbrand bekommen
kann. Bis zum Karneval dauert die Badezeit,
Keiner der Ärzte mochte es ihr sagen, als sie
nach einem schweren Fliegerangriff auf Bre-
men im Krankenhaus lag. Frau Gesine Hill-
mann war als Blinde aus den Trümmern ihres
Hauses geborgen worden. „Damals, in den
ersten schlimmen Monaten, hätte ich nie ge-
glaubt, daß ich jemals wieder als vollwertiger
Mensch Freude am Leben haben könnte. Aber
meine Angehörigen machten mir vieles leicht.
Heute verrichte ich manche Hausarbeit selber,
und auch in meinen Mußestunden bin ich nicht
gern ohne Beschäftigung. Mit der geliebten
Nähmaschine ist es zwar vorbei, aber die
Stricknadeln stehen nie still.“ Das Kleid, das
Frau Hillmann auf dem linken Bild trägt, hat
sie selber gestrickt. Übrigens backt sie auch
allein und bedient den elektrischen Herd. Als
sie auf den Wiederaufbau ihres Hauses war-
ten mußte, dachte sie sich ihre für eine blinde
Hausfrau wirklich praktische Küche aus. Auch
für die Bremer Kriegsblinden ist Frau Hill-
mann tätig. In ihrem Haus befindet sich das
Auslieferungslager der Bürstenmacher, das
sie mit Hilfe ihrer Tochter verwaltet. Sie be-
dient das Telefon, packt die Pakete und ist
immer unermüdlich. „Eine prächtige Kamera-
din“, sagen die Bremer Kriegsblinden.
Fotos (2): Kuli
dann wird das Meer sehr wild, so daß das
Baden sehr gefährlich wird und kein Vergnü=
gen mehr macht. Am Aschermittwoch ist
meistens der letzte Badetag.
„Eisige“ Scherze
Die Karnevalstage werden ausgiebig ge=
feiert. Am Karnevalssonntag zieht der Karne=
valszug durch die Straßen in hübsch geschmück=
ten Autos. Alle Karnevalsköniginnen von der
Stadt Lima und den Vororten fahren mit ihrem
Gefolge größtenteils an der Spitze des Zuges.
Das Publikum steht Spalier, wirft Konfetti und
Papierschlangen in den Zug und in die Men=
schenmenge und bespritzt sich mit parfümier=
tem Aether, wobei besonders der Nacken und
die Beine Zielscheibe bilden. Das gibt dann
immer im Moment einen „eisigen" Schreck. —
In den größeren Lokalen, es sind eigentlich nur
wenige, findet ein Festball statt. Die meisten
feiern jedoch im Hause bei Tanz und Erfri=
schungen oder auf der Straße. Drei Tage hält
der Trubel an. Die Geschäfte sind ganz ge=
schlossen oder nur für kurze Zeit an den Kar=
nevalstagen geöffnet.
Nach Aschermittwoch beginnt die stille Zeit.
In der Karwoche gehen fast alle Menschen,
Frauen und Männer, in schwarzer Kleidung.
Für uns Deutsche war dies alles etwas Unge=
wohntes, aber man lernt schnell, mit diesen
Dingen fertig zu werden.
Wenn ein deutscher Kreuzer kam
Wenn aber einmal ein deutscher Kreuzer
nach Callao kam, dann gab es große Feste für
uns. Unsere „blauen Jungen" wurden von
"üözteUliafl
Modisch • elegante Kleidung, Wäsche lür
Damen und Herren sowie Kinder, Haus-
halt-Textilien aller Art in hervorragen-
der Qualität und zu besonders günstigen
Preisen kaufen Sie äußerst vorteilhaft
und seht bequem bei dem beliebten
Versandhaus losten
Kleinpreis G.m.b.H.
Tausende zufriedener Hausfrauen sind zu
festen Kunden unseres Hauses geworden
und senden uns beständig unaufgefordert
Anerkennungsschreiben, in denen sie Ihre
Zufriedenheit über die Josten- Quali-
tät und die günstigen Preise und Zah-
lungsbedingungen ausdrUcken.
Fordern Sie unverbindlich das neue
Josten-Angebot an.
Klelnpreli G.m.b.H.
Dieses Thermometer, dessen Zeiger abfiihl-
bar ist, erlaubt dem kriegsblinden Masseur,
die Temperatur von Bädern oder Packungen
zu messen. Er muß allerdings, da es sich um
eine amerikanische Erfindung handelt, die
Werte von Fahrenheit in Celsius umrechnen.
Peruanern und Deutschen sehr herzlich emp»
fangen. Ganz Lima und Umgebung war auf
den Beinen. Zum Schluß gab es immer einen
großen Ball für die deutsche Kolonie, zu dem
auch viele prominente Peruaner und besonders
die Marine eingeladen wurden. Diese stellte
dann auch ihre Militärkapelle zur Verfügung,
die abwechselnd mit der deutschen Bordkapelle
zum Tanze aufspielte.
Zur Zeit um Johanni wachsen, besonders im
Abancaytal, viele, viele gelbe Blumen, die Blü=
ten wie schmale Schwertlilien haben. Zu dieser
Blütenpracht fährt oder geht jung und alt von
Lima und Umgebung ins Abancaytal. Es ist
wie ein Volksfest. Überall sind Lebensmittel»
stände, die erfrischende Getränke, belegte
Brötchen sowie allerlei Spezialitäten, die am
Rost gebraten werden, anbieten. Dazwischen
wird gesungen und nach Gitarrenklängen ge-
tanzt.
Cala=Abende mit Brillanten
Am 28. und 30. Juli sind die peruanischen
Nationalfeiertage. Am ersten Tage findet ein
Gala»Konzert in Anwesenheit des Staatspräsi»
denten statt. Vielfach sieht man bei einer sol=
chen Gala»Veranstaltung die Damen noch mit
großen Schmuckkämmen im Haar und den
schönen, großen, bunten spanischen Schals
(mantones) um die Schultern. Es ist ein fest-
liches, farbenfreudiges Bild, wenn man so durch
die Reihen schaut. Da der Südamerikaner über-
haupt sehr für Schmuck zu haben ist, sieht man
überall blitzende Brillanten. Auch die Herren
tragen viel Brillanten. In den Pausen geht es
sehr temperamentvoll zu. Lebhafte Begrüßun-
gen überall, und nette Schmeicheleien hört man
von allen Seiten. Es gibt nicht viele kulturelle
Veranstaltungen in Lima, nur wenn auslän-
dische Künstler kommen. Wenn diese aber da
sind, gehört es einfach zum guten Ton, die Ver-
anstaltungen zu besuchen, ganz einerlei, ob
man etwas davon versteht oder nicht. Aber man
muß mitreden können.
Beim Pferderennen in Lima sieht man fast
nur Herren. Außer den Ausländerinnen geht
hier selten eine Frau mit zum Rennen. Gewöhn-
lich sind wir anschließend an das Rennen noch
in ein sehr hübsches Cafe gegafigen, in dem
eine Wiener Kapelle spielte. Selbstverständlich
gab es dort auch einen sehr guten Kaffee und
Kuchen mit Schlagsahne.
Einmal im Jahr, gewöhnlich im Rahmen der
Nationalfeiertage, fand auch ein größerer Stier-
kampf in Anwesenheit des Staatspräsidenten
statt. Die große Begeisterung des Publikums
bei einem Stierkampf kann man nicht be-
schreiben, wenn man so etwas nicht selbst mal
gesehen hat. Blumen, Hüte und alle möglichen
sonstigen Gegenstände fliegen vor lauter Be-
geisterung mit lautem Gejohle, Gegröle und
Füßetrampeln in die Arena, wenn es dem
86
„Torero" geglückt ist, den Stier mit einem
Stoß zu töten.
Auch Hunderennen und Hahnenkämpfe sind
bei den Peruanern sehr beliebt.
Die Haustiere in den Bergen sind: das Lama,
der Esel und die „mula" (Reit* und Tragtier).
Diese Tiere sind unermüdlich und können
stundenlang ihre Lasten bergauf und bergab
schleppen, und zwar zum Teil über ganz
schmale holperige Gebirgspfade und auch
durch die Flüsse, also dort, wo man zu Fuß
kaum gehen kann. Das Tier sucht sich selbst
die gangbarsten Stellen der Wege, Pfade und
Flüsse von einem Dorf zum andern und ist
dort im Gehen viel sicherer als der Mensch.
Eire scharfe Sache
Beim Essen fehlt niemals der Wein oder das
Mineralwasser. Es gibt in Peru eine ganze An*
zahl von Schwefel* und Mineralquellen. So be*
findet sich z. B. in der Nähe von Lima die
Mineralquelle „Viso", die ganz Lima und Um*
gebung mit Mineralwasser versorgt. Niemals
fehlt ferner beim Essen ein Teller mit „arji"
(einer Art Paprika), vermischt mit kleinen ge*
hackten Zwiebeln und öl. Von diesem pikan*
ten Gewürz darf man jedoch nur sehr wenig
nehmen, da es einem sonst leicht den Atem
verschlägt, wie es mir zuerst auch passierte
zum Gaudium der ganzen Tischgesellschaft.
Dabei hatte ich nach meiner Meinung gar nicht
mal viel davon genommen, da mein Mann
mich schon davor gewarnt hatte, und doch war
es genug gewesen, um meine Tränendrüsen in
Funktion zu setzen und einen Hustenanfall zu
bekommen. Die peruanischen Gerichte schmek*
ken nämlich mit arji, Zwiebeln und öl ganz
vorzüglich, man muß sich nur erst daran ge=
wöhnt haben. Auch Knoblauch essen die
Peruaner gern und reichlich.
Aber ich gerate in ein endloses Plaudern.
Man kann schwer den Schlußpunkt finden,
wenn man an eine schöne Zeit zurückdenkt,
von der man stundenlang erzählen könnte.
Neun Jahre habe ich in Lima gelebt, ich war
glücklich und zufrieden dort. Ich bin für diesen
Schatz kostbarer Erinnerungen um so dank*
barer, als ich jetzt, da mir der Krieg das Augen*
licht nahm, mit meinem Sehen auf Erinnerun*
gen angewiesen bin.
Maria Gebhard
Wohnungsprobleme - mit Hartnäckigkeit gelöst
Ein bezeidjnender Beridit des ‘Wohnungsreferenten der Hamburger ^Kriegsblinden
Wer im Anschluß an diesen Bericht auch die
frohe Schilderung eines Hamburgers „Ich habe
ein Häuschen" lesen wird, der wird nach*
empfinden können, was es für jeden Kriegs*
blinden bedeutet, eine richtige Wohnung oder
gar ein eigenes kleines Häuschen zu haben.
Bei der ungeheuren Nervenanspannung, die ein
Kriegsblinder Stunde für Stunde seines Alltags
aufzubringen hat, bedeutet für ihn das eigene
Heim zweifellos mehr als für einen Sehenden,
nämlich fast so etwas wie eine heilende Medizin
gegen manch bittere Folgen seiner Erblindung.
So strengen sich alle Landesverbände und Be*
zirksvorstände unseres Kriegsblindenbundes
an, auf dem Gebiet der Wohnungs» und Sied*
lungsfürsorge den Kameraden tatkräftig zu
helfen. Der hier folgende Bericht des Landes*
Verbandes Hamburg soll also nur ein Beispiel
sein für die Bemühungen, die allerorten in
Deutschland vor sich gehen.
Allerdings, in Hamburg hatten wir es beson*
ders schwer. Durch die furchtbaren Auswirkun*
gen des Luftkrieges hatte die Stadt 54 Prozent
ihres Wohnraumes verloren. So war es unsere
allererste Aufgabe, die gänzlich wohnungslosen
Kriegsblinden wenigstens behelfsmäßig unter-
zubringen, um ihnen später dann wieder zu
angemessenen Wohnverhältnissen zu verhelfen.
Erschwerend kam hinzu, daß eine große Anzahl
von jungen Kriegsblinden aus den Hamburger
Lazaretten entlassen wurde imd sich in Ham*
bürg verheiratete, ohne jeden Wohnraum zu
haben.
Erst 1946 gelang es gegen mancherlei Wider*
stände, die Genehmigung zum Zusammenschluß
der Hamburger Kriegsblinden zu erhalten.
Schon von 1947 an bemühte sich zunächst unser
Kamerad Willi Harms in seiner Eigenschaft als
Wohnungsreferent, trotz der außerordentlichen
Mangellage die schlimmsten Fälle durch Zu*
Weisung von Wohnraum zu mildern. Anfang
1949 gelang es ihm, ein halbes Dutzend ab*
geschlossene Neubauwohnungen für Kriegs*
blinde zu erhalten. Ein ermutigender Anfang,
Robert Friedei G.m.b. H.,
Stuttgart • Bad Cannstatt
Fabrik erster Spezialitäten
in Zucket und Schokoiade
87
„Keine Blindensiedlung!“ so lautet die Einstellung unserer Hamburger Kameraden. „Wir
wollen mitten unter den Sehenden leben und nicht von ihnen abgeschlossen.“ So wohnen
jetzt in dieser hübschen Reihenhaussiedlung in Blankenese zehn Kriegsblinde mit ihren
Familien und vierzehn .sehende. Kriegsblinde wohnen hier in keinem Fall unmittelbar
nebeneinander. Zwecks leichterer Finanzierung wurde der neue Weg des Erbwohnrechts
beschritten.
aber zunächst doch nicht viel mehr als ein
Tropfen auf heißem Stein. Im Frühjahr 1949
wurde ein neuer Wohnungsreferent gewählt,
dem es in zäher Arbeit und mit Unterstützung
der Wohnungsbehörde gelang, in den folgen»
den Jahren mehr als 60 abgeschlossene Neubau-
wohnungen für Kriegsblinde zu erhalten. Eini-
gen Kameraden davon wurde mit der Wohnung
auch der Zuzug ermöglicht, nachdem selbstver-
ständlich vorher ein Arbeitsplatz für sie ge-
funden war.
Ein besonders fatales Problem lag auf einem
anderen Gebiet: Hamburger Kriegsblinde hat-
ten in ihre Wohnungen Untermieter eingewie-
sen bekommen, oder — was noch schlimmer
war — man hatte sie als Untermieter in fremde
Wohnungen eingewiesen, oft in Groß Wohnun-
gen zusammen mit einer ganzen Anzahl von
Mietparteien. Die Bereinigung dieser Fälle
bringt noch heute die größten Schwierigkeiten
mit sich, nicht nur in Hamburg, sondern überall,
weil von den zuständigen Behörden gern fest-
gestellt wird, daß diese Kriegsblinden aus-
reichend untergebracht seien. Dieses Wort „aus-
reichend" bezieht sich lediglich auf die Quadrat-
meteranzahl. Selten aber wird bedacht, was es
gerade für einen Kriegsblinden an seelischer
Belastung und an Nervenstrapazen bedeutet,
im Nebeneinander mit vielen, obendrein frem-
den Menschen und in großer Beengung nicht
eigentlich „daheim" sein zu können. Nur ganz
langsam, Fall für Fall, können hier Fortschritte
erzielt werden. Immerhin konnten wir in Ham-
burg seit 1949 wenigstens 16 solcher Unter-
mieterfälle bereinigen.
Das große Ziel mußte aber trotz dieser
schönen Erfolge immer die Beschaffung eines
Eigenheimes bleiben, ein Ziel, das in Hamburg
schon wegen der teuren Grundstücke und wegen
der besonders hohen Baukosten unerreichbar
schien. 1951 stellte unser Landesverband einen
Antrag an den Senat der Freien und Hanse-
stadt Hamburg auf Bewilligung zinsarmer
Mittel zum Bau von Eigenheimen. Sechs Kame-
raden haben inzwischen ihr Vorhaben glücklich
zu Ende führen können. Andere bau- und sied-
lungswillige Kameraden haben die Belastungen,
die solch ein eigenes Bauvorhaben mit sich
bringt, nicht auf sich nehmen wollen und haben
den vom Landesverband Hamburg beschritte-
nen neuen Weg des Erbwohnrechts mitgemacht.
Grundlage dieser vererblichen Wohnungen (Ein-
familienhäuser im Reihenhausstil) sind Bestim-
mungen über das Gesetz über das Wohnungs-
eigentum und Dauerwohnrecht. Zwei Bauvor-
haben sind nach diesen Gesichtspunkten jetzt
zu Ende geführt worden.
In Hamburg-Blankenese hat der Bauverein
der Elbgemeinden eine kleine, hübsche Siedlung
für 24 Familien errichtet, in die 10 kriegsblinde
Kameraden eingezogen sind. Diese Siedlung ist
ganz besonders mustergültig und neuzeitlich
angelegt. Die einzelnen Reihenhäuser setzen
sich mit einem Höhenunterschied von etwa 1 m
und einer rückwärtigen Staffelung von eben-
falls 1 m voneinander ab und stellen so den
Einzelhaustyp besonders vorteilhaft heraus. Die
architektonische Planung hat sich dem Gelände
gut angepaßt. Weitere 8 Kameraden werden in
Kürze je ein Haus beziehen, das die Deutsche
Wohnungsbaugesellschaft in Hamburg-Harburg
im Rahmen einer Reihenhaussiedlung errichtet,
und zwar mit 20 Einfamilienhäusern.
' Wir haben also besonderen Wert darauf ge-
legt, daß unsere kriegsblinden Kameraden
mitten unter Sehenden wohnen, damit nicht
der Charakter einer Blindensiedlung entsteht.
88
Nirgends wohnen Kriegsblinde
nebeneinander, sondern immer zwi=
sehen den übrigen Familien. Eine
Blindensiedlung wird aus mancherlei
Gründen vom Landesverband abge=
lehnt, nicht zuletzt aus psycholo=
gischen. All diese Häuser haben
einen netten kleinen Hausgarten mit
Sitzterrasse, so daß sich der Kamerad
und seine Familie wirklich wohl füh=
len können. Die Häuser sind alle
unterkellert und haben alle eine
eigene Waschküche. Selbstverständ=
lieh enthalten sie ein Bad und eine
moderne Küche mit Warmwasser=
boiler usw.
Auf diesen Erfolgen will sich aber
der Landesverband Hamburg nicht
ausruhen, sondern im Laufe des
kommenden Jahres weitere Bauvor»
haben mit gemeinnützigen Genos»
senschaften oder Gesellschaften in
Angriff nehmen. So sind zwei wei>
tere Eigenheime geplant, andere Ver*
handlungen gelten einem Projekt
auf der Basis des Erbwohnrechts in
Hamburg=Wandsbek. Die Wohnung
bildet den Mittelpunkt des Lebens
für jeden Kriegsblinden und seine
Familie, das ist die Grunderkenntnis, auf die
der Hamburger Vorstand des Kriegsblinden=
bundes seine gesamte Wohnungs» und Sied»
lungsarbeit aufbaut. Nur in einer schönen, aber
auch zweckmäßig eingerichteten Wohnung
kann sich der Kriegsblinde von der ständigen
„Ich bin kein Künstler“, meint der junge Kriegsblinde
abwehrend, „ich hole meine Geige nur hervor, weil es mir
zum Feierabend Freude macht.“ Sein Publikum sind seine
Kinder oder sein kriegsblinder Freund.
Foto: Böckstiegel
Konzentration seines Arbeitstages erholen und
von der aufreibenden Anspannung im Straßen»
verkehr. Vergessen sei auch nicht der Führ»
hund, der nach seinem anstrengenden Dienst
einen freien Auslauf und eine Erholung
braucht.
Das Ziel ist auch in Hamburg noch nicht er»
reicht, denn es ist hoch gesteckt. Im Interesse
unserer Hamburger Kameraden bleibt noch
viel zu tun übrig. Konrad Halm
Ich habe ein Häuschen
Die einzelnen Reihenhäuser der Siedlung in
Hamburg-Blankenese setzen sich mit einem
Höhenunterschied von etwa 1 m und einer
rückwärtigen Staffelung von ebenfalls 1 m
voneinander ab und stellen so auf muster-
gültige Weise den Einzelhaustyp heraus. In
jedem zweiten oder dritten Haus wohnt ein
Kriegsblinder. Fotos (2): Erich Andres
Ich habe ein Häuschen! Da steht es, wirklich
und wahrhaftig, und umschließt mit seinen weiß
verputzten Mauern, seinem dunkelbraunen
Spitzdach zwei größere und drei kleine Zimmer,
Küche, Bad und Keller. In fast allen Räumen
helfen Einbauschränke Platz sparen und Platz
nutzen. Ein einziger Kachelofen macht im Win»
ter das ganze Haus behaglich warm. Durch die
blanken Fenster sieht man den jungen Garten,
der mit Obstbäumen, BeerensträuAern, Stau»
den, Blumen, mit .Kartoffeln und Bohnen, mit
Erdbeeren und Petersilie ums Haus herum hoff»
nungsvoll heranwächst — alles zusammen um»
schlossen von einer noch ganz niedrigen Weiß»
dornhecke.
Im Hause gibt es nichts Unnötiges, aber jedes
Familienmitglied, jedes Ding hat seine Ord»
nung und seinen gehörigen Raum. Wir brauchen
Sp
nicht mehr wie früher alle Tage hinter den
Vorhang im Zimmer zwischen Wand und
Schrank zu kriechen und aus einem hochgetürm»
ten Berg von Koffern und Kartons irgendwelche
Gegenstände herauszüwühlen, die in der Woh«
nung sonst nicht untergebracht werden konn»
ten. Es ist besonders für mich als Kriegsblinden
wichtig, daß ich alles, was ich brauche; Schreib»
und Punktschriftmaschine, Bücher, Kleidung,
Wäsche und die mancherlei Kleinigkeiten des
täglichen Lebens griffbereit und übersichtlich
geordnet und verwahrt finde. Und ich kann
mich endlich im Zimmer bewegen, ohne ständig
Angst haben zu müssen, mich zu stoßen oder
über etwas zu stolpern, von der Wohltat eines
entspannenden Gehens im Garten ganz zu
schweigen.
Über ein Jahr leben wir nun schon in unserm
Haus, und es scheint uns noch heute manchmal
ganz unglaubhaft, daß wir nach der Vertreibung
und Zerstreuung der Familie, nach kümmer»
lichem gemeinsamem Anfang in einem Ba»
rackenzimmer des Blindenheims, für das wir
damals so dankbar waren, und nach vier Jahren
Untermieter»Dasein in einer häßlichen Woh»
nung in einem großen Mietshause mit seinem
Lärm, seiner Unruhe nun wirklich wieder ein
Heim haben, das nicht nur der Familie genügend
Raum bietet, sondern sogar noch einen Gast
beherbergen kann.
Freilich haben wir drei Jahre hart genug
darum kämpfen müssen, und hätte nicht mein
Landesverband unseres Kriegsblindenbundes
so kräftig vorgearbeitet und die geldgebende
Körperschaft nicht so viel Verständnis bewiesen,
ich müßte mich noch heute damit begnügen, mit
dem Finger auf dem Bauplan herumzuspazie»
ren, den mir mein Junge mit Mutters Hilfe aus
schmalen Holzleisten und Sandpapierstreifen
auf einer Sperrholzplatte nachgebildet hatte.
Nun aber haben wir wieder eine Heimstatt!
Diese Freude teilen wir freilich mit allen Men=
sehen, die nach Jahren der Beengung und Be=
Schränkung wieder eine ausreichende Behau»
sung gefunden haben. Darüber hinaus aber
brauchen gerade wir Kriegsblinden mehr noch
als unsere sehenden Mitmenschen eine solche
eigene Heimstatt. Der Tag verlangt von uns
ein solches Maß von Aufmerksamkeit und An»
Spannung, daß wir das auf die Dauer nur
leisten können, wenn wir uns in unserer Frei»
zeit gut erholen. Den ganzen Tag über sind wir
mit unseren verbliebenen Sinnen auf Wachsam»
90
keit eingestellt. Jeder Schritt, jede Bewegung
mu(3 bewußt gemacht werden, jeder Ton
wird aufgenommen, geprüft, gedeutet. Dazu
kommt die Tatsache, daß wir einmal haben
sehen können. Das ist zwar sehr gut, weil da»
durch die Welt uns „Bild" geblieben ist; es
hat aber den Nachteil, daß wir ständig in einer
ähnlichen Lage sind wie ein Sehender, der mit
geschlossenen Augen geht und hantiert. Wenn
wir uns auch bis zu einem gewissen Grade an
diesen Zustand des Am=Sehen=verhindert=Seins
gewöhnt haben, es bleibt doch ein wenig von
der Überwachsamkeit zurück, wie sie der
Sehende bei geschlossenen Augen aufwendet.
Hinzu kommt der Nerven» und Kraftver»
brauch durch die Berufsarbeit. Ich kenne aus
eigener Erfahrung nur Steno» und Schreib»
maschinen» und Aktenarbeit am Schreibtisch.
Hier sind die Anforderungen an die Leistung
beim Blinden erheblich höher als beim Sehen»
den. Ähnlich wird es den kriegsblinden Karne»
raden in anderen Berufen gehen. Ich bin jeden»
falls immer redlich müde, wenn ich abends aus
dem Omnibus steige und heimgehe.
Ich kann allein heimfinden: 40 Doppelschritte
in Fahrtrichtung an einer Hecke entlang, eine
Rechtswendung, 75 Doppelschritte immer hübsch
auf der Wegmitte (rechts ist nämlich ein Gra»
ben, links eine Böschung; aber es kann ja nichts
passieren, man fühlt die Wölbung der Weg»
mitte beim Gehen genau), dann eine Links»
Wendung, und ich habe den Plattenweg vor mir,
der mich zur Haustür führt. Auf dieses Heim»
kommen freue ich mich Immer von neuem.
Bedeutet es doch Daheimsein, Heimischsein,
Geborgensein.
Zugleich mit den Straßenschuhen kann ich
alle Anspannung, alle Unruhe des Tages ab»
UNSER HAUS
Sommer wird es. Allerwegen
jubeln Farben uns entgegen,
Sonnentrunken, regennaß.
Haus und Garten atmen Helle,
und wir stehen auf der Schwelle,
urh uns erstes Blühn im Gras.
Unser Hausund unser Garienl
Wieviel schmerzlich banges Warten
will im Sommerglanz verwehn!
Nun muß unser Sein gesunden,
haben wir doch heimgefunden,
heim nach langem Irregehn.
LOTTE SCHÜTZ
legen. Hier ist mir jeder Schritt, jedes Stück
Boden vertraut. Hier lebe ich recht eigentlich,
mit meiner Familie, meinen Büchern, meinen
Gedanken, Freuden und Erwartungen. Hier
wartet die Stille, die mir Einkehr und Beruh!»
gung schenkt. Hier, in Haus und Garten, wur»
zeit meine Kraft, Tag für Tag neu zu bestehen.
Bodo Schütz
BUDERUS
ERZEUGNISSE AUS GUSSEISEN
MUFFENDRUCKROHRE
ABFLUSSROHRE
HEIZKESSEL- RADIATOREN
KANALGUSS
BADEWANNEN • SANITÄTSGUSS
OFEN -HERDE
INDUSTRIE' U. MASCHINENGUSS
BERGWERKSGUSS
EISENKUNSTGUSS -ZEMENT
Es war wie ein Festtag für die kleine Familie,
als Thomas, „der Papi", nach einer Magen«
Operation aus dem Krankenhaus wieder im
häuslichen Kreis erschien, zwar noch etwas
blaß, aber das würde in der Obhut der Seinen
bald behoben sein.
Was bei den Eltern verhaltene, stille Freude
blieb, zeigte sich bei Inge und Heidi in tempe«
ramentvoller Lebhaftigkeit und lautem Jubel.
Die Kinder fanden kein Ende mit Erzählen und
Fragen; das war doch etwas anderes als nur
während der kurzen Besuchszeiten -im Kran«
kenhaus, nun hatten sie ihren Papi wieder ganz
für sich, und sie hockten wie Kletten an und
um ihn. Sie fanden es prima, daß er noch nicht
wieder zur Arbeit ins Büro durfte. Was würde
man in dieser Zeit nicht alles gemeinsam tun
können; es sprudelte nur so von Plänen und
Vorschlägen, und das Plappern mußte, als es
für die Kinder Zeit zum Schlafengehen war,
durch ein Machtwort beendet werden.
„. . . und mach Papi, bitte, wieder ganz ge«
sund. Amen!" schloß Heidi ihr Nachtgebet. Als
Thomas, auf dem Bettrand seiner Jüngsten
sitzend, sich wie allabendlich über sie beugen
wollte, trieb sie nicht das übliche schelmische
Spiel, ihr Mäulchen vom Papi zum Gutenacht«
kuß suchen zu lassen, sondern sie richtete sich
aus den Kissen auf, nahm behutsam mit ihren
beiden Händchen seinen Kopf und dirigierte ihn
auf ihre mollig=weichen Lippen.
„Du sollst dich doch noch nicht so viel bük«
ken!" sagte sie wie entschuldigend für die
heute ausgefallene Neckerei, die ihnen doch
sonst abends solchen Spaß gemacht hatte. Die
gleiche, altkluge Besorgnis sprach auch aus
Inges Bemerkung: „Mach' uns ja keinen Kum«
mer, Papi, und werd' uns nicht noch mal krank!"
Lächelnd versprach es Thomas und ließ seine
beiden Trabanten allein. Er wußte, sie würden
noch eine Weile tuschelnd um ihn spintisieren
und dann in einen gesunden und erholsamen
Schlaf sinken.
Während seine Frau noch in der Küche han«
tierte, saß Thomas im Wohnzimmer und hing
seinen Gedanken nach. Die uneingeschränkte
Zuneigung seiner beiden Kinder war ihm seit
je und wie selbstverständlich dargeboten wor«
den, es tat ihm so wohl, das immer wieder be«
stätigt zu finden, und er empfand das dankbar
als ein besonders gütiges und heilsam=ausglei=
chendes Pflaster auf seine nie vernarbende
Wunde. Er war kriegsblind, und der Verlust
beider Augen — noch 1945, kurz vor dem völ«
ligen Zusammenbruch des Vaterlandes — hatte
ihn und seinen Lebensmut damals schwer ge«
troffen. Neben deni Kampf in ihm selbst zehrte
die Sorge um Frau und Kind an ihm . . .
Einmal nur, ein einziges Mal im Leben, wäh«
rend eines kurzen Sonderurlaubs im Herbst
1944, hatte er seine Inge gesehen, als halb«
jährigen Säugling, und er hatte stolz und
glücklich den kleinen Strampel gewiegt und ge«
tätschelt. Dann war bald in der Turbulenz der
92
Ereignisse jede Verbindung abgerissen. Mehr»
fach von einem Lazarett ins andere verlegt,
durchlebte er qualvolle Monate, weitab von Frau
und Kind und durch Zonengrenzen von ihnen
getrennt. Würden sie noch leben, waren sie in
den Trümmern heil geblieben, lohnte für ihn
das Leben noch?
Inzwischen aber hatte seine Frau immer das
Ziel vor Augen, ihn zu finden und ihm beizu=
stehen. Sein Schicksal war ihr durch eine Mit»
teilung des Chefarztes aus dem ersten Auf»
nahmelazarett bekannt. Als sie dann, mit
starkem Herzen die vielerlei Hemmnisse der
Nachkriegswirren überwindend, doch endlich
seinen Aufenthalt ausfindig gemacht hatte und
kurz vor Heiligabend 1945 im Lazarett vor ihm
stand und ihm dabei das Töchterchen in die
ungläubig zitternd ausgestreckten Hände gab,
da war alle Bangigkeit in ihm ausgelöscht. Es
war wie ein Wunder: jetzt wußte er, daß er
leben mußte und leben würde. Wie Himmels»
musik waren ihm Inges erste Worte im Herzen
aufgegangen, als sie, mit ihren beiden Händ»
eben nach seinen Wangen greifend, so zutrau»
lieh wie zu einem alten Bekannten radebrechte;
„Papile teine Äuglein mehr hat,
aber Inge in deine Bille is!" O Selig»
keit! Die leeren Augenhöhlen, vor
deren Eindruck auf das Kind ihm
immer so gebangt hatte, waren gar
kein Hindernis; sein Kind war mit
einer gänzlich schrankenlosen Zu»
neigung zu ihm.
„So sieht unser Papi aus", hatte
die Mutter das Kind von klein auf
gelehrt, indem sie ihm ein Bild von
Thomas und dabei ihre eigenen ge»
schlossenen Augen zeigte, und der
dadurch geschaffene Grund wurde
mehr und mehr zu einem unlösbaren
Kontakt, zu dem nun so selbstver»
ständlich scheinenden festen Band
zwischen ihm und dem Kind.
Bald lustwandelte Inge, noch nicht
zwei Jahre alt, mit dem Papi durch
den Lazarettpark und erwies sich
nach Muttis Anweisungen als sehr
gelehrig und rasch als brauchbare
Führerin. Machten Baumstumpf oder
»wurzeln den Weg uneben, so kurvte
Inge im Bogen herum oder hielt an
und sagte: „Papile, Holz!" Kamen
sie am Kaninchengehege vorbei,
blieb Inge stehen und sang: „Has,
hüpf!" — und Papile war jedesmal
im Bilde.
Als Heidi geboren wurde, lernte sie
bald von der um drei Jahre älteren
Schwester den Umgang mit dem Papi,
und heute erfreuten sie beide ihn
durch ein Anpassungsvermögen,
das genau um die Grenzen der
ihm verbliebenen Möglichkeiten wußte, wie er
es bis heute kaum bei einem Erwachsenen je
gefunden hatte. Sie kannten ihn von klein an
nur so, wie er war; sie wußten genau um die
erschwerten Bedingungen und deshalb schonten
sie ihn nicht, sondern hatten unbedingtes Zu»
trauen zu ihm und seinem Können.
Er hatte bald die gelbe Armbinde ablegen
müssen, weil die Kinder meinten: „Es braucht
nicht jeder zu sehen, daß du blind bist, Papi!",
und sicher und geborgen ging er mit ihnen an
der Hand bald selbst durch den dichtesten Ver»
kehr. Dabei war es für sie wie selbstverständ»
lieh, daß sie ihn an allem teilnehmen ließen,
was sich rundherum tat. So hatten sie heute
mit 9 und 6 Jahren eine erstaunliche Fähigkeit,
bewußt zu sehen und zu beobachten und ihm das
auch in bildhafter Beschreibung so nahezubrin»
gen, daß er mit ihnen an der Hand den Ver»
lust der eigenen optischen Wahrnehmung gar
nicht so schmerzlich spürte. Auf Spaziergängen
mit den Kindern erlebte er die Natur bunt und
bis in die Einzelheiten, denn es war ihnen
wichtig genug, ihm selbst ein einzelnes Blüm»
eben zu beschreiben oder zu zeigen.
Die Familie weiß es: wenn der kriegsblinde Vater
Blumen bekommen soll, so werden sie nach dem Duft
ausgewählt. Foto; Bartl
93
Zu Hause aber mußte er ihnen Grimms Mär=
chen in Punktschrift vorlesen und mit ihnen
Würfelspiele machen; er schubkarrte oder
balgte mit ihnen auf dem Rasen, saß mit
ihnen auf Wippe oder Schaukel, die er für sie
auf dem Hof hatte anbringen lassen, und was
des Zeitvertreibs mehr war.
Wie er für sie, so hatten sie für ihn immer
Zeit; aus dem schönsten Spiel konnte er sie
abrufen, wenn er ihren Dienst brauchte, und
sie kamen gern und sofort. Die Wege zum und
vom Büro oder sonst jeder Gang mit ihm und
für ihn waren keine Last oder lästige Pflicht
für sie, obwohl es dem Vater oft leid tat, ein
Kind aus dem Kreis der Spielgefährten weg=
Zurufen. Die Kinder eines Kriegsblinden müssen
eben frühzeitiger „ran" als andere Kinder.
Aber willig und ungezwungen waren sie
immer für ihn da, und er konnte sich nur
wünschen, daß es mit diesem innigen Verhält=
nis zwischen ihm und den Kindern bleiben
möchte. War es nicht verheißend, wie damals
die vierjährige Heidi auf eine mitleidig=bedau=
ernde Äußerung einer Nachbarin impulsiv
reagierte: „Mein Papi ist nicht arm, der ist lieb
. . . und gut!"
Spitzenklasse der zweiäugigenSpiegelreflex
FRANKE & HEIDECKE - BRAUNSCHWEIG
An manchzn großen Bahnhöfen, vor allem in
Hamburg, findet man bei der Fahrplanaus-
kunft Kriegsblinde. Foto: Keystone
Bei der Deutschen
Bundesbahn erfüllen
auch Kriegsblinde
vollwertige Aufgaben
im Dienst
der Reisenden
94
»Die anderen wissen es nur nicht*
Die kleinen Tücken des Alltags machen uns am meisten zu schaffen
Es war an einem Spätsommertag. Unsere
Nachbarsleute hatten uns zu einem Besuch ein=
geladen. Wir kannten uns noch kaum, denn ich
wohnte mit meiner Familie noch nicht lange im
neuen Haus. Meine Frau und ich gingen also in
der späten Nachmittagsstunde auf ein Plauder=
Stündchen nach nebenan. Schon vor der Tür
wurden wir empfangen, und es war rührend,
wie man sich um mich sorgte. Am liebsten hätte
man mich über die Stufen getragen, aber die
Treppe war nur so breit, daß niemand außer
meiner Frau neben mir gehen konnte — zum
Glück, denn es ist wirklich nicht angenehm,
wenn man so halb geschoben, halb gehoben
wird, dann stolpert man erst recht.
Endlich saßen wir bei Tisch, und nach dem
Kaffeetrinken mußte ich erzählen. Bei der Ver=
wundung fing es natürlich an, obwohl ich nicht
gern davon spreche. Der Gastgeber wollte aber
alles wissen, und er dachte sich auch sicher
nichts Übles dabei. Gewiß, manchen Kriegs»
blinden macht es nichts aus, davon zu erzählen,
aber manche werden dadurch vielleicht an der
empfindlichsten Stelle berührt. Als ich dann
aber von meinem Alltag, von der Arbeit und
von ähnlichen Dingen berichtete, da nahm das
Staunen der Nachbarsleute kein Ende. Wie war
das nur möglich, daß ein Blinder maschine»
schreiben, stenographieren, basteln konnte! Daß
er allein ohne Führung gehen und vieles, vieles
mehr, ja fast alles, was zum Alltag gehört,
selbst tun konnte!
„Ich muß ihnen ehrlich gestehen", sagte der
Nachbar, „ich habe immer geglaubt, ein Blinder
könne nicht einmal allein essen. Nehmen Sie
mir das nicht übel, aber man kann sich als
Sehender einfach nicht vorstellen, was ein Blin=
der alles leisten kann, weil man glaubt, ohne
das Augenlicht ist der Mensch hilflos."
„Das mag sein", entgegnete ich, „aber wenn
man einmal plötzlich aus dem Licht gerissen
wird, dann muß man sich helfen können, ob
man will oder nicht." Ich überlegte mir die
Worte unseres Nachbarn und sah ein, daß er
nicht im Unrecht war. Wir ärgern uns manch»
mal sogar über die Ängstlichkeit und über»
mäßige Fürsorge der Sehenden, die nicht wis»
sen, was eigentlich los ist — aber ist ihr Ver»
halten nicht allzu verständlich? Woher sollen
sie es anders wissen, wenn wir es ihnen nicht
sagen und es durch unser Beispiel beweisen?
Die Sehenden sind als völlig Außenstehende
uns gegenüber genau so hilflos, wie wir es
ihnen gegenüber sind, wenn wir uns nicht ver»
standen wissen. Das immer zu wissen, ist für
uns wichtig.
Es dunkelte schon, als wir wieder aufbrachen.
Ein milder Abend empfing uns, und wir be»
schlossen, noch eine kleine Wanderung zu
unternehmen. „Unsere Nachbarn sind doch
eigentlich ganz nette Leute", sagte meine Frau,
während wir dem Walde zuschritten. Ich be»
jahte und mußte daran denken, wie man doch
von Nichtsahnenden angesehen wird. Erst als
hilfloses Bündel Mensch und dann, wenn man
ihnen etwas erzählt hat, wird man wie ein
Fakir bewundert.
„Siehst du", sagte ich, „die meisten glauben
wer weiß was von uns und bestaunen unsere
Leistungen. Gewiß, sie erfordern Enerige, aber
so bewundernswert sind sie nun wieder nicht.
Die Leistung an sich ist doch eigentlich nicht
das Besondere. Sie aber nur fällt den Außen»
stehenden ins Auge. Wenn ich maschine»
schreibe, so ist das mehr eine erlernbare Sache
und weniger ein Beweis kraftvoller Persönlich»
keit oder wie immer man's nennt. Aber diese
Art von Leistung wird von den Sehenden be»
wundert. Schwieriger finde ich aber den Alltag
überhaupt!
Was meinst du, wie ich mich vorhin beim
Torteessen wieder geärgert habe! Da hat man
so ein schlüpfriges Etwas vor sich, eine Kuchen»
gabel oder ein Löffelchen dabei und dann ver»
TRIUMPH WERKE NÜRNBERG A.G.
95
sucht man, dem Ding beizukommen. Blamieren
will man sich nicht, und weiß doch die Augen
der anderen auf sich gerichtet. Wie die Torte
geschmeckt hat, weiß ich nicht. Ich mußte mich
viel zu viel auf das Essen konzentrieren und
wußte doch nie, ob ich zuviel oder überhaupt
etwas zum Munde balancierte.
Das ist es aber nicht allein. Morgens fängt es
schon an. Zum Glück bist du ja immer da, aber
wenn du einmal fort bist, dann fummelt man
an der Krawatte herum, ob sie auch gerade sitzt,
müht sich mit dem Scheitel, damit er keinen
Zickzackkurs bekommt, vielleicht auch macht
man sich beim Frühstück einen Marmeladefleck
auf den Hemdkragen, ohne es zu bemerken, und
wenn man's bemerkt, so weiß man nicht, ob
man den Schaden kurieren konnte. Endlich
stolpert man los ins Büro, tritt in eine Pfütze
und weiß nicht, ob man sich schmutzig gemacht
hat, will sich dann eine' Zigarette anstecken
und verbrennt sich die Finger, weil man das
Zigarettenende nicht genau gefunden hat, oder
nimmt die brennende Zigarette gedankenlos gar
mit dem Glutende in den Mund, wird von
einem Menschen angesprochen, hat nicht genau
feststellen können, von wo er spricht und ant’
wortet in die falsche Richtung und kann im
Augenblick vielleicht nicht einmal die Stimme
wiedererkennen, tut aber sehr vertraut, um sich
nicht zu blamieren, ach, und was weiß ich, wor=
über man sich sonst noch ärgern kann!"
Meine Frau streicht mir beschwichtigend über
die Hand, aber ich war gerade in Fahrt. Einmal
mußte es doch gesagt werden, einmal muß man
sich die ärgerlichen Kleinigkeiten von der Seele
reden, denn das tut wohl! „Siehst du", sagte
ich, „daß man all diese Kleinigkeiten selbst tut,
ist eine klare Sache, aber wie zermürbend sie
auf die Dauer werden können, kann sich nie=
mand vorstellen. Davon wissen sie alle nichts.
Das Selbstverständliche schließt die
Problematik aus, aber nicht bei uns!
Mit 38 Jahren ist er wieder Lehrling geworden. Aber der
Meister, der einst vor Verdun sein Augenlicht verloren
hat. führt ihn mit kameradschaftlicher Geduld in die Ge.
heimnisse des Bürstenhandwerks ein. Bald wird der Lehr-
ling ein freudigeres Gesicht machen, dann nämlich, wenn
er die erste selbstgefertiegte Scheuerbürste in der Hand
hält. Er wird sie voller Stolz seiner Frau schicken, von
der er für einige Monate getrennt leben muß, bis er im
Staatlichen Umschulungsheim Tegernsee seine Ausbildung
beendet hat. Foto: dpa - Bögler
Das Selbstverständlichste ist schwer
Unser Problem ist geradezu die
Selbstverständlichkeit, mit der wir
alles tun müssen, schon der Selbst=
erziehung wegen, sonst veröden wir
ganz. Die Tücke des Objekts be=
kommt jedoch keiner so zu spüren
wie gerade wir. Was meinst du, wie
schwer es ist, sich ein Glas Wein
oder sonst etwas einzugießen. Ent=
weder läuft es über oder man hat
das Glas nur halb voll. Natürlich,
man kann beim Eingießen einen Fin=
ger ins Glas halten, zur Kontrolle,
aber sehr sympathisch ist das auch
nicht. Hast du das Glas dann abge=
setzt und suchst es wieder auf dem
Tisch, dann stößt du bestimmt mit
der Hand an das wackelige Gebilde
und die Bescherung ist da. Der=
gleichen ist es eben, was uns manch=
mal nicht unerheblich zusetzt, bis hin
zu dem Kummer, wenn man in einer
fremden Wohnung oder gar in einem
Lokal menschlicherweise mal drin=
gend ... — na, lassen wir das! Ge=
reizt dürfen wir aber nie sein, schon
gar nicht in Gesellschaft, eben des=
wegen, weil uns alle beobachten.
Unter diesen Bedingungen arbeitet
man im Büro oder sonstwo, und dann
kommt womöglich noch so ein ganz
Schlauer, der dir unter die Nase hält:
Was wollt ihr denn? Habt eine dicke
Rente, Einkommen noch dazu, euch
kanns doch gar nicht besser gehen!
Das ist das Schlimmste, was man
obendrein noch zu hören bekommen
kann. Eigentlich will man sich über
96
Es mag paradox klingen, aber jeder Kriegsblinde kann „sehen“, denn er hat ja starke
Erinnerungsbilder, kennt Farben und Formen und kann sich auch die Landschaft gut vor-
stellen, wenn sie ihm liebevoll erklärt wird. Die kleine Tochter macht es in ihrem Eifer
bestimmt richtig, wenn auch der Vater dem weisenden Finger nicht folgen kann. Foto: Bartl
solche Redensarten nicht ärgern, weil diese
Leute nichts dafür können, aber man ärgert
sich doch und nicht zuwenig."
Meine Frau hatte still zugehört, und als sie
dann mit ihrer lieben, warmen Stimme sagte:
„Du mußt dich nicht ärgern! Sie wissen es nur
nicht. Ich aber weiß es und verstehe dich doch!"
— da versöhnte ich mich allmählich wieder mit
der Welt, und ich fühlte mich verstanden und
geborgen. „Ja, sie wissen es nur nicht", wieder»
holte ich, „sie wissen es nur nicht!"
„Wollen wir noch auf den Berg steigen",
fragte meine Frau dann, als wir schon mitten
im Walde waren. „Die Nacht ist so schön!"
Langsam stiegen wir den Berg hinan, und meine
Frau sagte mir immer, wo wir waren. Meine
Hand griff zur Seite und fühlte feuchten Rasen.
Wir mußten in einem Hohlweg sein. Murmelnd
rollten die Steine talwärts, wenn der Fuß sie
aus der Erde löste, und das Rauschen der Nacht
in den Zweigen verriet mir den Wald zu beiden
Seiten. Schritt um Schritt stiegen wir aufwärts,
und jeder Schritt brachte einen neuen Eindruck,
und die Mannigfaltigkeit der Eindrücke schuf
das Mosaik, das mir das Bild dieser Landschaft
vermittelte. Wir mußten bald die Höhe erreicht
haben. Ein schwacher Luftzug streifte mein Ge=
sicht, und ich fühlte die Weite zu beiden Seiten.
Der schwere Duft der Tannen blieb zurück und
auch das Raunen. Wir hatten den Wald ver=
lassen und standen auf der Höhe. Über uns
hängte der Mond sein silbernes Laternchen an
das Himmelsgewölbe, und aus dem Tale drang
der Schlag einer Turmuhr matt herauf, schleppte
sich wieder bergab und verhallte in der Nacht.
Ich fühlte, wie meine Frau den Kopf zu mir
hob, wie ihre Hand die meine nahm, dann sagte
sie leise: „Schön ist es hier oben!" „Ja", dachte
ich glücklich, „aus kleinen Teilen baue ich mir
das Bild, und ich weiß, wo ich gehe und wie es
um mich herum aussieht, geführt von dem lieb»
sten Menschen, den es gibt . . ."
Langsam hob ich den Kopf und richtete meine
Augen — fast vergaß ich, daß es tote Gebilde
waren — zum Himmel.
„Auch die Nacht ist dunkel, so wie es in mir
und um mich herum ist, und doch leuchten darin
unzählige Sterne, die alle zusammen ein Bild
ergeben, das schön und wunderbar ist. Auch in
mir sind Sterne, die ich nur zum Leuchten
bringen muß — und ich bin sehend."
Leise lehnte sich ihr Kopf an meine Schulter.
Einen Augenblick nur mußte ich an die ärger»
liehen Kleinigkeiten des Alltags denken, von
denen die anderen nichts wissen, aber sogleich
waren diese Gedanken wieder fort. Umfing mich
in dieser Stunde nicht ein Hauch von Glück?
Franz Feistner
7
97
RUNDSCHLEIFMASCHINEN
MASCHINEN FÜR M OTO R E N- 1 N ST A N D S ET ZU N G
SPIRALBOHRER-SCHLEIFMASCHINEN
SCHLEIFSCHEIBEN / SCHLEIFMITTEL
MSO •MASCHINEN-
UND SCHLEIFMITTELWERKE AG
OFFENBACH/MAIN
MOTOREN-WERKE MANNHEIM AG.
VORM. BENZ ABT. STAT. MOTORENBAU
9«
„So ein kleiner Blonder, bitte, im zweiten Stock"
6in kriegsblinder Telefonist schreibt hier an seinen Chef
Sehr verehrter Herr Oberstadtdirektor!
Vor Jahresfrist hatten Sie die Freundlichkeit,
Ihre Zustimmung für meine Einstellung als
Telefonist zu geben. Erlauben Sie mir. Ihnen
heute meinen Dank zu sagen und von dem zu
reden, was für mich so etwas wie eine Revo=
lution bedeutet hat.
Am 23. Juni 1943 legten russische Partisanen
zwei Holzkastenminen auf einen schmalen Ge=
birgspfad im Jailagebirge. Meine Augen ent=
deckten eine Mine, die mir also nicht schaden
konnte. Mißtrauisch untersuchte ich eine zweite
verdächtige Stelle des Pfades. Ein kurzer Knall
und ein gelblichroter Schein warfen mich zurück,
und ich hatte zum letzten Male Busch und Gras,
Himmel und Sonne gesehen. Meine rechte Hand
hatte sich an diesem Tag das letzte Mal in die
Hand meines Vorgesetzten gelegt; denn auch
sie war mir abgerissen worden. In einem Bres=
lauer Lazarett hörte ich dann von einer frem«
den Frau die Worte: „Mein Vater war sein
ganzes Leben lang an den Rollstuhl gebunden,
aber nie hat er uns fühlen lassen, daß er ein
Leidender ist." Nun, sollte ich nicht auch das
schaffen, was andere Menschen vollbrachten?
Heute kann ich wohl sagen, ich habe es ge»
schafft.
„Einarmig und blind? Unmöglich!"
Voll Hoffnung erlernte ich die Punktschrift,
das Schreiben auf der Schreibmaschine und die
Bedienung eines Vermittlungsgerätes. Mit einem
guten Zeugnis meiner Umschulung meldete ich
mich im Januar 1946 bei der Hauptfürsorge»
stelle, in der Gewißheit, recht bald eine Tätig»
keit als Telefonist zu erhalten.
Aber wie oft habe ich mein Zeugnis abge»
schrieben und beglaubigen lassen, wie oft habe
ich mich im Arbeitsamt, bei Firmen und Be»
hörden vorgestellt! Ich weiß es nicht. Meine
fehlende rechte Hand war der Grund jeder Ab»
Weisung. Ich wollte aber etwas zu tun haben
und bastelte und baute alles mögliche, was
meine lungen brauchen konnten, packte da an,
wo ich nur eine Hilfe für meine Frau witterte.
In diesen Jahren habe ich es gespürt, daß die
Arbeit für den Menschen der größte Segen des
Himmels ist. Ich weiß es nicht, wie viele Men»
sehen es auch nur ahnen, wie groß die Hoff»
nung ist, mit der man, gepaart mit Geduld,
jeden Tag aut eine geregelte Tätigkeit wartet.
Mit Nummer 288g fing es an
Am 25. September haben Sie, Herr Ober»
Stadtdirektor, mein Hoffen und Warten mit
Ihrem „Ja" für meine Einstellung belohnt. Am
1. Oktober 1952 betrat ich das erstemal die
Vermittlung der städtischen Telefonzentrale.
Ein etwas komisches Gefühl konnte ich nicht
verbergen, als ich von 7 Vermittlungsschränken
mit je zehn Amtsleitungen erfuhr. Ich machte
mir selbst Mut, indem ich mir sagte; „Du mußt
es schaffen!" Ich wollte den Abteilungsleiter,
der sich so warmherzig für meine Einstellung
eingesetzt hatte, nicht enttäuschen.
Der Vermittlungsschrank, an dem ich einmal
sitzen sollte, erforderte einen Umbau. In der
Zwischenzeit saß ich zur Einführung am Ver»
mittlungsschrank einer Kollegin, das Mikro»
phon auf der Brust und den Kopfhörer am lin»
ken Ohr, auf Namen, Nummern und Amts»
stellen lauschend. Nach 6 Wochen durfte ich
dann zum ersten Male allein an meinem Ver»
mittlungsschrank sitzen, die Abfragetaste drük»
ken und den Anrufer nach seinem Wunsch
fragen. Es war der Apparat mit der Nummer
2889, den ich zuerst rief.
300 vierstellige Zahlen im Kopf
Meine Freude war unendlich groß, wieder ein
geregeltes Leben mit Sinneskonzentrierung
führen zu können. Und diese meine Freude hat
mir wohl auch geholfen, die fast 500 Namen
mit den dazugehörenden 300 vierstelligen Zah»
Im Neuen Rathaus in Hannover ist seit kurzem
der einarmige kriegsblinde Telefonist Kurt
Schwager tätig, der auf diesen Seiten einiges
aus seinem Erleben erzählt. Nach seiner Um-
schulung mußte er sechs trostlose, lange Jahre
warten, bis er Arbeit fand. Niemand traute
dem Einarmigen etwas zu. Jetzt gilt er, der
ehemalige Schlosser, als ausgezeichnete Kraft.
Foto: Hauschild
7*
99
len im Gedächtnis zu haben. Zwischen 750 und
800 Anrufe einschließlich der Ferngespräche
habe ich leden Tag zu vermitteln.
Oft habe ich von sehenden Telefonistinnen
gehört, daß diese Tätigkeit eintönig und darum
nervenfressend sei. Nun, bis jetzt kann ich das
Gegenteil sagen. Jeder Anrufer hat eine andere
Ausdrucksform und eine andere Stimme. Viele
Anrufer wissen, mit welcher Abteilung oder mit
welchem Beamten sie verbunden werden sollen.
Sehr viele aber wissen weder den Namen des
gewünschten Beamten noch die Bezeichnung
der Amtsstelle. Ein Anruf folgt aber auf den
andern, und so ist die Zeit sehr knapp, um
das Anliegen des Anrufers zu erkennen. Es ist
keine Seltenheit, daß ich dem Anrufer durch
Nennung eines Namens oder einer für ihn zu=
ständigen Amtsstelle helfen kann und dann
sehr freundliche und dankbare Worte höre.
Geduldspiele mit Teilnehmern
Oft kommt es auch vor, daß der Anrufer ge»
rade im Augenblick den Namen des Gesprächs»
Partners vergessen hat. Dann höre ich meist:
„Nanu, wie hieß er doch?" oder „Verflucht
noch mal!" oder „Verbinden Sie mich mit —
mit — hm — mhä — na. Sie wissen doch, der
kleine Blonde, gleich im zweiten Stock rechts."
Tja, wie soll ich das nun wissen?
Am schlimmsten aber sind die Teilnehmer,
die zuerst ihren Vor= und Zunamen, dann die
Straße mit Hausnummer und Stockwerk an»
geben und sodann fragen, ob man ihnen eine
große Bitte erfüllen würde. Während sie das
alles sagen, warten ©ft sechs und noch mehr
Teilnehmer auf meine Meldung: „Stadtver»
waltung!" Von den langatmigen Teilnehmern
aber kann ich mich nicht abschalten; denn dies
wäre eine grobe Unart. Die nun Wartenden be=
kommen dafür ein um so freundlicheres „Stadt»
Verwaltung" zu hören. Immer habe ich ihnen
damit den Mißmut über längeres Warten ver»
jagt, und oft entschuldige ich mich noch.
Zigarrenanzünden dauert eine Stunde
Vom vielen Sprechen stellt sich dann auch
nicht selten der große Appetit nach einer Zi»
garre ein; ich kann sie mir ja nun endlich
leisten, weil ich entlohnt werde. Oft aber dauert
es länger als eine Stunde, bis die Zigarre ab»
geschnitten und angezündet ist. Der Anrufer
muß zuerst bedient werden, immer im Bewußt»
sein, daß ich die erste Tür zu den Beamten, An»
gestellten und Amtsstellen öffne und daß der
erste Eindruck der untrüglichste ist. So emp»
finde ich jeden Tag viel Freude, die manche
Sorge anderer Art verjagt und meine Gesund»
heit festigt. Ich kannte einmal Kopfschmerzen.
Vergessen habe ich sie nicht, aber Kopfschmer»
zen=Tabletten vergesse ich nun zu kaufen.
Mein Dank, Herr Oberstadtdirektor, klingt
in der Bitte aus, noch weiteren Kriegsblinden
zu einem wieder freudevollen Leben zu ver»
helfen, denn nur Arbeit ist für den Kriegsblin»
den beglückend. Kurt Schwager
So sieht der Arbeitsplatz eines kriegsblinden Telefonisten aus. Die Anlage unterscheidet sich
nur durch eine Kleinigkeit von den üblichen Vermittlungseinrichtungen: statt der sonst auf.
leuchtenden Lämpchen springt ein kleiner Stift hervor, der rasch mit den Fingern ertastet
wird. Unser Foto wurde im Regierungspräsidium Darmstadt aufgenommen. Tn einer Be-
urteilung des Regierungspräsidenten heißt es über den hier tätigen KriegsblinBen: „Dieser
Kriegsblinde leistet Hervorragendes auf dem Gebiete der Fernsprechvermittlung. Irgend-
welche Beanstandungen haben sich aus der Besetzung der Arbeitsstelle mit einem Kriegs-
blinden nicht ergeben. Die Arbeitsleistung unseres Kriegsblinden ist der eines Gesunden
gleich. Er hat täglich ca. 800 bis 1000 ankommende Gespräche abzuwickeln sowie etwa 100
abgehende Ferngespräche.“ (Aus: Gust. „Der blinde Telefonist“)
200
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lOnntwiwung
Querschnitt durch den
Ta s t s t il t
So sieht der Techniker das Vermittlungsgerät eines kriegsblinden Telefonisten (Neha-
Anlage). Anstatt der sonst aufglühenden Lämpchen springen kleine Taststifte hoch (z. B. an
den Punkten 6, 7 und 16). Die Blindentastzeichen sind auf einfachste Weise mit den sonst
üblichen Fernsprechglühlampen auszuwechseln und haben (rechtes Bild) die gleiche Form,
eine Erfindung, die wir Kriegsblinden dem Oberingenieur Friedrich Wilhelm Gust von der
Firma Siemens & Halske verdanken. Die Umstellung einer normalen Vermittlungsanlage
aut Blindenbedienung erfordert also nur einen sehr geringen Aufwand, der obendrein von
den Hauptfürsorgestellen getragen wird. Da die Taststifte auch gut sichtbar sind, sind die
Geräte, wenn man nicht die Taststifte mit den Glühlampen auswechseln will, auch für
Sehende leicht bedienbar. Die schematische Darstellung zeigt: 1. Handapparat, 2. Drehnum-
mernschalter, 3. Zugnummernschalter mit Markierung bei Ziff. 3 und Ziff. 6 (links die un-
geraden, rechts die geraden Zahlen), 4. Stöpsel für Kopfsprechhörer, 5. Abfragetasten der
Amtsleitung, 6. Anruftastzeichen der Amtsleitungen, 7. Überwachungstastzeichen der Amts-
leitungen, 8. Kettengesprächstasten mit Einkerbungen, 9. Bezeichnungsstreifen in Blinden-
schrift, 10. Trenntaste T. 11. Ruftaste R. 12. Mithörtaste M, 13. Hausleitungstaste H, 14.
Flackertaste zum Fernamt, 15. Rückfragetaste, 16. Tastzeichen für zentrale Funktionen.
17. Fingerführungsschiene mit (18.) Markierungskuppen, 19. Zahlengebertastatur, 20. Markie-
rungsleiste, 21. Schlußtaste S. (Aus: Gust. „Der blinde Telefonist“)
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101
Begegnung mit Edwin Scharff
Ein großer deutscher Bildhauer der Gegenwart
„Was ist eigentlich neu an der sogenannten
neuen Kunst?" hört man oft fragen. Und man
erhält zur Antwort: „Nichts oder doch nicht
viel mehr als das Anknüpfen an das Neue von
gestern und vorgestern. In der heutigen biU
denden Kunst gibt es nichts weiter als Wieder=
holung."
Gibt es wirklich nichts weiter?
Wir sprechen darüber im Sommerhaus des
Bildhauers Edwin Scharff in Kämpen auf Sylt.
Es ist ein schönes altes Friesenhaus, lang und
schmal, einstöckig, mit niedrigen Decken,
kachelbekleideten Wänden und Schrankbetten.
Der Hauptflügel, das Wohnhaus, hat einen
hübschen, nach Süden gewandten Giebel, und
das Giebelzimmer mit schrägen, grauen Holz=
wänden ist das Atelier des Professors. Wir
sehen uns um. Das alte Haus dient nun nicht
mehr wie früher Bauern oder Fischern als Woh»
nung. Ein Bildhauer wohnt darin. Er hat, ohne
die Grundform des Ganzen zu zerstören und
ohne ein Museum daraus zu machen, das Haus
umgeformt. Bildnerische Phantasie ist hier am
Werk, man spürt es. Nicht darum, weil an den
Wänden Tuschzeichnungen hängen. Es sind jene
charakteristischen, auf den ersten Blick als
„Scharffsche Pferde" erkennbaren Umrisse, es
sind bäuerliche und biblische Szenen. Neben
zwei Aquarellen, die Scharffs Kinder in frühem
Alter gemacht haben, hängen haarfeine Feder=
Zeichnungen. Sie sind vor dem ersten Weltkrieg
entstanden, bei einem Aufenthalt im Gebirge:
Libellen und Grillen, gläsern und spröde; da»
zwischen Schnecken mit körnigem Kalkpanzer.
Man sieht auch Bronzeplaketten in dem Giebel»
atelier, Skizzen von Schafen und Widdern, auf
dem Arbeitstisch die eben fertig gewordene
Zeichnung einer Tänzerin — aber nicht darin
allein äußert sich der Geist einer bildschöpfe»
rischen Phantasie. Man erkennt ihn aus hun=
dert Dingen, aus der Art, wie Muscheln und
Steine auf einem Zinnteller liegen, wie der
alte Birnbaum und die Holunderbüsche hinter
dem Hause wachsen, sie wachsen „plastisch",
man kann es nicht anders sagen . . .
Der Regisseur Barlog aus Berlin, der mit uns
gekommen ist, begeistert sich an dem szenisch
Gebauten der Bilder. „Sie müßten Bühnenent»
würfe machen", sagt er. Und nach der Betrach»
tung der Tuschzeichnungen und Tierstudien:
„Ihre Pferde sind Römer!"
Edwin Scharff bestreitet das nicht. Er ist ein
breitschultriger, hochgewachsener Mann, mäch»
tig sein Schädel, hell und durchdringend, die
Augen. Es ist Weite in diesem Blick, jene Weite,
die er selbst für das Schaffen als entscheidend
betrachtet. „Alles", so hat er gesagt, „hängt ab
von der Stärke der Empfindung des Gestalten»
den, von der Weite, Höhe und Tiefe seines
Himmels, von der Eigenart seiner Erlebnisse,
von dem erkennenden, ordnenden, klären»
den Sinn und dem, was die Natur dem Künst»
1er sozusagen in die Hand gegeben."
Der „ordnende, klärende Sinn"? Wird er
nicht gerade der „neuen" Kunst gern abge»
sprochen?
Oft bestimmt eine Begegnung den Weg
eines schöpferischen Menschen. Bei Barlach
war es das Erlebnis Rußlands. Bei Edwin
Scharff war es nicht nur das Römische, nicht
nur die südlich=klare, die klassische Form.
Scharff sah — es war vor dem ersten Weltkrieg,
den der junge Maler und Bildhauer dann als
Soldat vier Jahre lang mitmachte — die Kal»
varienplastiken der Bretagne: Bildwerke, in
denen das Religiöse, das Christliche als etwas
Urtümliches lebt, nicht losgelöst von der
Natur, sondern von ihm aus als einem Ganzen
und Unzerstörbaren von innen her wachsend.
Der Schleier des Geheimnisses umgibt diese
Plastiken wie eine die Frucht umschließende
Hülle. Darum haben die besten Werke von Ed»
102
win Scharff nicht nur die Kraft einer Körper»
lichkeit an sich, wie sie etwa der Franzose Mail»
lol zu bilden vermochte, sondern auch das zeh»
rend und sehnsüchtig Geistige der christlichen
Kunst, ohne doch geschwächt zu sein oder gar
zusammenzubrechen unter dem Übermaß des
Leidens. In dieser Verbindung, die nicht der
Verstand ersonnen hat, liegt das Heilende und
Neue — das Uralt»Neue — der Kunst Edwin
Scharffs.
In den letzten Werken des Fünfundsechzig»
jährigen erweist es sich vielleicht deutlicher als
in denen des Anfangs und der mittleren Periode.
Es steckt in der kraftvollen Körperlichkeit der
„Boas» und Ruth"»Plastik ebenso wie in der
machtvollen Bronzetür, die Scharff in sieben»
jähriger Arbeit für das Kloster Marienthal bei
Wesel geschaffen hat, etwas vom Geist des
Heliands. Klaus Leonhardi hat in seinem Essay
— in der Sammlung von Feder» und Pinselzeich»
nungen Edwin Scharffs, die unter dem Titel
„Biblische Themen" (im ]. Trautmann»Verlag)
erschienen sind — auf diesen Zusammenhang
hingewiesen. Die elementare Kraft biblischer
Offenbarung durchdringt den Menschen und
alle Kreatur, wie einst im Heliandlied:
Da ward es manchem kund / Uber die weite
Welt. Wächter erst erjuhren's, I Die bei den
Pferden im Freien waren, / Hütende Hirten, die
bei den Rossen hielten / Und dem Vieh auf dem
Felde. Die sahen, wie die Finsternis / ln der
Luft sich zerließ, und das Licht Gottes sprach /
Wonnig durch die Wolken, die Wärter dort /
Im Felde befangend.
In großen europäischen und außereuro»
päischen Museen, auf internationalen Aus»
Stellungen und in sakralen Räumen und
Sammlungen finden wir Werke Edwin Scharffs.
Wer sie aufmerksam betrachtet, wird erken»
nen, daß in ihnen der verhängnisvolle Prozeß
der Selbstzerstörung, der seit Rodin auch in
die Plastik eingedrungen ist, von innen her
überwunden ist.
Edwin Scharff berührt diesen Gedanken
nicht, als wir das Gespräch in Kämpen über
die Aufgaben der. heutigen Kunst beenden.
Alles Fordernde und Programmatische liegt
seinem Wesen fern. Scharff verwirklicht, was
getan werden muß, in seinem Werk und durch
seine fruchtbare Tätigkeit als Lehrer der Bild»
hauerklasse an der Landeskunstschule in Ham»
bürg. Kurt Lothar Tank
Edwin Scharff: „Der barmherzige Samariter“
103
Eine Siedlung ohnegleichen
Kriegsblinde Handweber verwirklichen ihre Träume
„Ich muß unbedingt den Herrn Minister
selber sprechen!" Der Amtmann lächelt nach=
sichtig. So viele Besucher kommen hierher und
sagen das gleiche. Sie haben schon viel er=
reicht, wenn sie bis hierher gelangen, dicht vor
die allerheiligsten Türen. Aber dieser Besucher
da läßt sich nicht abweisen. „Ich bleibe hier
stehen, bis der Herr Minister für mich zu spre=
chen ist, und wenn es noch zehn Stunden
dauert." Der Amtmann wird nun doch allmäh=
lieh unsicher. Denn der Mann da vor ihm sieht
ganz und gar so aus, als ob er hier bis morgen
früh stehenbleiben würde. Es wird dem Amt=
mann zunehmend unheimlich vor diesem Be=
Sucher. Es ist ein Kriegsblinder, man kann ihn
schließlich nicht durch den wachhabenden Pt)li=
zisten herausschaffen lassen. Man sieht dem
Mann trotz der tiefen Narbe an der Stirn an,
daß er Offizier war. Es wird mit ihm nicht gut
Kirschen essen sein.
Aber schließlich, — es kann doch nicht jeder
einfach zum Minister hineingehen wollen! Der
Amtmann, mehr unschlüssig als trotzig, läßt
den Kriegsblinden stehen. Einen Stuhl hatte
der Mann ja abgelehnt. Aber schließlich rafft
sich der Amtmann auf, die Schranken seiner
Vorschriften zu überspringen, obwohl drinnen
noch ein zweiter Minister sitzt. Wichtige Be=
sprechungen, wie das so unter Ministern ist
und zu sein hat. „Das trifft sich ja ausgezeich=
net", lacht der Kriegsblinde, und tatsächlich,
zwanzig Minuten später kann er beiden Mini=
Stern seine Sorgen vortragen.
Einfach lächerlich?
Das heißt, es sind nicht eigentlich seine prU
vaten Einzelsorgen, sondern die Sorgen einer
Gemeinschaft, der „Arbeitsgemeinschaft kriegs=
blinder Weber". Damals, es mag vor drei Jah=
ren gewesen sein, hatten die ersten kriegsblin=
den Handweber nach monatelanger Mühe er=
kennen müssen: So geht es nicht. Sie hatten
sich einst zur Umschulung gemeldet, und wenn
es auch ein saures Jahr gewesen war, dort auf
der Webschule des Roten Kreuzes in Mehle
(Niedersachsen), es war doch schön gewesen.
Denn wieder etwas schaffen zu können, wieder
aus dem Leerlauf eines ohnehin ständig ver=
dunkelten Lebens herauszukommen, das hatte
allen einen gewaltigen Auftrieb gegeben.
Aber als die Prüfung näherrückte, als es zu
überlegen galt; Was nun? Was machen wir mit
unserem Können? Was stellen wir her? Wie
verkaufen wir es? — als es dies alles zu
überlegen galt, da wurden die ersten von ihnen
mutlos. Gut, man wußte schöne Dinge her=
zustellen, die sich sehen lassen konnten, auch
vor anspruchvollsten Käufern und Kennern:
Tischdecken, Trachtenröcke, Kissenplatten, An=
zugstoffe und vielerlei anderes . . .
Acht oder zehn der kriegsblinden Webschüler
saßen sorgenvoll auf ihrem Stübchen zusam=
men. „Wir müßten Vertreter haben, die unsere
Ware verkaufen". Sagt einer. Man hält es für
einen Witz. „Dann brauchen wir allerdings
ein Lager, brauchen gemeinsame Verrechnung,
und überhaupt, wir brauchen Kapital." Spöt=
tisches Lachen. Aber zwei von ihnen machen
sich ans Rechnen. Garn ist teuer, sehr teuer,
ein Raum müßte beschafft werden, ein sehen=
der Geschäftsführer müßte alles kontrollieren
und organisieren. Muster müßten zur Ver=
fügung stehen, Drucksachen, ein paar Möbel.
„28 000 Mark", sagen die Rechner schließlich
düster, aber sie müssen dann selber mitlachen,
als alle schallend lachen. Aber die Optimisten
— oder soll man sie nicht besser die Energischen
nennen? — setzen sich durch.
Eine Mark in die Kassel
Damals gab es für die Kriegsopfer noch kein
Bundesversorgungsgesetz. Die Rente war bit=
ter schmal, und als Webschüler verdient man
104
nichts. Also war es schon ein ziemlicher An^
Spruch, den die kleine Gemeinschaft an sich
selber stellte, als sie eine gemeinsame Kasse
für Briefpapier und Porto begründeten.
Eine Mark opferte jeder, das war viel, zumal
das Opfer ja immer mit dem geheimen Zweifel
geschah: es ist ja doch vergeblich. Und diese
Zweifel mehrten sich, denn wo auch immer
Rückfragen gehalten wurden, ob bei erfahrenen
Geschäftsleuten, ob bei Behörden oder Freun*
den; man riet ab, man lächelte, man hielt das
ganze Unternehmen für verfehlt.
Als diese — jetzt von fast 30 Kriegsblinden
getragene — Arbeitsgemeinschaft aber dennoch
zustande gekommen war und langsam anlief,
stellten sich ganz neue Schwierigkeiten in den
Weg. Man muß wissen, daß diese Handweber
ausnahmslos Ostvertriebene sind, und daß sie
also nur in Ausnahmefällen über Wohnungen
verfügten, die diese Bezeichnung verdienen.
Foto: Jürgen Neven-du Mont
105
Ein Geschenk? Bestelle es bei den kriegsblinden Handwebern!
Künstlerisch und handwerklich hervorragende Handwebwaren
Kissenplatten ab 15,90 DM, Wolltischdecken, Halbwolltischdecken, Kaffeedecken (100/100 cm ab 12,90 DM),
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Bordürrnröcke ab 30,80 LM, Trachtenschürzen, Dirndlschürzen, Bettvorleger und -Umrandungen u. a. Waren.
Sonderwünsche werden weitestgehend berücksichtigt. Mitglieder des Kriegsblindenbundes erhalten Sonder-
tabatt. ■ Bitte fordern Sie unsere ausführliche Preisliste oder Mustersendung anl
Arbeitsgemeinschaft kriegsblinder Weber, Langenhagen/Hann., In d. Kolkwiesen
45203
Dicht an der Autobahnausfahrt Hannover-Langenhagen I
Noch heute wird die Tischdecke fertig sein. Bald wird sie
von einer Hausfrau, die Freude an schönen Dingen und
ein richtiges Gefühl für echtes Kunsthandwerk hat, mit
Stolz aufgelegt werden. Der kriegsblinde Handweber hat
sein Fach gründlich gelernt, und der große Webstuhl mit
dem ständigen Klappern und Stoßen ist ihm zum guten
Freund geworden. Manche Handweber arbeiten selbstän-
dig, meist unter Assistenz ihrer Frauen. Die Mehrzahl hat
sich aber zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlos-
sen, die sich dann rund um ein eigenes Werkstattgebäude
eine kleine Siedlung schuf. Eine Webmeisterin wurde zur
Beratung und Hilfe angestellt. Foto: Böckstiegel
Und als die Webschüler nun ihre
Prüfung bestanden hatten und ent=
lassen waren, ergab sich als erstes
Problem: Wo stelle ich meinen
Webstuhl auf? So ein Webstuhl ist
nämlich ein mächtiges Ding. Manche
Flüchtlingskammer' füllte er allein.
Beschwerden der Nachbarn
Und wo die Aufstellung des Web=
Stuhls gelang, ergab sich sehr bald
eine neue, bittere Sorge: Die Nach=
barn und Mitbewohner beschwer=
ten sich über das ständige Bumsen
und Klappern, das nun mal die
Arbeit am Webstuhl mit sich bringt.
Hier und da einigte man sich güt=
lieh auf die Einhaltung weniger,
streng begrenzter Arbeitsstunden,
aber damit war der Weber zu un=
erträglicher Kurzarbeit verurteilt.
Und wo auch dieses Problem
einigermaßen gelöst war, ergab sich
im Laufe der Praxis bald ein drittes,
das in menschlicher Hinsicht das
belastendste wurde: die Über=
beanspruchung der Ehefrau. Es gibt
nämlich Einzelverrichtungen, bei
denen der Handweber — auch der
sehende — die Hilfe eines Partners
braucht, mehr aber noch braucht
der kriegsblinde Handweber immer
wieder einmal Rat und Hilfe, vor
allem beim Vorbereiten des Webens
und beim Fertigmachen und Nähen
der einzelnen Stücke. So muß seine
Frau immer bereit sein, helfend
Gleich nach dem Auflegen stellt sich ein wohltuendes Wärme-
gefühl ein. ABC-Pflaster bewirkt an der schmerzenden Stelle
eine stärkere Durchblutung, wodurch schädliche Stoffe beseitigt
werden u. die Heilung gefördert wird. Die Beschwerden werden
schnell gelindert. ABC-Pflaster ist sauber und angenet^
im Gebtauch und hindert nicht bei der Arbeit^
Die Gebrauchsanweisung finden Sie au^
der Rückseite jeder Packung.
Ä © € - Wofter
Achten Sie bitte auf den Namen: ABC-Pflaster. Erhältlich in Apotheken.
106
einzuspringen, und wenn es oft auch stunden»
lang dauert, bis der Mann ihre Hilfe braucht.
Das so notwendige Mitwirken der Frau ist
schon von der Webschule bedacht gewesen, und
für mehrere Wochen waren die Frauen der
Webschüler gegen Schluß des Kursus ebenfalls
zu Webschülern geworden. Aber es wird den
Frauen jetzt zuviel. Sie haben ja nicht nur den
Haushalt und die Kinder zu versorgen. Die
Frau eines Kriegsblinden ist immer doppelt be»
ansprucht: sie muß Zeit haben, dem Mann aus
der Zeitung etwas vorzulesen, ihn bei seinen
Gängen zu begleiten, überhaupt; sie muß den
Kontakt mit der Umwelt herstellen, muß ein
Anschauungsbild der Umwelt im Mann wach»
halten, muß für Ordnung sorgen, damit der
Mann auch selbständig findet, was er braucht
— und nun noch eine sozusagen nebenberuf»
liehe Tätigkeit beim Weben? Nein, das ging
über die Kraft vieler Frauen.
Eine verrückte Idee?
So saßen die Weber wieder einmal beisam»
men und ließen den Kopf hängen. Eine ganze
Anzahl von ihnen hatte seit der Entlassung
aus der Schule noch kein einziges Stück weben
können. Was nun? Und da sagte einer: „Wir
bauen uns eine Siedlung, rund um ein Werk»
Stattgebäude herum, und wir verpflichten uns
eine Webmeisterin." Zunächst war wiederum
, nur ein bitteres Lachen die Antwort, zunächst
fand der Mutige überall nur wohlmeinende
Warnungen, ängstliches Abraten, wo er auch
hinkam. 20 Eigenheime? Nein, mein Lieber,
das schlagen Sie sich besser aus dem Kopf.
Aber die Kriegsblinden bewiesen, was man
mit Hartnäckigkeit und Geduld erreichen
kann. Sie fanden schließlich Freunde, hier die
Regierungspräsidentin von Hannover, dort
einen Industriellen, da den Bürgermeister des
Dorfes Langenhagen vor den Toren der Stadt
Hannover.
Und jetzt sind die Kriegsblinden in ihre
Häuser eingezogen. Sie können es noch kaum
glauben: ja, ein Eigenheim, das wirklich ihr
Eigentum ist, und endlich: eine Arbeitsmög»
lichkeit. Arbeiten zu können, das gibt ja dem
Kriegsblinden erst sein Selbstbewußtsein und
seine Lebensfreude wieder. Es sind Doppelhäu»
ser, je zur Hälfte einem Kriegsblinden gehörig,
und in der Mitte das stattliche Werkstatt»
gebäude, das die großen Webstühle, das Lager
und das Büro beherbergt. Ein neues Leben hat
begonnen.
Jetzt fehlt nur noch eins: nämlich die Um»
Satzsteigerung, die der vollen Kapazität der
Siedlung entspricht. Auch dieses Problem wird
zu lösen sein, denn die Tischdecken, Kissen und
Stoffe aus der Webersiedlung Langenhagen
sind nicht nur von hoher Qualität und Schön»
heit, sie sind auch erstaunlich billig, wenn man
sie direkt in Langenhagen bestellt. f. W. H.
der freundliche
Helfer der Hausfrau
hm • prima!
/
107
Der „Hörspielpreis der Kriegsblinden“
Die Kriegsblinden danken den deutschen Rundfunkdichtern
„über den Wert so mancher Literaturpreise
kann man vielleicht streiten, aber dieser Preis
ist notwendig, um das Hörspiel als Kunstwerk
öffentlich zu rechtferygen", so sagte der Inten=
dant des Süddeutschen Rundfunks, Dr. Eber=
hard, der als Vorsitzender der Arbeitsgemein=
Schaft der westdeutschen Rundfunkanstalten bei
der Preisverleihung in Bonn das Wort ergriff.
Was will dieser „Hörspielpreis der Kriegs»
blinden"? Man trifft oft auf das merkwürdige
Mißverständnis, daß dieser Preis einem kriegs»
blinden Schriftsteller gelte. Das kann schon
deshalb nicht der Fall sein, weil es unter den
Kriegsblinden zwar einige wenige Schriftsteller
gibt, aber keinen Dichter von Rang. Wenigstens
weiß man von ihm nichts. Warum auch sollen
Kriegsblinde mit einer Preisvergebung unter
sich bleiben, so als ob sie mit der Welt der
Sehenden nichts zu tun hätten! Die Stiftung
dieses Preises beleuchtet vielmehr die Tatsache,
daß die Kriegsblinden in einem lebendigen
Kontakt mit der Welt stehen, und zwar nicht
nur als die ewig Nehmenden, die an ihre Um=
weit Ansprüche stellen müssen, sondern auch
als die Gebenden, ja, als die Sprecher dieser
Umwelt.
Alljährlich erhält der Autor des bedeutendsten deutschen Hörspiels einen Preis, den einzigen
deutschen Hörspielpreis. Er wurde von den Kriegsblinden gestiftet, die zusammen mit den
angesehensten Fachkritikern auch die Wertung vornehmen. Im Jahre 1953 erhielt den Preis
Günter Eich (rechts). Bei der feierlichen Preisverleihung im Plenarsaal des Bundesrates zu
Bonn war auch Bundespräsident Professor Heuss zugegen. Foto: Engel
108
Denn als die Kriegsblinden diesen Preis stif=
teten, den einzigen deutschen Hörspielpreis, da
fühlten sie sich als Vertreter der gesamten
Rundfunkhörerschaft. Einzelne Hörspiele wer=
den ja an einem einzigen Abend oft gleichzeitig
von drei und von vier Millionen Menschen ge=
hört. Diese Menschen aber bleiben einzelne, und
sie können weder wie im Theater durch Bei»
fallklatschen noch wie im Buchladen durch flei»
ßigen Ankauf einen Autor auszeichnen. Allen»
falls kann man Briefe des Lobes oder der Ent»
rüstung in ein Funkhaus schicken. Die deut»
sehen Kriegsblinden schufen jetzt endlich eine
Instanz, um den Rundfunkautoren den Dank
des Publikums zu übermitteln und um eine
alljährliche Wertung der Schöpfungen vorzu»
nehmen.
Es wurde ein Preisgericht gebildet, dem in
gleicher Anzahl Kriegsblinde aus allen Sende»
gebieten der Bundesrepublik und angesehenste
Vertreter der Fachkritik angehören. Kritiker
und Kriegsblinde treffen sich alljährlich zu einer
Sitzung, um die wichtigsten Hörspiele des Vor»
jahres noch einmal vom Tonband abzuhören
und über den Wert der Werke zu diskutieren.
Bei. der Auswahl jener Hörspiele, die in die
Debatte gelangen, trägt eine Umfrage bei, die
von der Kriegsblindenzeitschrift an alle deuti
sehen Kriegsblinden gerichtet wird. Man kann
dabei feststellen, daß es unter den Kriegsblin»
den eine erstaunlich große Zahl ausgesproche»
ner Hörspielkenner gibt. Kein Wunder! Das
Hörspiel ist ja eine Kunstform, die eigens für
Blinde geschaffen zu sein scheint. Und die blin»
den Rundfunkhörer sind sicherlich nicht nur die
dankbarsten, sondern auch die aufmerksamsten
und aufgeschlossensten Hörer. So ist es ver»
stündlich, daß die Fachwelt und die allgemeine
Rundfunkhörerschaft die Stiftung und die Me»
thoden dieses Preises für ideal halten.
Im Frühjahr 1953 wurde der Preis zum zwei»
tenmal verliehen, also für das beste Hörspiel,
das im Laufe des Jahres 1952 über einen der
deutschen Sender zu hören war. Den Preis er»
hielt diesmal der Lyriker und Rundfunkdichter
Günter Eich, eine Entscheidung, die in der
Presse und auch im Rundfunk selbst mit gro»
ßer Entschiedenheit bejaht wurde. Der Preis ist
zwar nur ein Ehrenpreis, denn die Kriegsblin»
den haben keine Reichtümer zu vergeben, aber
der Preis hat in den beiden letzten Jahren ein
so hohes Ansehen gewonnen, daß er von der
Öffentlichkeit und auch von den Autoren als
hohe Ehre empfunden wird.
Zwei tastende Hände umschließen eine
Blume — ein Sinnbild für die Erlebniswelt
des Blinden. Der in den letzten Jahren mehr
und mehr zu Ansehen gelangte kriegsblinde
Bildhauer Jakob Schmitt (Mainz) schuf diese
Kleinplastik, die im Jahre 1953 dem Dichter
Günter Eich als Preis für das beste im Vor-
jahr gesendete Hörspiel zuerkannt wurde.
Foto: Keystone
SCH RE 1 BM ASCH INEN
Spezialausführung auch für Blinde
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OLYMPIA WERKE WEST GMBH
Wilhelmshaven
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Vom kleinen, billigen Bauern*
mähdrescher bis zum Hüchst-
lelstungs-Selbstfahrer bietet
Deciientreller eine Auswahl
an Mähdreschern, die allen
Wünschen der unterschied-
lichen deutschen Landwirt-
ntreiter
• PerPektaLcnkradschaitung
• Vollkommene ßeinfreiheit
• 5yndin)n5(holtgefriebe
• Loufrühig- Cluolmfrei
• leKhHosffederung
• 50 PS Diesel-Motor
• 10u.11l Normverbräudi
• Hohe Tragkraft .
• 'Große Ladefläche
•^TrohL Neuenjngen'olter Preis
V jTmd&^’^GatnHK
‘^^HANOMAG-Z/iese/
1,5u.2f
.AUFBAUTEN FÜR JEDEN 8EDARf,
HO
Heitere Stunden in der Turnhalle
Wenn uns das ständige Sitzen zu dick machen will
Da hat es doch wahrhaftig einer meiner
Kollegen, ein einziger nur — er hat es für
einen Aprilscherz gehalten, als ich andeutete,
daß ich jetzt einmal in der Woche zum Turnen
gehe. Erst mal habe ich dem Zweifler einen
höchst gelehrten Vortrag gehalten, nämlich über
die allgemeine Körperverfettung, die ja bei uns
Kriegsblinden durch sitzende Beschäftigung
und geringe Beweglichkeit oft schon frühzeitig
hervorgerufen wird. Um ihr keinen Vorschub,
mehr zu leisten, habe ich mich neben einigen
anderen Bremer Kameraden entschlossen, Sport
zu treiben. Das leuchtete dem Kollegen ein, und
ich erzählte nun:
Nach dem Grundsatz „Sport ist noch wich=
tiger als ein ausgiebiges Frühstück" pflege ich
die wiederentdeckte Körperschule. Nachdem ich
mir eine Turnhose und ein fast echtes Olympia»
hemd, wie es die deutschen Sportler bei den
Olympischen Spielen in Helsinki getragen
haben, gekauft hatte, konnte ich mich endlich
nach einer Pause von etwa zehn Jahren wieder
sportlich betätigen.
Ich war nicht der einzige. Eine ganze Riege
von Kriegsblinden hat sich zusammengefunden,
und zwar unter der Leitung des versierten, in
Bremer Turnkreisen bekannten Sportlehrers
Wegener. Uns allen macht der Sport Freude,
mehr Freude, als wir vorher ahnten. Weil wir —
den Sport ernst nehmen. Allwöchentlich, am
Mittwochabend um 19 Uhr, kommen wir in
einer Turnhalle zusammen. Es wird mit Locke»
rungsübungen begonnen. Wir müssen gehen,
laufen, hüpfen und springen.
Reichlich steif geworden
Natürlich versteht es sich, daß wir einzeln
durch die Halle hüpfen, weil unsere Köpfe
sonst wohl kollidieren würden und der eine
oder andere eine sportliche Beule nach Hause
tragen müßte, was wiederum nicht Sinn der
ganzen Sache ist. Ich hatte ja überhaupt keine
Ahnung davon, wie steif ich in den letzten
Jahren geworden bin! Beim Laufen und Sprin»
gen merke ich es ja nicht so, aber wenn wir
dann Froschhüpfen machen müssen, dann spüre
ich erst, wieviel Fett sich in meinem Nacken
angesammelt hat. Der wertvolle Kopf fliegt
nämlich ruckartig nach dem Hüpfen von vorn
nach hinten. Auch ist es keine Kleinigkeit, an
der Kletterstange hochzu krabbeln. Aber ich
habe es trotzdem geschafft, obwohl die Kletter»
Stangen, die ich von meiner Kindheit her aus
Turnhallen kenne, etwas dicker gewesen sein
müssen. Oder sind meine Hände seitdem größer
geworden?
Die Leiter hinauf» oder herabzuklettern ist
nicht schlimm. Aber wenn du unter der Leiter
hochklettern sollst und wieder herunter, dann
merkst du bald, daß du nicht mehr der Jüngste
bist. Sehr viel Spaß macht mir auch das Tau»
springen oder ein schönes Spiel mit dem Me»
dizinball. Es ist so etwas Ähnliches wie Völker»
ball, nur abgestimmt für Blinde.
Sogar Ballspiele
Die Torpfosten werden durch viereckige
Kästen markiert, und die Tore werden von vier
Kriegsblinden besetzt, die sich nebeneinander
hinkauern, und zwar so weit auseinander, daß
sie sich noch eben mit den Händen berühren.
Die Gegenpartei nimmt uns gegenüber Auf»
Stellung. Dann wird der dicke Ball von uns so
geworfen, daß er in der Mitte aufschlägt
— das hören wir! — und von dort aus in das
feindliche Tor rollt. Wir müssen natürlich auf»
passen, jede Partei für sich, daß wir es nicht
zum Tor kommen lassen. Das klingt nun zwar
so unglaublich einfach. Aber — wenn man nicht
gucken kann, dann ist das Einfachste manchmal
doch recht schwierig, und es bedarf größter
Konzentration, um den Ball hören zu können,
wenn er angerollt kommt. Nun, und ganz ruhig
ist es bei uns auch nicht. Der eine hat mal etwas
zu reden, oder der andere stöhnt, weil er
schwitzt.
Am Barren haben wir unsere Armmuskeln
in Tätigkeit setzen müssen, als wir uns auf den
Holmen mit den Armen Vorarbeiten mußten.
Turnlehrer Treff korrigiert die Haltung
eines der Gladbecker Kriegsblinden, die in der
Altherrenriege des Turnvereins, zusammen
mit Sehenden, regelmäßig an den Übungen
teilnehmen. Foto: Neumann
111
Einer von uns Kriegsblinden — er ist früher
Schmied gewesen und seine Muskulatur ist
auch heute noch gut intakt — konnte gar nicht
verstehen, daß dies anstrengend ist. Aber ich
bin ja Büromensch — oder, wie der Schmied
sagt, „eine Schreiberseele".
Tauziehen mit Nachhilfe
Na ja, darum verliere ich auch meistens, wenn
wir uns gegenseitig mit einer Hand durch die
Turnhalle ziehen müssen. Beim Tauziehen habe
ich neulich gewonnen, d. h. mit noch drei
anderen Kameraden. Das Gewicht wurde’ so
ziemlich gerecht verteilt, und los ging's mit dem
Ziehen. Unsere Partei schien keine Kraft mehr
zu haben. Oder waren es die Schuhe, die rutsch»
ten? Ich weiß es nicht. Jedenfalls wurden wir
trotz Gegenzug immer weiter nach drüben ge«
zerrt. Dann aber, auf einmal, hatten wir uns
gefaßt. Mit hau ruck und kräftigen Zügen —
so schien es . wenigstens — hatten wir unsere
Gegner bald wieder zurück» und sogar bis zu
uns herübergezogen. Die anderen konnten ja
nicht wissen, daß zwei amputierte Kameraden
sich unser erbarmten. Sie zogen aus Leibes»
kräften mit, und so kam es, daß wir „siegten".
Die Amputierten turnen von 20 bis 21 Uhr.
Einige von ihnen waren schon erschienen und
sahen uns zu.
An den Ringen haben wir auch bereits unser
Mütchen gekühlt. Wir machten einen Über»
schlag, eine Kerze und verschiedene andere
Dinge. Ein schwieriges Unterfangen ist es auch,
sich in die Ringe zu stellen und mit den Armen
die Taue seitwärts zu drücken, wobei jedoch
die Füße in den Ringen zusammenbleiben müs-
sen. Hierzu gehört viel Geschick»
lichkeit und eigene Kraft. Wenn
du dann noch nicht genug hast,
dann darfst du dich in den Liege-
stütz fallen lassen, um deine Füße
in die Ringe zu stecken, und dann
auf den Händen nach vorn ' zu
laufen, so weit du eben kannst.
Natürlich ziehen dich die Ringe
rückwärts. Hast du es dann endlich
bis an den Rand der Matte ge»
schafft und sollst anschließend wie»
der auf den Händen zurückgehen,
und zwar langsam, dann ist's mit
der Kraft vorbei. Die Ringe ziehen
dich mit eigener Gewalt zum Aus»
gangspunkt zurück, und du hängst
kraft» und’ willenlos daran, wobei
du mit den Ellenbogen auf der
Matte entlangschleifst.
„Wie wenn'ste schwebst"
Aufmerksam tastet der junge kriegsblinde Sportler So-
bania aus Bielefeld zuvor die Höhe der Latte ab und
prägt sich genau die Anlaufstrecke ein. Und er schafft,
gänzlich ins Ungewisse springend, eine Höhe' von 1,40 m.
Ja, da staunte mein Kollege,
offen gestanden, ich staune selber,
daß ich das schon alles kann. Aber
die anderen netten Sachen, die noch
folgen werden! Es wird sicher noch
ungeahnte Möglichkeiten für einen
112
Turnle’nrer geben, um unseren Körper olympia«
reif zu machen. Doch Angst hiervor kennen
wir nicht mehr, denn schließlich ist es ja zu
unserem körperlichen Vorteil, und nach und
nach werden wir wohl so gelenkig werden, daß
wir die kommenden Übungen spielend schaffen.
Wenn es jetzt auch noch nicht so ist „wie
wenn'ste schwebst", wie der Turnlehrer bei
unseren Hüpfsprüngen oft sagt, so wird sich
doch langsam durch das ständige Training die
Muskulatur straffen und eine gewisse Elasti=
zität hervorrufen, so daß wir wie Engel schwe»
ben werden. Vorerst aber ist von Schweben
noch keine Spur zu finden, denn bei dem Hüpfen
und Springen kommt man zu leicht aus dem
Takt, weil man den einen Arm nach hinten
wirft, wenn er nach vorn soll und umgekehrt.
Eher erinnern wir wohl an stampfende Elefan»
ten oder meinethalben an watschelnde Enten.
Der Kopf saß allzu fest
Neulich habe ich mich geirrt. Wir mußten uns
alle auf die Erde setzen, die Beine grätschen
Einmal frei und ungehemmt laufen zu kön-
nen. nicht am Arm einer Begleiterin oder am
Bügel des Führhundgeschirrs, das ist die
Freude eines kriegsblinden Sportsmannes. An-
fangs lief er auf dem weiten Rasen, ins Dun.
kel hinein. Jetzt hat sich sein Orientierungs.
sinn schon so verbessert, daß er die Aschen-
bahn benutzen kann. Unser Bild zeigt den
kriegsblinden Studenten Werner Giehr (links),
den besten kriegsblinden 100-m-Läufer (13,2
Sek.). Selbst an den 5000-m-Lauf wagte er sich
Foto: Eifert
Durch das ständige Sitzen sind die Glieder
und Muskeln der meisten Kriegsblinden ein-
gerostet. In vielen Fällen führt diese be-
wegungsarme Lebensweise zu Gesundheits-
störungen. Da hilft nur der Sport. Und der
Erfolg? Man gewinnt gratis dazu sehr viel
Lebensfreude im Kreise froher Kameraden.
Der Kriegsblinde im Hintergrund steht (oder
vielmehr „hängt“) vor lauter Vergnügen köpf.
Foto; Nordtiausen
und dicht hintereinander hocken. Ein Kamerad
legte sich auf die hochgehaltenen Hände des
Vornsitzenden und wurde von uns mit den
Händen von vorn ‘nach hinten geschoben. Das
gleiche Spiel ging nun auch von hinten nach
vorn. Ich griff also, wie alle anderen, mit beiden
Händen nach hinten, um den Kopf oder einen
Teil des vorzuschiebenden Körpers zu fassen.
Ich bekam auch tatsächlich den Kopf des Man=
nes in meine Hände, und so zog ich nun und
zerrte und riß daran herum, um ihn nach vorn
zu bringen. Ich wunderte mich zwar, daß das
Gesicht nach unten schaute, aber dann dachte
ich, daß er sich eben einmal anders nach vorne
schieben lassen wollte. Aber der Kopf wollte
nicht weiterrutschen. Dann mußte ich fest»
stellen, daß das Spiel längst aus war und daß
ich ungewollt den Kopf meines Hintermannes
zu packen gekriegt hatte. Dieser sagte mir
dann, daß er ja immer gerufen hätte, ich solle
ihn loslassen, doch das hatte ich wohl bei dem
Spektakel nicht gehört. Nun, mein derzeitiger
8
113
Hintermann kommt heute noch regelmäßig zur
Turnstunde, er dürfte also keinen Schaden er=
litten haben . . .
An der Sprossenwand passierte es einmal,
daß einem allzu eifrigen Kameraden die Turn-
hose buchstäblich vom Körper rutschte, als er
sich, bäuchlings auf dem Boden liegend, mit den
Händen an der Sprossenwand hochzog. Darum
ist es gut, daß wir nur unter männlicher Auf-
sicht turnen und unsere Frauen nicht zuschauen,
wie es in anderen Städten geschieht. Manch
einer von uns würde sich befangen fühlen.
Um unseren Frauen zu gefallen
Ein wunderliches Gefühl hat man übrigens,
wenn man, die Hände um die oberste Sprosse
geklammert, an der erwähnten Wand hängt
und wie der Perpendikel einer Uhr hin- und
herpendeln muß. Hierbei werden die Bauch-
muskeln so angespannt, daß man denkt, man
habe fünf Beefsteaks zu Mittag gegessen. Ich
habe nie geahnt, daß ein Mensch, ergo auch ich,
soviel Muskeln besitzt! Nach den ersten Turn-
stunden spürte ich, wenn ich mich tags darauf
etwas mehr bewegte, daß es im Genick, an den
Armen und Schultern, in der Hüfte und an den
Beinen schmerzte und riß.
Doch dieses Anfangsstadium ist nun vorüber;
und wir können schon sagen, daß wir wieder
Sportsleute geworden sind, wenn auch nur
ganz kleine Lichter. Und nur, wenn wir unser
Soll erfüllt haben und uns auf dem Heimweg
befinden, dann spüre ich noch manchmal beim
Herabsteigen der Treppe, daß mir die Knie ein
wenig zittern.
Doch die negativen Seiten dürfen uns nicht
abschrecken, tun wir doch schließlich alles —
außer für unsere eigene Gesundheit — auch für
unsere lieben Gattinnen, die keinen Mehlsack,
sondern einen Athleten oder doch wenigstens
einen frischen und beweglichen Mann zum Ehe-
partner haben möchten. Wir sind jedenfalls
wieder im Kurs gestiegen, als Männer, ver-
steht sich, und so ist es für uns doppelt
schmeichelhaft, daß uns die Frauen nach dem
Turnen abholen. Aus Vorsicht? Haben sie
Angst, daß wir mit der Übung im Sprung nun
auch zum Seitensprung fähig wären? Jedenfalls,
wir stehen unter Aufsicht. Aber wir lassen
uns — auch als Athleten — die Aufsicht gern
gefallen. H. C, Schwarze
Der un6 fi'ne Sru
€in Märchen für unsere ^eit
Eigentlich dürfte man beim Erzählen des
Märchens vom „Fischer und siner Fru" nicht
mit den ebenso behaglichen wie klassisch-
großartigen Worten beginnen: „Es war ein-
mal..." Man müßte vielmehr anfangen: „So
ist der Mensch", denn gerade heutzutage ist er
-SO wie die Frau dieses Fischers, die noch als
Schloßherrin unzufrieden ist und ihren Mann,
wie uns unser Holzschnitt zeigt, zu dem Wun-
derfisch an den Strand schickt, um noch reicher
und noch mächtiger und noch glücklicher zu
werden. Glücklicher? Die immer unzufriedenen
Menschen haben kein Talent dazu, glücklich zu
sein, schon weil sie unter „Glück" etwas ganz
Falsches verstehen. Ein Kriegsblinder etwa
würde bereits glücklich sein, wenn er Frau und
Kinder sehen könnte. Dieses Glück nimmt aber
ein Sehender als selbstverständlich hin, und es
kommt ihm kaum in den Sinn, für dieses echte
Glücksgut zu danken. Mehr zu „haben", das
ist sein Ziel, anstatt dahin zu streben, mehr zu
„sein". So kann es ihm auch geschehen wie dem
Fischer und seiner Frau — , eines Tages sitzt er
wieder in seiner Elendshütte.
Wenn man nie zufrieden tst . . .
Aus der HolzschnitUolge „Der Fischer und sine Fru" von Ottilie Ehlers-Kollwltz
8*
«5
Wie ich wieder lesen lernte
Eines Tages war es mir klar: So konnte es
nicht weitergehen, es mußte etwas geschehen!
Vorüber die Zeiten der Resignation, Schluß mit
dem Leben in Apathie und Abgeschlossenheit!
Kurze Anfrage, rasch erfolgende Antwort,
nächtliche Eisenbahnfahrt gen Süden, und dann
schritt ich eines feucht=frühen Morgens unter
der aufsteigenden Maisonne am Arme meines
Begleiters durch die stillen, historischen Gassen
der alten Universitätsstadt Marburg. Hier wirkt
in segensreicher Arbeit, zum Nutzen aller Blin=
den, die sich ihrer vielfältigen Einrichtungen
bedienen, die Blindenstudienanstalt Marburg.
Hier galt es, eine Kluft zu überbrücken, galt es,
eine Lücke zu schließen, die jeden Erblindeten
zunächst und bis zu diesem Augenblick auf
schmerzlichste Weise von den Sehenden schei=
det. Ein entscheidender Schritt; die Erlernung
der Blindenschrift!
Bald schon hatten sich alle Teilnehmer des
Lehrganges eingefunden. Der erste, mit Span=
nung erwartete Schultag — und ein solcher war
es, sollte doch ein zweites Mal das Lesen und
Schreiben erlernt werden — vereinte 25 Männer
zwischen 20 und 50 Jahren in der besorgten
Frage: Was ist das, was uns hier gegenüber=
tritt? Werden wir jemals imstande sein, ein
Gewirre von papierenen Pünktchen mit unseren
steifen, ungeübten Fingern zu enträtseln? Wer=
den wir wirklich einmal, vielleicht schon in
wenigen Wochen, wieder lesen können? Aber
schneller als gedacht waren wir schon inmitten
der Materie, hatte uns der beispielhaft klare
Aufbau des Schriftsystems und der einfache,
logische Rhythmus im Ablauf des theoretischen
Unterrichtes gepackt. Wahrlich, denkbar einfach
und auch für schlichte Naturen mühelos faß=
bar hatte der Franzose Louis Braille, selbst ein
Kind des Dunkels, im vorigen Jahrhundert diese
Punktzeichenschrift zusammengestellt! Wie
überall, so steckt auch hier der Wert des Gro=
ßen in seiner unkomplizierten Schlichtheit. Bei=
spielgebend zitierte man einen imaginären
Spielwürfel, und vor unserem geistigen Auge
erstanden jene sechs weißen Punkte, in der An=
Ordnung, wie sie auf jedem dieser Würfel zu
finden sind: die Grundlage der Blindenschrift!
Das schien nicht schwer zu sein, die Kombi=
nationen dieser Würfelaugen, also die einzelnen
Buchstaben, zu verstehen und uns einzuprägen.
Wir faßten also gewaltig Mut und es dauerte
auch nicht lange, bis wir die 26 Formen für die
Buchstaben des Schwarzschrift=Alphabetes „in=
tus" -hatten. Ausgehend von dem das A darsteb
lenden Punkt 1, der in Verbindung mit dem
Punkt 2 ein B oder zusammen mit Punkt 4 ein
C bedeutet, paukten wir eine Form nach der
anderen ein, und vorschnell erteilten wir uns in
unserer Fjreude über die vermeintliche Leichtig=
keit des Verfahrens schon goldene Vorschuß»
lorbeeren.
Der Verlapsleiter der Marburger Blinden-
studienanstalt ist der im 1. Weltkrieg er-
blindete Janislav von Trzeciakowski. Er über,
wacht die Herstellung nicht nur von Punkt-
schriftbiichern, sondern auch von Hilfsmitteln.
Hier überprüft er eine für Blinde geprägte
plastische Landkarte,
Viele Kriegsblinde haben an der Blinden-
studienanstalt Marburg das Abitur erreicht.
Die Schüler befassen sich mit allen üblichen
Fächern Für Naturwissenschaft sind vieler-
lei Modelle vorhanden. Eine schmerzliche
Spannung liegt über diesem Bild: ein blinder
Schüler untersucht ein großes, zum Abtasten
bestimmtes Modell des menschlichen Auges.
Aber er bleibt ganz unbefangen. „Wie eine
Fahrradlampe“, ruft er erstaunt.
SAITEN
für alle Streichinsfrumenfe
„Wenn's weiter nichts ist . . .!" sagten wir
und lächelten überlegen, und so dachten wir auch
noch, als unsere Hände zum ersten Male for=
sehend über den unbekannten, zwar einer nor=
malen Schreibmaschine ähnelnden aber doch
zunächst so fremden Formen der Punktschrift=
Bogenmaschine glitten und mit den sechs Tasten
— wozu noch eine Leertaste hinzuzurechnen ist
— die ersten Figuren in das steife Papier preßten.
Aber wir hatten uns zu früh gefreut. Wäh=
rend in der Schreibstunde die ersten Kür=
Zungen mit neuen, mehrere Buchstaben sinm
gemäß zu Gruppen zusammenraffenden Formen
auf uns eindrangen, begannen bei einer anderen
Lehrkraft die ersten, ein wenig bänglich er=
warteten Lesestunden. Aber schließlich, so
sagten wir uns: „Wo ein Wille ist, da ist auch
ein Weg" — und packten zu, das heißt, wir
versuchten, mit den Fingerspitzen über das
kartonartige Papier hintastend, etwas zu „be=
greifen".
O großer Schreck, wie die Oberfläche einer
groben Feile oder gar einer Kartoffelreibe, zwar
nicht so scharf, jedoch mit ebenso vielen, un=
gezählten Erhebungen versehen, so erschien uns
die erste, zögernd betastete Seite des in seiner
Fülle beinahe drohend vor uns liegenden Wäl=
zers. Unmöglich, da ein System herauszufinden!
Unmöglich überhaupt, auch nur die Zeilen aus=
20 000 wissenschaftliche Werke bis hin zur hebräischen Bibel sind für blinde Geistesarbeiter
in der Hochschulbücherei der Marburger Blindenstudienanstalt zu haben. Auch Zeichnungen,
z. B. anatomischer Art, werden in feine abtastbare Punkte umgesetzt. Unser Bild zeigt, wie
eine Seite aus dem Werk von Ceram „Götter, Gräber und Gelehrte“ auf der Zinkplatte vor-
bereitet wird. Stark vergrößert, werden die ägyptischen Keilschriftzeichen einzeln mit der
Hand eingeschlagen. Das segensreiche Marburger Werk — Hochschulbücherei, Studien-
anstalt und Beratungsstelle für blinde Studierende — entstand unter den Auswirkungen
des 1. Weltkrieges, um den Kriegsblinden die Möglichkeit zu schaffen, ihr Abitur abzulegen
und zu studieren. 1917 wurde die Blindenstudienanstalt eröffnet, und auch nach 1939 diente
sie wieder vielen Kriegsblinden. Noch heute besuchen junge Kriegsblinde die Blinden-
studienanstalt, zumal solche, die als Kinder durch den Luftkrieg erblindet sind.
Fotos (3): dpa-Göttert
einander zu halten, geschweige denn die win=
zigen Zwischenräume, die die Zeichen vonein=
ander trennten, mit unseren plumpen Fingern
ausfindig zu machen! Hatten wir alle nicht
plötzlich Hände wie die Grobschmiede? Wie
sollten wir jemals von diesem Gewimmel win*
Ziger Papierwarzen auf dem Wege von den
Fingernerven über das Gehirn etwas Sinn»
fälliges vor unser geistiges Auge projizieren?
Ach, jeder von uns war wohl anfangs der Mei»
nung, daß ausgerechnet er von Natur aus un-
fähig sei, jemals ein Wort zu entziffern, und
fassungslos bewunderten wir Schicksalsgefähr-
ten, die uns aus Büchern etwas vorlasen.
Doch die ersten deprimierenden Tage wurden
überwunden, wir schafften es, verbissen der
eine, seufzend und stöhnend ein andrer, schein«
bar resignierend ein Dritter, ein jeder nach sei-
ner Methode. Schon nach wenigen Tagen wußten
wir alle, woran wir waren, und nur einige, zu-
meist ältere Kameraden, deren Fingerspitzen
sich als nfcht sensibel genug oder deren Kopf-
nerven sich als zu angegriffen erwiesen, gaben
teils erleichtert, teils mit Betrübnis das vergeb-
liche Bemühen wieder auf. Die anderen aber
lasen mit wachsender Begeisterung, stockend
zuerst und ein wenig holperig, aber zusehends
flotter und flotter werdend. Freilich, es kostete
noch ein gerüttelt Maß an Fleiß und Ausdauer,
BUrk-Uhren
seit 1855 bewährt
Wächter-Kontrolluhren, Zeltstempel,
Arbeltszelt-Reglstrierapparate,
Elektr. Uhren, Kalender-Wanduhren.
WUrttembergische
Uhrenfabrik
Bürk Söhne
Schwenningen am Neckar 28
und nicht selten geschah es auch, daß solch ein
mit Punkten übersäter Wälzer im Zustande
höchster Erregtheit barsch beiseite geworfen
wurde, nicht wenige jedoch verliebten sich ge-
radezu in ihn, ließen ihn nicht mehr aus den
Händen und lasen mit wahrem Feuereifer, so
als hätten sie binnen Tagen nachzuholen, was
sie in langen Jahren versäumen mußten.
Langsam aber stetig hatte sich so die be-
glückende Erkenntnis, wieder lesen und etwas
Geschriebenes selbst überprüfen zu können,
nicht mehr abgeschnitten zu sein von der Welt
des Buches, in unseren Herzen verankert.
Eine Wandlung war in uns vorgegangen, und
aus so manchem, dem das Lesen eines guten
Buches in den voraufgegangenen Jahren zum
heißersehnten Bedürfnis geworden war, wurde
in diesen Wochen ein anderer Mensch! So war
auch der Ansturm auf die Bibliothek groß, und
viele Kartons mit schwerer, gewichtiger Fracht
eilten ihren glücklichen Besitzern voraus in die
Heimat, als kostbare Atzung für kommende,
unausgefüllte Stunden. Wir aber reisten ihnen
nach, erfüllt von der beglückenden Erfahrung,
mit der Beherrschung der Blindenschrift den
ersten entscheidenden Schritt auch zur Beherr-
schung unseres neuen Lebens getan zu haben.
Harry Barthel
V
Ein Kriegsblinder erlebt Paris
„Nach Paris wollen rie fahren? Und Sie den»
ken wirklich, daß sich die Fahrt für Sie lohnt?"
Das war die übliche Frage meiner Bekannten,
die erfahren hatten, daß ich die Ostertage zu»
sammen mit meiner Frau in der französischen
Hauptstadt verbringen wollte. Schon aus dem
Ton war häufig geradezu eine Mißbilligung
meines Vorhabens, als Blinder in die berühmte
Stadt zu reisen, herauszuhören. Nun muß ich
zwar gestehen, daß der eigentliche Grund für
die Reise der Wunsch war, einige deutsche
Freunde aufzusuchen, die ich seit Kriegsbeginn
nicht mehr gesehen hatte und die sich seit
einigen Jahren in Paris aufhalten — aber warum
sollte ich bei der Gelegenheit nicht auch Paris
erleben können?
Vor Antritt der Fahrt nahm ich mir noch das
in Punktschrift gedruckte Konversationsbuch
vor, das u. a. einen netten Abschnitt über einen
Besuch in Paris enthält. Auf diese Weise konn»
ten auch meine etwas eingetrockneten Sprach»
kenntnisse wieder aufgefrischt werden. Das
Lernen wurde zum behaglichsten Teil der Reise»
Vorbereitungen.
So fuhren wir eines schönen Nachmittags los.
Die Geräuschkulissen nächtlicher Ankünfte auf
Großstadtbahnhöfen weisen bekanntlich alle
eine gewisse Ähnlichkeit auf. Bei unserem Ein»
treffen am Gare de l'Est nahmen sich aber die
um uns schwirrenden Laute schon recht „fran»
zösisch" aus. Also schon ein „erster Eindruck",
stellte ich mit einiger Befriedigung fest. Nach
Im Pantheon wurde Louis Braille, der Erfin-
der der Blindenschrift, anläßlich seines 100-
Todestages im Sommer 1952 im Beisein blinder
Delegierter aus aller Welt feierlich beigesetzt.
Zeichnungen: Eva Kausche-Kongsbak
der Ankunft im Hotel fuhren wir zunächst mit
dem Fahrstuhl zum fünften Stockwerk. Dann
ging es durch eine Tür.
„Ist das ein Zimmer für zwei Personen?"
hörte ich neben mir die erstaunte Frage meiner
Frau. Die Frage wurde ebenso entschieden wie
liebenswürdig bejaht. Den Grund sollte ich
rasch feststellen. In dem Zimmer stand e i n
Bett, das knapp die anderthalbfache Größe
eines Normalbetts aufwies, aber für zwei Per»
sonen bestimmt war — wie in den meisten
französischen Hotels und Wohnungen. Über
alles weitere schweigt des Sängers Höflichkeit.
Beim Abtasten des Zimmers am nächsten
Morgen stieß mein Fuß an ein nach Porzellan
klingendes Etwas. Es erwies sich als Fußwasch»
becken französischer Art. Das normale Wasch»
becken befand sich an der Wand daneben.
Erster Bummel durch die Stadt. Der fließende
Autoverkehr an unserer Seite fällt sofort auf.
Wir umrunden die Oper und überschreiten
einen großen Platz. Auf einmal vernehme ich
neben mir „sitzende Stimmen" und leichtes
Klirren von Porzellan. Wir sind an dem be»
rühmten „Cafe de la Paix". Trotz der kühlen
Witterung sitzen die Gäste schon in den Vor»
mittagsstunden im Freien. Interessiert betrach»
ten sie den Verkehr der Fußgänger und Autos.
„Na ja, was die können, können wir auchi"
Wir setzen uns an eines der zierlichen klei»
nen Tischchen, natürlich im Mantel. „Ah, dieser
319
Kaffee!" Das gibt's nur einmal . . . Wenn ich
schon von kulinarischen Genüssen rede, will ich
auch der raffinierten Mittags= und Abendmahl»
Zeiten gedenken, die zumeist aus vier bis fünf
Gängen bestehen. Kleine Gerichte, aber jedes
mit großem Geschick zubereitet. Doch zunächst
sitzen wir noch im Freien vor dem Cafe ...
„Plus vite! Plus vite!" ertönt es in der Nähe.
Ein Verkehrspolizist ruft sehr temperamentvoll
den Autofahrern zu, sie sollen schneller, jawohl,
schneller fahren! Diese Art Verkehrsregelung
ist geradezu typisch für das Pariser Großstadt»
leben. Und doch ist die Zahl der Unfälle im
Vergleich zu anderen Hauptstädten nicht sehr
groß. Einer der Gründe dafür dürfte sein, daß
es hier keine Straßenbahnen gibt. Der städtische
Bahnverkehr wird allein durch die als „Metro"
bekannte Untergrundbahn bewältigt. Diese
kann auf ihren unterirdischen Strecken sehr
hohe Geschwindigkeiten entwickeln, ohne andere
Fahrzeuge zu stören oder selbst gestört zu wer»
den. Wir konnten dies bemerken, als wir zu
unseren Bekannten in verschiedene Vororte
fuhren.
Die Freunde hatten es vor einigen Jahren
nicht leicht, eine geeignete Wohnung zu finden.
Auch in Paris herrscht Wohnungsnot, obwohl
mir nur wenige Häuser in den Außenbezirken
als zerstört bezeichnet wurden. Die deutsche
Kolonie hat wieder eine nennenswerte Größe
erreicht. Die deutschen Kinder besuchen häufig
französische Privatschulen. Schon nach den
ersten deutschen Lauten im Kreise der Freunde
wird es uns ganz heimatlich zumute. Wir er»
leben bei ihnen sehr anregende Nachmittage.
Und dann lockt der Eiffelturm. Hier führt uns
der Fahrstuhl in das zweite der drei Stock»
werke. An der Brüstung ist zunächst einmal
die frische Windbrise ein unmittelbarer Ein»
druck für mich. Mit Hilfe der Beschreibung
kann sich das „geistige Auge" eine Vorstellung
davon machen, daß weit unter uns die Seine
fließt. In einiger Entfernung taucht der Inva»
lidendom auf, welcher die Gebeine Napoleons
birgt, und hinter diesem die Kirche Sacre Coeur
auf Montmartre mit ihrem orientalischen Stil.
Am Ostersonntag geht es mit Autobus nach
Versailles. Schon beim Aussteigen empfängt
uns lautes Stimmengewirr in allen Sprachen
der Erde. Auch deutsche Worte sind darunter.
Es stellt sich heraus, daß die Fremdenführer
ihre Erklärungen in drei Sprachen (französisch,
englisch und deutsch) vom Stapel lassen. Wir
drängen uns durch die Menschen in Richtung
einer erklärenden Stimme. Dann schiebt man
sich durch die Säle. Auf einmal stößt die Hand
auf eine spiegelglatte Fläche. „Sollte das . .
Tatsächlich! Im nächsten Augenblick wird er»
Erst als die Firma Siemens für ihn einen
Spezialfernsprecher baute, konnte der kriegs-
blinde Ohnhänder Günter Schirmer aus Ber-
lin eine Anstellung finden, und zwar als Aus-
kunftsangestellter in einer Berliner Behörde.
Das Gerät ist nur ein mit wenig eh Zusatzteilen
ergänztes Zugtelefon, d. h.. an Stelle der
Wählscheibe werden die Nummern durch zwei
kleine Hebel gezogen, der rechte Hebeh für
die geraden, der linke für die ungeraden Zah-
len; hier erfolgt also ein Einrasten bzw. ein
spürbarer Widerstand bei den Ziffern 1, 3, 5
usw. Der große Hebel, den Günter Schirmer
gerade nach vorn wirft, ersetzt das Auflegen
des Hörers.
120
Im Gegensatz zu der Mehrzahl der sehenden
Telefonisten erhält ein kriegsblinder Tele-
fonist eine umfassende, praktische und theo-
retische Ausbildung Er kennt genau sein Ge-
rät. weiß, wie es funktioniert und wo Feh-
lerquellen stecken können, ln den Schulungs-
stätten für blinde Telefonisten befindet sich
vielseitiges Unterrichtsmaterial, zum Teil in
der Art abtastbarer Zeichnungen. Foto: Monil
klärt, daß wir uns in dem bekannten Spiegel=
Saal befinden, der 1871 und 1919 in der Ge=
schichte unseres Volkes eine so einschneidende
Rolle gespielt hat.
Am Abend stehen wir am Sternenplatz. Die
12 Straßen, die dort von allen Seiten her ein=
münden, geben ihm die Form eines Sternes. In
der Mitte des riesigen Platzes befindet sich der
Triumphbogen mit dem Grabmal des Un=
bekannten Soldaten. Auch hier kann man sich
die beschwingte Höhe des Bogens und das
Grabmal plastisch vorstelien. Nicht anders ist
es in der gigantischen Kathedrale von „Notre
Dame". Der besondere Schallton der Schritte
läßt das grandiose Gewölbe erkennen. Die Luft
ist von zartem, feinem Weihrauchduft erfüllt.
Einen Gang zum Place de la Concorde mit
dem Obelisk im ägyptischen Baustil und zum
Quartier Latin, dem Zentrum des geistigen
Lebens von Paris, lassen wir uns natürlich auch
nicht nehmen.
Jetzt werden sich manche fragen: Und das
Pariser Nachtleben? Leider muß ich entgegnen:
Die bekanntesten Lokale (Folies Bergeres,
Casino de Paris, Moulin Rouge und andere)
waren an den Ostertagen so überfüllt, daß ein
Besuch zwecklos gewesen wäre. Aber das
nächste Mal . . . Und schließlich kann man den
typischen Pariser Bürger leichter beim Gespräch
in einem kleinen Lokal bei einem gemütlichen
Glas Beaujolais kennenlernen als in einem
internationalen Nachtlokal.
Eines möchte ich noch besonders hervorheben:
Auch wir Blinden können in Paris bleibende
Eindrücke gewinnen, die unser Leben ver=
schönem helfen. Wichtig ist natürlich eine Be»
gleitperson, die ganz auf uns eingestellt ist.
Und nicht zu vergessen: Einige französische
Sprachkenntnisse sind natürlich recht nützlich;
schließlich müssen wir ja im wesentlichen
hörend die Umwelt aufnehmen, und wenn
man nicht verstehen kann, was man hört, und
wenn man nicht fragen kann, so ist man gegen»
über den sehenden Touristen sehr im Nachteil.
Aber das, vvas man die Pariser „Atmosphäre"
nennt, das spürt man, auch ohne Sprachkennt»
nisse und ohne Sehvermögen. Man spürt es mit
Organen, die bei uns Blinden intakt geblieben,
ja — wie man uns wenigstens nachsagt — sogar
feiner ausgebildet sind als bei Sehenden.
Jedenfalls- — ich habe Paris, wenn audi auf
meine Art, vollauf erlebt. Dr. Kurt Wintterlin
Die Lippen sind sein Tastorgan geworden,
seit er keine Hände mehr hat. Hugo Brenner,
einer der 200 kriegsblinden Ohnhänder und
deren Sprecher, begutachtet mit Hilfe der
Lippen ein neues amerikanisches Arbeits-
gerät für Ohnhänder. den „Hook“, während
ihm Frau Käthe das Gerät gleichzeitig be-
schreibt. Hugo Brenner ist Fachmann. Trotz
seiner so schweren Verwundungen entwik-
kelte er mehrere Hilfsgeräte für Ohnhänder.
Seine Erfindungen sind durch fünf Patente
und 42 Gebrauchsmuster geschützt.
Foto: Fruhner
121
Eij^e Ehegeschichte von Paul Anton Keller
Der Uhrmacher Fidelis von Schmidt stand
mit einem recht grämlichen Gesicht in der
Werkstatt und feilte an einem Zahnrad, das für
die große und gar wohldurchdachte Uhr zum
Schloßbergturm berechnet war. Das Maß mußte
fein abgestimmt werden, und die- Hand durfte
nicht ein kleines Zuviel die Feile ziehen, wenn
der Hebelarm, der das Schlagwerk auszulösen
hatte, mit dem Gang des Zeigers genau über»
einstimmen sollte. Meister F'delis legte indes
die Feile bald hin, die Arbeit schmeckte ihm
heute nicht; das Eisen, das er sich ansonst mit
freundschaftlicher Gewalt zu eigen machte, war
kalt, rauh und ganz und gar fremd. Dahinter
steckte nun, wie dies gemeinhin so ist, etwas
anderes; Schmidt stellte sich ans Fenster,
drückte die Stirn gegen die kühle Eisenstange,
die über den Bleistreifen lief, und gedachte in
heimlichem Groll, der indes mit einer Art seit»
sam rührseliger Wehmut vermischt war und
so eine sonderbare, aber recht nichtige Art des
Unwillens wach erhielt, seines Eheweibs Felici»
tas.
Ja, die Weiber! Es ist ein Kreuz mit ihnen,
sagte er vor sich hin, sah sein Eheweib durch
den Garten gehen und empfand wiederum den
lastenden Schatten im Gemüte, den Zorn, Kran»
kung und Rührseligkeit zusammengebraut
hatten. Denn sie waren seit etlichen Tagen
aufeinander schlecht zu sprechen und dies aus
einem eigentlich recht mäßigen Anlaß. Felicitas
hatte — da sich der Tag ihrer Hochzeit in einer
runden Zahl wiederholte, von deren festlicher
Erhöhung zwischen ihnen langher die Rede
gegangen war — kurze Zeit vorher die Absicht
geäußert, auf den rauschenden Glanz ihres
dunkelblauen Taftkleides eine helle Schärpe zu
geben, wogegen Fidelis, dem das Steirische
mehr im Blute lag, ein matt getöntes Band von
sehr sparsamen Farben vorschlug. Darüber
waren sie in die Rede gekommen, und obgleich
sich Fidelis nie vorher sonderlich in Weiber»
Sachen solcher Art gemengt hatte, reizte ihn
doch Felicens gespreizte Entgegnung, daß er
von der Werkstatt her eben nur für rostige
Farben schwärme, und er schlug mit scharfen
Worten zurück. Da es indessen bei ihnen nie
zu lautem und längerem Wortwechsel kam und
sie sich auch höchst selten stritten, erhoben sie
sich ehzeit vom Mittagstisch und trugen ein
jeder seinen geheimen Groll und Widerstand
mit sich fort. Was dann kam, war Schweigsam»
keit, dahinter eine grundlose schmerzliche Ent»
täuschung ihren Bohrer drehte, und zeitweise
fielen spitze Bemerkungen, die die scheinbare
Kluft noch erweiterten.
Derlei kam nicht allzuoft bei ihnen vor, denn
sie lebten gut zusammen und ergänzten ein»
ander gerade in dem richtigen Maß, so daß
eines ohne das andere gar nicht hätte leben
können Sonderlich war nur dies, daß sie beide,
wenn ein solcher Schatten über ihren Tag kam,
vollends davon überzeugt waren, dem Bunde
sei nunmehr eine schreckliche und nie wieder
zu löschende Enttäuschung widerfahren. Bis
dann eben eine neue Begebenheit alles wie
einen losen Geistertanz verwehte und der alte
Tag in unverminderter Glorie erstrahlte.
Diesmal aber empfand der Großuhrmacher
das innere Übel härter und lastender; denn der
Jubeltag der Vermählung war ohne festlichen
Glanz, ja eigentlich recht böse vorübergegangen.
Nach einem kurzen, etwas kühlen Glückwunsch»
grüß hatte es nicht an verletzenden Blicken
gefehlt. Das Taftkleid hing indes unverändert
im großen Schrank, wiewohl Felicitas im stillen
dachte, daß ein getöntes Band auch nicht ohne
wäre, und obschon er empfand, daß es ja
schließlich auf die Frau und nicht auf das Band
122
ankäme und somit gegen ein helles gar nichts
einzuwenden sei. Aber all diese Überlegungen
blieben im Innern, und die Grillen spannen sich
weiter, obgleich jedes eine stille Sehnsucht nach
der alten Übereinstimmung hegte. So sah denn
Fidelis im geheimen Groll, dem aber schon ein
Zögern Vorstand, durch die Scheiben in den
Garten, wo Felicitas die Blumenstöcke in neue,
bunt glasierte Töpfe tat, die ihnen ein Vetter
aus Kärnten eigens gemacht hatte. Wie sie nun
vor dem Rabattlein mit der schönen, lang schon
abgeblühten Akelei stand, mußte sie doch noch
eine wunderlich späte Nachzüglerin der voran»
gefallenen Blüten entdeckt haben, denn sie hob,
wie man dies bei Blumen unbedacht oft macht,
und obschon die Akelei keinerlei Duft an sich
hat, den Stock hoch und beugte das Gesicht
darüber hin. Und so, wie sie nun stand, das
braune, ein wenig müde, verschlossene Gesicht
der Blume anheimgegeben, das Haupt geneigt,
daß der wohlgeformte Nacken als ein sanfter
und schöner Hügel in das Ebenmaß des Rückens
verfloß, hatte Meister Fidelis sie vor langen
Jahren zum erstenmal gesehen und das Bild
seither unverlierbar im Gedächtnis behalten.
Die wunderliche Wiederholung dieses Bildes
berührte ihn nun nach den Tagen kleinlicher
Fremdheit herznah und mit einer unversehens
ansteigenden Wärme und Erleuchtung. Denn, so
sagte es in ihm, die dort unten steht, ist jetzt
und immer die, die du kennst. Das befiel ihn
wie Scham, und er verstand plötzlich den un=
sinnigen Irrtum, der ihn und sein Weib befallen
hatte, über den kleinen Dingen der großen zu
vergessen. Wie so Menschen, die allstund bei«
sammen sind, in Gezänke fallen, weil eines dem
andern die Widerhärchen ausreißen will, die
doch jedes an sich selber hat, und dabei vergißt,
daß der Mensch nicht alle Tage die Macht hat,
aus sich das Außerordentliche zu wirken, und
daß hinterher mancherlei Irrtum und Fall mög»
lieh ist — bei allen und jedem.
Oh, dachte Fidelis erregt, ist das nit ein arg
dummes Ding, daß wir uns jetzund in den
Haaren liegen, weiß doch jedes, wenn's zum
Ernsten kommt, zur Not, steht eins fest für
das andere ein. Schon dies Wissen, sollt man
meinen, ist gut genug, ein schlecht gesagtes
Wörtlein des andern zu verzeihen. Ach, daß wir
im Verlangen immer größer sind als im Ge=
währen! Wer das Leben des andern mit dem
kleinen Finger mißt, umspannt es nicht vom
Anfang bis zum Tod, und zum Gipfel kommt
nicht, wer am Weg die Steinchen zählt.
Also fröhlicher denkend, stieß er mit herz»
lichem Mut gegen sein Selbst die Fensterflügel
auf, steckte den Kopf ins Freie und fragte
freundlich, ob sie denn wahrlich noch eine
blühende Akelei gefunden? Da sah sie über»
rascht zu ihm hinauf, alsbald strahlte ein
Lächeln über ihr Gesicht, sie nickte erfreut ein
Ja, und im Handumdrehen war jeder Schatten
verschwunden. Sie redeten ein wenig über Zeit
und Wetter und den schönen Tag, und er sagte
später, ein Band, so hellblau wie die Akelei,
könnte auch schön sein, doch Felicitas erwiderte,
sie hätte sich besonnen, es wäre getönt wahrlich
schöner und fraulicher. So dachten sie hin und
her, bis sie des Bandes vergaßen und nur mehr
der inneren Fröhlichkeit frönten, der alten
Sonne, die heiter durch die Wolken schien.
sofort gebrauchsfertig,
schützt die Wunde vor
Verunreinigung und
wirkt
t
bUUsUlUntt
heilungförfUrntt
123
Hier zu kaufen, ist Ehrensache!
'Wo bestelle ich Bürsten- und Besenwaren?
Dieses Schutzzeichen finden Sie auf jedem
Stück echter Blindenware. Es schützt Sie und
uns vor Schwindlern. Auch auf dem Vertreter-
ausweis finden Sie es.
Ob Haushalt, ob Firma oder Behörde,
es ist Ehrensache,
daß Sie die Waren der kriegsblinden Hand=
Werker kaufen. Alle erdenklichen Bürsten= und
Besenwaren sind von den Kriegsblinden»
Arbeitsgemeinschaften zu haben.
Und es ist wirkliche Qualitätsarbeit, echte
Handwerksleistung!
Weit mehr als 2000 kriegsblinde Handwer»
ker möchten arbeiten, aber sie können es nur
für wenige Stunden in der Woche, weil der
Absatz ihrer Waren so schwierig geworden ist.
Untätigsein bedeutet aber für den Kriegsblin»
den Verzweiflung.
Helfen Sie!
Sobald Sie auch nur geringen Bedarf haben,
schreiben Sie eine Postkarte an die für Ihr
Gebiet zuständige Kriegsblinden=Arbeitsfür=
sorge. Hier sind einige Anschriften:
Bayerische Kriegsblindenarbeitsfürsorge,
gern. G. m. bl H., M ü n c h e n 2,
Baudrexeistraße 2, Tel. 5 10 20
Zweigniederlassungen ;
Bayreuth, Kanzleistr. 7, Tel. 31 38
Würzburg, Erthalstr. 3, Tel. 82 72
Au g s b u r g, Jesuitengasse 14, Tel. 5794
Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft
für Württemberg und Baden
Stuttgart, Hermannstraße 13
Kriegsblinden-Handwerker-Fürsorge
Nordrhein-Westfalen, Gemeinnützige
Gesellschaft m. b. H., Dortmund-
Marten, Bärenbruch 25
Kriegshlinden-Arbeitsgemeinschaft
für Südbaden
F r e i b u r g i. Br., Zasiusstraße
Kriegsblinden- Arbeitsfürsorge
Rheinland-Pfalz
Kruft bei Andernach, Reichsstr. 5
Kriegsblinden- Arbeitsgemeinschaft Hessen
Kassel, Ludwig-Mond-Straße 3514
Nieder sächsische Kriegsblinden-
Arbeitsfürsorge
Braunschweig, Broitzemer Str. 230
Ausiieferungslager Bremen:
Bremen. Seebergerstraße 14
„St. Georg“ Gern. Arbeitsgemeinschaft
der Erblindeten
Hamburg-Bahrenfeld, Theodor-
straße 41
Kriegsblinden- Arbeitsgem.Groß-BerlinE.V.
Berlin-Schmargendorf,
Heiligendammer Straße 16
Lassen Sie sich nicht von Schwindellirmen
und deren Vertretern überreden, die fälsch-
licherweise behaupten, Blindenware zu ver-
treiben. (40 871/41 006/41 008)
Das Mattenflechten ist eine Arbeit, die nicht
nur Geschick, sondern auch Kraft erfordert.
Trotzdem gibt es unter den Kriegsblinden auch
Mattenflechter, die wie dieser Kamerad aus
Württemberg nur eine Hand haben. Sogar
Ohnhänder sind als Mattenflechter tätig.
124
Freundlicher Alltag am Werktisch
Ein kriegsblinder Bürstenmacher erzählt
Schon manches hatte ich in meinem Leben
lernen müssen, und nun ging es nach meiner
Erblindung mit 50 Jahren noch einmal in die
Lehre. In einer Werkstätte in Münster wurde
ich als Bürstenmacher ausgebildet, und zu
Hause bekam ich dann auch bald eine feine
Werkbank mit Bündelabteilmaschine, Bank=
schere und dem nötigen Kleingerät. Den Willen
und den Mut zur Arbeit hatte ich, und so ver=
suchte ich, die mir von der Kriegsblinden=
Handwerker=Fürsorge zugeteilte Arbeit nach
besten Kräften auszuführen. Mein Glaube,
etwas zu können, geriet alrer mächtig ins Wan»
ken, als meine ersten abgelieferten
Besen beanstandet wurden. Durch
genaue Kontrolle meiner Arbeit
wurden auch schnell die letzten
Fehler beseitigt.
Das Arbeiten mit der Bündel»
abteilmaschine — sie hält gebün»
delt die kleinen Faserportionen zum
Einziehen in die Löcher bereit — ,
das machte mir erst einige Schwie»
rigkeiten. Wohl ließen sich bei allen
kurzen und bei langen dünnen Fa»
sern die Bündel leicht der Maschine
entnehmen, aber Kokos zeigte ^ich
immer widerspenstig. Nachdem ich
aber mit der Maschine und dem
Material richtig vertraut war,
mochte ich dieses wirklich gute
Hilfsmittel nicht mehr missen. Und
nun führte ich jed.^n Auftrag, gleich
welcher Art, gerne aus.
So ganz einseitig, wie vielleicht
mancher glauben möchte, ist die
Arbeit nämlich nicht. Sicher sind es
immer dieselben Handgriffe, die
sich beim Einziehen der Bündel
immer und immer wiederholen,
aber die Art der Hölzer und des
Einzugsmaterials wechseln doch oft.
Da sind zu arbeiten: Straßenbesen,
Kokosbesen groß und klein, Zim»
merbesen aus feinem Roßhaar oder
Kunstfaser, Handfeger, Schrubber,
Wischer, Kardätschen, Abseif», Tep=
pich», Kleider», Schuh», Klosett»,
Nagelbürsten usw. Die Hölzer und
das zu verarbeitende Material wer»
den mir von der Kriegsblinden»
Handwerker=Fürsorge mit einer Ar»
beitsanweisung per Auto ins Haus
gebracht. Wenn ich dann so ein
Holz zur Hand nehme und die Lö»
eher zähle, weiß ich gleich, wieviel
ich von dieser Sorte an einem Tage
bewältigen kann. Soviel Hölzer lege ich mir
dann, nachdem die Deckel entfernt und mit
dem dazugehörigen Holz gleichmäßig gekenn»
zeichnet worden sind, jeden Abend auf meiner
Werkbank zurecht. Dann kann ich morgens um
sechs Uhr gleich mit der Arbeit beginnen.
Sollte es aber mal mit dem Schlaf nicht recht
klappen oder habe ich einen eiligen Auftrag,
so stehe ich auch wohl um vier Uhr auf. Da
niemand durch meine Früharbeit gestört wird,
kann ich das machen. Zuerst wird die Bündel»
abteilmaschine mit dem richtigen Material ge»
füllt, und dann werden wie am laufenden Band
Die Narbe in der Stirn zeugt von einer schweren Ver-
wundung. Wer von uns würde es nicht verstehen, wenn
Ernst Röhn entmutigt zusammengebrochen wäre und sein
Dasein verfluchen würde! Er verlor außer dem Augen-
licht auch das Gehör und lebt also in einer Welt der
Dunkelheit und des Schweigens. Ernst Röhn aber, ein ker-
niger Pommer, blieb stark. Er packte sein Leben wieder
an und arbeitet jetzt in Alzey als Bürstenmacher. Er
liefert ganz hochwertige Ware, wie die Kriegsblinden-
Arbeitsfürsorge von Rheinland-Pfalz sagt. Das ist sein
Stolz. Übrigens sehen wir vor ihm auf dem Tisch die
„Bündelabteilmaschine“, wie sie jeder kriegsblinde Bür-
stenmacher benutzt, eine Maschine, die durch Pedal-
antrieb jeweils ein Borstenbündel für den Einzug in die
Löcher des Bürstenholzes abteilt. Ganz im Vordergrund
die Bankschere zum Glattsc'' neiden der Ware.
Foto: Zollitsch
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Bündel eingezogen. Dann und wann ein Griff
nach der Uhr und ich kann feststellen, was ich
in einer Stunde geschafft habe.
Kommt Muttern dann um sieben Uhr mit
dem Kaffee und der Morgenzeitung, ist sie oft
Dieser Herr links machte es richtig: Als er
einen Blinden bemerkte, der die Straße über-
queren wollte, sprach er ihn zuvor an, ehe
er ihn berührte. Wir Kriegsblinden sind immer
wieder auf die Hilfe sehender Menschen an-
gewiesen, aber allzu leicht hält man uns des-
wegen für krank, gebrechlich oder gar für
dumm. So sind wir besonders dankbar, wenn
uns Helfer begegnen, die mit Selbstverständ-
lichkeit helfen und nicht mit größerem Auf-
wand, als es nötig ist. Foto: Stoike
ganz erstaunt, wie fleißig der Junge schon war.
Während der Arbeitszeit gibt es auch wohl
kleine Unterbrechungen, ich höre die Nach»
richten, der Briefträger bringt mir Post, oder
meine fertige Arbeit wird abgeholt oder neues
Material gebracht. Und so merke ich, daß ich
doch nicht, wie es manchmal scheint, einsam
und verlassen arbeite, sondern lebendige Ver=
bindung zur Gemeinschaft habe.
Das gewohnte und auch wohlverdiente Mit»
tagsschläfchen nach dem Essen bringt neue
Stärkung für die Nachmittagsarbeit. Um fünf
Uhr bin ich gewöhnlich mit meinem Arbeits»
Pensum fertig. Wenn die Besen dann gekämmt
und genagelt sind, lasse ich sie nochmal einzeln
durch die Hand gehen, und wenn ich dann
fühle, daß es eine saubere Arbeit ist, kann ich
frohgemut sagen: „Feierabend"!
Ist der ganze Auftrag fertig, schicke ich der
Kriegsblinden = Handwerker » Fürsorge meine
Rechnung, die Ware wird abgeholt und ein
paar Tage später erscheint mit fast fahrplan»
mäßiger Pünktlichkeit der Geldbriefträger.
Nach Feierabend wird fast immer noch etwas
gelesen, und darum achte ich bei der Arbeit
darauf, daß ich den linken Zeigefinger, mit
dem ich die Punktschrift abtaste, möglichst
schone.
Mit dem Dichter kann ich also singen;
Freund, ich bin zufrieden,
geh' es wie es will.
Unter meinem Dache
leb ich froh und still.
Mancher Tor hat alles,
was sein Herz begehrt.
Doch ich bin zufrieden,
das ist Goldes wert.
Theodor Weißmann
Omnibusse
OmnibuS'Anhänger
Lkw.- und Kipp-Anhänger
Gespannwagen
Motorroller
Lastenroller
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Spezialfahrzeuge
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126
Gut gemeint, aber falsch
Einige der üblidien Hilfeleistungen, die wir Kriegsblinden gern entbehren
Wir Kriegsblinden haben alle schon die Hilfs=
bereitschaft der sehenden Mitmenschen erfahr
ren, und in den meisten Fällen haben wir die
gebotene Hilfe gern und dankbar angenom»
men. Doch nicht selten kommt es auch vor,
daß wir gerade dadurch in Verlegenheit ge=
raten, daß uns zuviel oder falsche Hilfe ge=
leistet wird. Häufig kann man nicht rechtzeitig
solch einen Dienst dankend ablehnen, und
wenn man es tut, dann verursacht dies oft bei
dem Helfenden, der es ja nur gut meint, eine
ganz ungewollte Verstimmung. „Am besten,
man hilft überhaupt niemandem mehr!" hörte
ich zum Beispiel in solch einem Fall einen Herrn
ärgerlich sagen, und meistens ist weder die
Zeit noch die Gelegenheit da, um das Mißver»
ständnis an Ort und Stelle aufzuklären. — So
möchte ich denn im folgenden zu zeigen ver»
suchen, was ein Außenstehender beachten
sollte, wenn er einem Blinden wirklich helfen
möchte.
Man knöpft uns sogar den Mantel zu
Als erste Regel kann gelten; Hilf nur da,
wo dies nötig ist, das heißt, wo der Blinde
allein sein Vorhaben gar nicht oder nur mit
unverhältnismäßig großer Anstrengung oder
Gefahr ausführen könnte. Dies ist zum Bei-
spiel der Fall, wenn ein Blinder allein eine
belebte Straße überqueren will, oder wenn ihm
ein kleiner oder flacher Gegenstand auf den
Boden gefallen ist. Dagegen ist es durchaus un-
angebracht, wenn uns jemand zum Beispiel
beim Zuknöpfen des Mantels helfen möchte.
Und es ist auch nicht verwunderlich, wenn wir
solch eine Hilfe, so gut sie auch gemeint sein
mag, gar nicht gern haben, denn da wir leider
öfter einmal auf die Hilfe anderer angewiesen
sind, legen wir um so mehr Wert darauf, daß
wir die Dinge, die wir gut allein tun können,
auch wirklich selber ausführen, und das Zutun
ÄLTESTE
DEUTSCHE BRUYEREPFEIFENFABRIK
gegründet 1848
VAUEN KG.
NÜRNBERG
von anderen erscheint uns dabei nicht etwa als
Hilfe, sondern eher als eine lästige Unter-
schätzung unserer Fähigkeiten.
In ähnlicher Weise ist es mir — und sicher
auch meinen Kameraden — gar nicht angenehm,
wenn mich jemand beim Hinsetzen auf den
Stuhl niederzudrücken versucht oder mich beim
Aufstehen am Arm hochziehen will, oder wenn
mir jemand am gedeckten Tisch das Besteck
in die Hand drückt. Es ist ja auch für einen
Blinden nicht schwer, das neben dem Teller
liegende Eßbesteck zu finden; und wenn er
wirklich eine Sekunde lang danach suchend
tastet, was macht das?
Man mag es für belanglose Kleinigkeiten
halten, doch es ist nun einmal so: ein Blinder
fühlt sich am wohlsten, nicht wenn er mög-
lichst viel, sondern wenn er möglichst wenig
Oh, dieses Aussteigen aus der Straßenbahn!
So stöhnen viele Kriegsblinde, und sie meinen
damit die übereifrigen Helfer, die einen ge-
radezu hinaustragen, wobei man oft auf die
merkwürdigste Weise die Glieder verrenkt
bekommt. Es geht auch so, es geht sogar ganz
ohne Hilfe, wenn dem Kriegsblinden nur der
richtige Griff zum Aussteigen gezeigt wird.
Die Frauen unserer Kriegsblinden wissen Be-
scheid. Viele von ihnen bringen, wie auch
unser Bild zeigt, den Mann morgens zur
Arbeitsstätte und holen ihn abends wieder ab.
Eine erhebliche zeitliche Belastung, zumal für
Mütter mit kleinen Kindern. Foto; Bartl
127
bedient wird. So wird mir aucli, nachdem ich
auf meiner Blindenuhr die Zeit festgestellt habe,
von gerade anwesenden Leuten die Uhrzeit
noch einmal mitgeteilt. Wie fühlt sich wohl
ein Sehender, der nach einem Blick auf seine
Uhr die Zeit auch noch von anderen gesagt be=
kommt? Als Blinder fühlt man sich ganz
genau so!
Immer zuerst anspredienl
Ein weiterer wichtiger Punkt: Sprich einen
Blinden zuerst an, bevor du ihm Hilfe leistest!
Bei einiger Überlegung ist dies selbstverständ»
lieh, denn welchem Sehenden würde es wohl
gefallen, wenn er in einem stockdunklen Raum
plötzlich ohne eine Ankündigung von einer
Hand gepackt würde? Daß dies unangenehm
ist, hat sicher gar nichts mit Gruseln oder
Furcht vor einem Überfall zu tun, sondern ist
ganz natürlich; und es ist auch verständlich.
daß ein Blinder, der sich ja beim Alleingehen
besonders konzentrieren muß, bei einer un=
angekündigten Hilfeleistung noch leichter er=
schrickt, zumal er ja weit berührungsempfind»
lieber ist als ein Sehender.
Aus dem gleichen Grunde ist es uns auch
nicht angenehm, wenn man uns bei jedem
noch so leichten Zusammenstoß packt und fest»
hält. Wir würden auch sonst nicht gleich um»
fallen, doch erschrecken wir durch das Gepackt»
werden noch ein zweites Mal!
Das Beispiel der Türklinke
Manchmal zeigt es sich auch, daß ein Dienst
der Höflichkeit für einen Blinden keine Hilfe,
sondern eher das Gegenteil bedeutet. Wenn ich
nämlich beim Verlassen eines mir bekannten
Lokals die Hand nach der Türklinke ausstrecke
und die Tür wird im gleichen Augenblick ge»
öffnet, so gehe ich, um nicht unliebsame Be»
kanntschaft mit der Tür zu machen,
schnell ein paar Schritte zurück,
denn ich nehme an, daß jemand
von draußen herein will. Ich kann
ja nicht wissen, daß die Tür gerade
für mich geöffnet wurde. Aber
selbst wenn man mir dies vorher
sagt, ist es für mich schwieriger,
mich an der geöffneten Tür zu
orientieren, da ich nicht weiß, wie
weit sie aufgemacht wurde bzw. in
welchem Winkel sie zum Ausgang
steht. Richtig wäre es, wenn man
mich entweder gleich von meinem
Platz aus hinausführt oder wenn
man, falls ich den Ausgang nicht
selber gleich finde, meine Hand an
die Klinke der geschlossenen Tür
führt.
Als ob wir schwach und gebrechlich
wären
Zum Schluß möchte ich noch
einen Fehler erwähnen, der beson»
ders häufig gemacht wird. Er be»
steht darin, daß man einem Blin»
den in derselben Weise Hilfe leisten
möchte wie einem alten, schwachen
Menschen, der sich auf seine Glied»
maßen nicht mehr verlassen kann.
Natürlich gibt es auch alte und ge»
brechliche Blinde, doch werden
diese sicher nicht mehr ohne eine
ständige Begleitung ausgehen. So
ist es weder notwendig noch ange»
nehm, wenn man uns das Ersteigen
eines Bürgersteiges oder von Stu»
fen durch Heben oder Ziehen er»
leichtern möchte.
Besonders deutlich wird die
falsche Hilfeleistung beim Aus»
und Einsteigen in ein Verkehrs»
mittel, zum Beispiel in die Straßen»
bahn.
Ein Kriegshlinder auf dem Schusterschemel — auch das
gibt es! Unser Kamerad Dahrowski aus Sulingen bei
Bremen war vor seiner Erblindung Schuhmacher und
blieb seinem Beruf treu. Seit 32 Jahren ist er nun als
Kriegsblinder in einer großen Schuhfabrik tätig. „Meine
Tätigkeit“, so erzählt er, „besteht darin, daß ich die
Schuhe von innen austexe, also innen die Nägel und
Klammern abkneife und glatt raspele.“ — Übrigens be-
treibt in Württemberg ein kriegsblinder Schuhmacher
zur Zufriedenheit seiner Kunden eine eigene Werkstatt.
128
Häufig suchen da der Schaffner und einige Mit=
reisende den Blinden mit vereinten Kräften
hinein= oder hinauszubugsieren. Ganz abge»
sehen davon, daß der Blinde sich auf das um
gleichmäßige Ziehen und Schieben gar nicht
verlassen kann, und daß er sich leicht an den
Stufen und Seitenwänden stößt, ist es für ihn
ein wirklich deprimierendes Gefühl, mit solch
einem Aufwand von Kraft und Hilfsbereit-
schaft verladen zu werden. Und vor allem: dies
ist auch gar nicht nötig. Es fällt ja dem Blinden
durchaus nicht schwer, die Stufen der Straßem
bahn zu ersteigen, wenn er weiß, wo sie sind;
was ihm fehlt, ist ja nicht Kraft, sondern
Orientierung. Man braucht nur die Hand des
Blinden an den Griff oder die Seitenwand zu
führen, und er wird leicht und unauffällig ohne
weitere Hilfe ein= und aussteigen.
Die beste Hilfe ist nämlich diejenige, die
unter Vermeidung allen unnötigen Aufsehens
das Selbstbewußtsein des Blinden nicht ver=
letzt und sich auf das den Umständen nach er-
forderliche Maß beschränkt.
Georg Marschewski
Eine russische Phosphorgranate nahm dem
damals 18jährigen Alfred Schropp das Augen-
licht und den linken Unterarm. Malermeister
hatte er werden wollen, nun saß er daheim
und machte Heimarbeitsversuche. Heute sagt
er: „Ich mußte weg von zu Hause; ohne
regelmäßige Arbeit und ohne Kontakt mit ge-
sunden Menschen wäre ich stumpfsinnig ge-
worden.“ Jetzt ist er in der Kontrollabteilung
einer Firma in Neckarsulm tätig. Er mißt
Kolbenzubehörteile. Der Chef der Eingangs-
kontrolle meint, es gebe unter Gesunden sel-
ten so arbeitswillige, präzise und schnell
schaffende Männer. Foto: Stuttgarter Zeitung
Die Arbeiter am Hochofen brauchen feste
Lederhandschuhe. Die Dortmund- Hör der Hüt-
ten-Union läßt diese Handschuhe durch einen
Kriegsblinden an einer Nähmaschine, die mit
einer Blindeneinrichtung versehen ist, nähen.
Ewald Weber, den unser Bild als fleißigen
Näher zeigt, erzählt in seinem kleinen Bericht
von dieser und von anderen Arbeiten, mit
denen er in dem großen Werk betraut wird.
Vom Hilfsarbeiter
zum Ankerwidzler
Was ein Industriearbeiter erzählt
Jeden Morgen gegen fünf Uhr verlasse ich
meine Wohnung, um mit meiner treuen Uschi
zu meiner Arbeitsstelle bei der Dortmund-
Hörder Hütten=Union zu gehen. Am Werkstor
tverde ich von einem Arbeitskollegen in Emp-
fang genommen und über das Werksgelände
zu meinem Arbeitsplatz geführt. Meine treue
Uschi trottet brav nebenher. Nach der üblichen
Morgenbegrüßung, die teils freundlich oder
auch gar nicht erwidert wird, gehe ich an meine
Arbeit. Vor mir liegen eine Anzahl Holzschuhe,
die mit Lederplättchen versehen werden sollen.
Doch bevor ich mit dem Aufnageln der Plätt-
chen beginne, zünde ich mir ein Pfeifchen an,
denn mit Dampf geht die Arbeit besser. Der
Kollege nebenan erzählt mit Erbitterung von
seinem Fußballverein, der am letzten Sonntag
wieder verloren hat. Und so läuft die Arbeit
munter fort.
Bei der ganzen Nagelei kommt es darauf an.
früh genug den Finger fortzuziehen, wenn man
9
12g
mit dem Hammer zuschlägt. Böse Menschen
behaupten, wenn der Finger des öfteren ge»
troffen wird, gewöhne er sich daran. Nach
einigen Stunden habe ich all die Holzschuhe
mit Leder benagelt und gehe an den Werktisch,
um Metallrollen anzufertigen, die für die
Elektroabteilung bestimmt sind. Wenn auch
zu Anfang die schmalen Metallstreifen noch
nicht formgerecht aussehen, so bekommt man
doch mit der Zeit Übung in der Anfertigung
dieser Metallrollen, und das Gesicht des Mei»
Sters strahlt ob der schönen Rollen.
Das Handschuhnähen hatte für mich einen
besonderen Reiz. Die große Nähmaschine mit
einer Blindeneinrichtung war für mich von be-
sonderem Interesse. Auf einem großen Eisen»
werk werden für die Arbeiter am Hochofen
und auch in sonstigen Abteilungen feste Leder-
handschuhe benötigt. Ich setzte meinen Stolz
daran, genau so sicher und so schnell wie meine
sehenden Kollegen diese Handschuhe anzufer-
tigen. Es war eine interessante Arbeit. Meine
Arbeitskameraden verfolgten meine Arbeit mit
Spannung, und nach kurzer Zeit stand ich
ihnen in der Anfertigung von Handschuhen in
keiner Weise nach.
Schon immer hatte ich den Wunsch gehabt,
in der Elektroabteilung als Ankerwickler be-
schäftigt zu werden. Nach Abgang eines Kame-
raden ging mein Wunsch in Erfüllung. Ich
lernte die verschiedenen Arbeitsgänge kennen,
wie Stäbe kratzen, richten, isolieren, kleben
usw. Für diese Beschäftigung hatte ich ein be-
sonderes Interesse, und ich war bemüht, mir
alle Techniken bald anzueignen, um auf mei-
nem neuen Arbeitsplatz vollwertige Arbeit zu
leisten.
Die Werkstätten bei der Dortmund-Hörder
Hütten-Union sind vorbildlich eingerichtet.
Die Wasch-, Bade- und Umkleideräume sind
hell und sauber, so daß man vom Fußboden
essen könnte. Samstags morgens können wir
schon zum Baden gehen.
Das Verhältnis zu meinen sehenden Kollegen
ist das denkbar günstigste. Sie helfen mir, so
gut sie können. Gerne gehe ich zu meinem
Werk, und nach verbrachter aditstündiger
Arbeit gehe ich dann zufrieden mit meiner
Uschi heim mit dem stolzen Gefühl im Herzen,
meine Pflicht getan zu haben.
Ewald Weber
Er trägt die Sorgen von 107 Kameraden
Begegnung mit einem Bezirksvorsitzenden des Kriegsblindenbundes
„Ich habe vor vier Monaten meine Aus-
bildung als Telefonist mit einer Prüfung vor der
Oberpostdirektion mit der Note .Sehr gut' ab-
geschlossen, aber es ist kein Arbeitsplatz zu
finden . . ."
„Wie kann ich eine Erziehungsbeihilfe be-
antragen? Mein Junge soll doch jetzt das
Technikum besuchen . .
„Nachdem unsere Tochter nun 12 Jahre alt
geworden ist, werden unsere Wohnverhältnisse
immer unerträglicher ..."
Mit solchen und mannigfachen anderen Nöten
kommen die Kriegsblinden zu ihrem Kamera-
den, den sie zum Bezirksvorsitzenden ihres
Bundes gewählt haben. Sie hoffen auf Hilfe und
Rat, und meist sprechen sie nicht vergeblich vor.
Der Feierabend des Bezirksvorsitzenden gehört
den anderen. Oft kommt Abend für Abend Be-
such, oft fährt der Bezirksvorsitzende bei
Arbeitsschluß gar nicht erst nach Hause, son-
dern macht sich früher frei, um Behörden oder
Arbeitgeber aufzusuchen. Es gehört schon
einiges an Kameradschaftssinn und an Ver-
zichtenkönnen dazu, wenn man Bezirksvor-
sitzender ist.
• „Eigentlich ist es traurig, daß wir soviel Ar-
beit haben", sagte einmal einer dieser tüchtigen
Bezirksvorsitzenden, „denn acht Jahre nach
Kriegsende müßte es undenkbar sein, daß sich
ein Kriegsblinder mit Behörden um seine be-
Tagsüber ist Willi Meures als Telefonist
beim Finanzamt tätig. Er stellt nicht nur mit
Gewandtheit die gewünschten Verbindungen
her, sondern weiß auch sachkundige Aus-
künfte zu geben. Sein Feierabend aber gehört
seinen kriegsblinden Kameraden im Bezirk
Aachen, deren Vorsitzender er seit 25 Jahren
ist. Viele Kriegsblinde verdanken seiner Akti-
vität einen Arbeitsplatz, eine Wohnung oder
sonstige Hilfe aus Bedrängnis.
130
Was ist hier zu tun? Wie können wir helfen? Ein Kriegsblinder (mit Armbinde) lebt in ganz
unerträglichen Wohnverhältnissen. Mehrere Hilfsbemühungen sind schon gescheitert. Aber
die erfahrenen, leitenden Kameraden des Kriegsblindenbundes lassen nicht locker. In einer
Fürsorgeberatung des Vorstandes wird ein neuer Weg entwickelt. Der Aachener Bezirks-
vorsitzende Meures (zweiter von links) hat zu dieser Sitzung, in der mehrere komplizierte
Fälle beraten werden müssen, den ebenfalls kriegsblinden Landesverbandsvorsitzenden Otto
Jansen aus Düsseldorf (vierter von links) gebeten. Der in Not geratene Kamerad schöpft
neuen Mut. Bezeichnend ist übrigens die Anwesenheit der Frauen: sie sind die „Augen“ der
Männer, lesen Akten vor und machen rasch ein paar Notizen. Fotos (2); Forschelen
scheidenen Rechte streiten muß oder daß er von
einem Arbeitgeber mit fadenscheinigen Aus*
flüchten abgewiesen wird. Es ist traurig, daß
immer noch viele Kriegsblinde verbittert und
» ratlos zu mir kommen müssen. Eine seelische
Belastung ist ja für einen Kriegsblinden doppelt
schwer zu tragen. Da ist es gut, daß wir Kriegs*
blinden uns zu einer echten Schicksalsgemein*
Schaft zusammengefunden haben und uns
gegenseitig helfen."
Einem dieser unermüdlich für seine Karne*
raden tätigen Bezirksvorsitzenden begegneten
wir in Aachen. Die gleiche Begegnung hätte in
Würzburg, in Lübeck oder in Detmold statt*
finden können . . .
Er „wohnt" auf dem Speicher
Bezirksvorsitzender Meures will es gar nicht
glauben, was ihm da von seinem Kameraden
berichtet wird. Der Mann hatte sich für eine
Abfindungssumme ein Häuschen gekauft, aber
er kann es nicht beziehen, denn für die in dem
Hause wohnenden Mieter findet sich kein ande*
rer Wohnraum, d. h. das Wohnungsamt stellt
Ausweichmöglichkeiten nicht zur Verfügung,
weil der Eigentümer nicht am Ort ansässig ist.
Der kriegsblinde und obendrein händelose
Hauseigentümer „wohnt" zur Zeit mit seiner
Frau in einem im vierten Stock gelegenen
Speicherzimmer. Das ist für den Betroffenen
nicht nur gefährlich, sondern unzumutbar und
ungerecht. Vorsitzender Meures gibt einen er*
folg versprechenden Rat: gestützt auf § 4 des
Mieterschutzgesetzes soll der Kamerad unter
Hinweis auf seinen Eigenbedarf die Räumungs»
klage einreichen.
„Ich bin sicher, daß wir so zum Zuge kommen
werden", sagt Meures. „Das Wohnungs*
Problem", fährt er fort, „nimmt mich besonders
stark in Anspruch. Meist sind sehr langwierige
Verhandlungen nötig. Da hatte ich z. B. einen
Fall, bei dem ich monatelang kämpfen mußte,
ehe dem Kameraden geholfen werden konnte."
Aus dem Schriftwechsel mit den Behörden, den
uns der Vorsitzende zeigt, entnehmen wir, wie
es schließlich gelang, das zur Wohnung eines
Kriegsblinden mit kranker Frau und vier Kin*
dem gehörende und für einen Untermieter be*
schlagnahmte Zimmer wieder freizubekommen.
Hauptsorge: die Arbeitsplätze
107 Kriegsblinde hat der Bezirksvorsitzende
Meures zu betreuen, übrigens ehrenamtlich, wie
überhaupt die Mitarbeiter des Bundes der
' Kriegsblinden ehrenamtlich tätig sind. Da
sind Anträge zu erledigen oder weiterzuleiten,
mit denen um Beschaffungsbeihilfen oder um
Darlehen gebeten wird, da laufen Anträge und
Anmeldungen für einen Kuraufenthalt in den
131
9
Konrad Grebe war früher Lackierer bei der Firma Henschel in Kassel. Aber er meldete
sich, 1944 in Frankreich erblindet, bei der Firma nicht zurück. „Ich wollte nicht aus Mitleid
irgendeine Arbeit zugewiesen bekommen.“ Anfangs hielt er den Beruf eines Bürstenmachers
für zweitrangig, dann aber, als er in Stuttgart einen Lehrgang mitgemacht hatte, gewann
er Freude daran, weil er hier ganz selbständig etwas schaffen kann. Beim Schachspiel zur
Feierabendzeit ist der sechzehnjährige Sohn Rolf der Gegner. Es handelt sich um ein Steck-
schach, bei dem Brett und Figuren Markierungen zum Abfühlen haben. Foto: Lfengemann
Erholungsheimen des Kriegsblindenbundes ein,
da gilt es, einen gemeinsamen Ausflug vor=
zubereiten — im Kameradenkreis fühlt sich
jeder Kriegsblinde doppelt wohl — , da gilt es,
ein Rundschreiben zusammenzustellen und ver=
vielfältigen, zu lassen, mit dem die Kameraden
mancherlei Neues erfahren, aber immer wieder
treten all diese Aufgaben zurück vor der be=
sonderen Sorge, allen noch irgendwie arbeits=
fähigen Kameraden einen angemessenen Ar=
beitsplatz zu beschaffen.
„Ich habe es immer wieder erlebt", sagt Herr
Meures, „daß arbeitslose Kriegsblinde in zer=
mürbende Grübeleien geraten und ihr Leben für
sinnlos halten. Es ist oft erschütternd, erleben
zu müssen, daß Arbeitgeber für diese seelische
Not eines Kriegsblinden nicht das geringste
Verständnis aufbringen, geschweige denn, daß
sie einem Kriegsblinden überhaupt Zutrauen,
etwas zu leisten. Sobald wir es aber endlich
erreicht haben, daß ein Kriegsblinder eingestellt
wird, sei es als Telefonist, als Industriearbeiter
oder sonst an einem vernünftigen Platz, ist die
Überraschung der Arbeitgeber immer riesen=
groß, und sie halten diesen einzelnen Kriegs^
blinden dann gleich für ein Genie, Eins ist
natürlich so töricht wie das andere. Und so
bleibt uns nichts anderes übrig, als immer wie»
der die noch zögernden Unternehmer und Be=
hördenleiter mit Geduld aufzuklären." '
In der Stadt Aachen selbst arbeiten jetzt 17
Kriegsblinde als Telefonisten, Industriearbeiter
und Masseure zur vollsten Zufriedenheit ihrer
Vorgesetzten. Jeder dieser 17 Kriegsblinden ist
ein überzeugendes Beispiel dafür, daß auch ein
Kriegsblinder, wenn er nur am richtigen Platz
eingesetzt ist, voll seinen Mann stehen kann.
Vorsitzender Meures kämpft zur Zeit darum,
für zwei weitere Kriegsblinde in Aachen einen
Arbeitsplatz zu finden. „Selbst in aussichts»
losen Fällen", so erklärt er, „lassen wir in
unseren Bemühungen nicht nach, und meist
haben wir doch noch Erfolg. Die jetzt schwe=
benden Verhandlungen lassen schon mehr und
mehr deutlich werden, daß auch diese beiden
Kameraden bald die ersehnte Arbeit aufnehmen
können. Allein diese Hoffnung hat den beiden
wieder neue Lebensfrische gegeben."
Bitterschwer und fast unlösbar scheint aller^
dings die Lage der kriegsblinden Bürstenmacher
auf dem Lande zu sein. Das sind die besonderen
132
Sorgenkinder des Bezirksvorsitzenden. Arbeits=
platze sind in den Dörfern naturgemäß nicht zu
finden, lange Anfahrten mit der Eisenbahn oder
— wie bei Sehenden — mit dem Fahrrad oder
Motorrad sind nicht dutchführbar, und eine
Umsiedlung in die Stadt scheitert teils an der
Wohnungsnot, teils verständlicherweise daran,
daß sich ein Kriegsblinder ungern aus der ihm
vertrauten heimatlichen Umwelt löst. Um den
ländlichen Bürstenmachern ein breiteres Wir»
kungsfeld zu schaffen, bemühen sich überall in
der Bundesrepublik die Bezirksvorsitzenden,
den in Städten ansässigen Bürstenmachern einen
anderen Beruf zu vermitteln. Je geringer die
Anzahl der Bürstenmacher ist, desto mehr Aut=
träge entfallen auf den einzelnen. Herr Meures
hat bis jetzt fünf von seinen Bürstenmachern
mit Hilfe des Arbeitsamtes an einen anderen
Arbeitsplatz stellen können. Der geringe Ab»
Satz an Bürstenwaren reicht oft nur für ein
Dreillnsloto
^33
paar Stunden Arbeit in der Woche und dem»
entsprechend für ein geringes Taschengeld, so
daß einer dieser Bürstenmacher in ärgste Not
geraten war. Alle Anstrengungen, ihn im Kreis
unterzubringen, schienen vergeblich zu sein.
Endlich gelang es den hartnäckigen Bemühungen
des Vorsitzenden, dem schon Verzweifelten beim
Finanzamt Aachen=Land einen Arbeitsplatz als
Telefonist zu beschaffen.
„Ein solcher Erfolg macht mir genau so viel
Freude, als ob ich selbst den Arbeitsplatz be=
kommen hätte", sagt Meures schmunzelnd.
die bei einem Anruf hervorspringen, wo sonst
kleine Lampen aufleuchten.
Aber ich, der ich das Glück habe, sehen zu
können, bewundere Herrn Meures dennoch
und mit ihm alle die vielen anderen Bezirks»
Vorsitzenden im Lande. Seit 25 Jahren ist
dieser geistig so regsame Mann im Bezirks»
Vorstand des Kriegsblindenbundes tätig, zu»
nächst als 2. Vorsitzender, bis ihn 1936 das
Vertrauen der Mitglieder an die Spitze des
Bezirks Aachen berief. Mit dem Flüchtlings»
Strom .und mit den Kriegsblinden des zweiten
Und selber voll berufstätig
Seit nun schon 20 Jahren ist Herr Meures
selber in vorbildlicher Weise berufstätig, und
zwar als Telefonist beim Finanzamt Aachen»
Stadt. Über Mangel an Arbeit kann er sich
kaum beklagen. Ein Anruf löst den anderen ab,
und bei ao Amtsleitungen und 130 Neben»
anschlüssen muß ein Telefonist schon „auf
Draht" sein, um die Gespräche schnell und
sicher vermitteln zu können. Manche dieser Ge»
spräche werden von ihm selbst sogleich er»
ledigt, denn auf dem Fachgebiet des Finanz»
amtes kann Herr Meures, der die Prüfung als
Steuerassistent mit „Sehr gut" bestand und der
jetzt Steuersekretär ist, zuverlässige Auskünfte
geben. Im ersten Weltkrieg verlor er sein
Augenlicht, aber er gewann seinen Humor zu»
rück und ist unter seinen Kollegen angesehen
und beliebt. Viele Besucher bewundern die
exakte und fixe Bedienung seines Gerätes, aber
er wehrt solche Bewunderungen ab: „Es ist
nichts al.'i Routine, ein gutes Gedächtnis, Kon»
zentration und gründliche Kenntnisse des Be»
triebes. Und zu bewundern ist nur die tech»
nische Konstruktion dieser Anlage hier." Und
die Finger tasten über die lange Reihe der Stifte,
Als der Münchener Faschingsprim von 1953,
Prinz Paul, bei Beendigung seiner Regent-
schaft von der Presse nach dem dankbarsten
Publikum gefragt wurde, sagte er: „Das war
der Kameradenkreis der Kriegsblinden, und
zwar mit Abstand.'“ Als die Münchener Kriegs-
blinden Fasching feierten, ging es genau so
lustig zu wie bei den Sehenden und mit den
einfallsreichsten Verkleidungen. Foto: Bartl
Ein originelles Geschenk erhielt die Düsseldorfer Karnevalsprinzessin, als sie eine Karne-
valsveranstaltung des Kriegsblindenbundes besuchte, nämlich eine Bürste. Die Prinzessin
freut sich mit Recht, denn die Bürste ist feinste Kriegsblinden-Handwerksware. Übrigens:
der gesamte Elferrat bestand aus Kriegsblinden. Foto: Ballion
134
Weltkrieges vervielfachte sich seine Arbeit,
aber trotzdem ist er für jeden zu sprechen,
nimmt sich aller Fälle mit Gewissenhaftigkeit
an und gibt in regelmäßigen Versammlungen
Rechenschaft über seine Tätigkeit.
„Im Bezirk Aachen darf es keine Not mehr
unter den Kriegsblinden geben", das nennt er
sein Ziel. Es ist ihm zuzutrauen, daß er dieses
hohe Ziel erreicht, wenn wir, die Sehenden, ihm
dabei ein paar Schritte entgegengehen. (Cla)
Auf dieser seltsamen Papierschlange, die aus
der kleinen Blinden- Stenomaschine hervor-
quillt, ist eine Unzahl winziger Punkte ein-
geprägt, die von der Stenotypistin dann mit
den Fingerspitzen abgefühlt und gelesen wer-
den können. Die Maschine hat sechs Tasten
und eine Leertaste. Manche kriegsblinde
Stenotypisten erreichen eine Schreibgeschwin-
digkeit von 200 Silben in der Minute, einige
sogar 240, ja 300 Silben. Vom Papierstreifen
aus wird der Text dann sauber mit einer nor-
malen Schreibmaschine übertragen, die nur
ein paar kaum bemerkbare Hilfskennzeichen
auf der Tastatur hat. Sieglinde Brauns, die
durch den Luftkrieg ihr Augenlicht verlor,
weiß mit Stenomaschine und Schreibmaschine
so geschickt umzugehen, daß sie mit ihren
sehenden Kolleginnen durchaus Schritt halten
kann. Sie ist im Bundesbahn - Zentralamt
Minden beschäftigt, und die Anforderungen
dort sind bestimmt nicht gering. Foto: Seeger
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Wie gut haben wirs doch!
Ein Erlebnis, das — leider! — in dieser oder
jener Form nahezu alle deutschen Kriegsblinden
einmal gehabt haben, erzählt hier unser Kame=
rad Martin Bedürftig:
Zusammen mit Herrn K. sitze ich im Garten.
Wir unterhalten uns über dies und jenes und
landen schließlich beim Fußballtoto. Plötzlich
stößt Herr K. einen abgrundtiefen Seufzer aus
und meint: „Die ganze Tipperei bringt ja doch
nichts ein. Man müßte wie Sie auch kriegsblind
sein. Dann brauchte man den lieben langen Tag
nichts zu tun, o dolce far niente, und bekäme
dafür noch das schöne Geld."
Tja, da blieb mir, mit Verlaub gesagt, die
Spucke weg. Ich fragte meinen Nachbarn, ob er,
wenn so etwas möglich wäre, im Ernst mit mir
tauschen möchte. Er zögerte. Ich sagte, daß ich
auch nicht für 500, nicht für 1000 Mark im
Monat blind sein möchte. Er schien es nicht
recht zu begreifen. Es hatte keinen Zweck, mit
ihm zu reden. Er war neidisch.
Kriegsblinde werden beneidet. Nicht wegen
ihrer Glasaugen, o nein, sondern wegen der
paar Mark Rente. Merkwürdige Welt!
Sollen wir mit der Faust auf den Tisch schla=
gen? Ach, wir tun etwas Besseres: wir lachen,
oder wenigstens: wir lächeln...
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135
r Zugegeben, das Baden ist nicht immer ein
Genuiä. Es soll sogar kleine Jungen geben, die
sich mit Händen und Füßen sträuben, wenn sie
in die Badewanne gesteckt werden, es soll
starke Männer geben, die mit dem großen Zeh
erst vorsichtig prüfen, ob das Wasser des
Strandbades auch wenigstens 22 Grad warm ist,
und es soll schöne und weniger schöne Damen
geben, denen das Baden nur deshalb nicht zum
Genuß wird, weil der Haushaltungsvorstand
ihnen keinen neuen Badeanzug genehmigte.
Am allerwenigsten aber kann man von einem
„Genuß" des Badens sprechen, wenn man an
die Sole= und Moorbäder in/ den Kurorten
denkt. Sie bedeuten nämlich für den Kurgast
eine oft nicht geringe Anstrengung, verbunden
mit strengen Vorschriften und mit oft lang«
welligem Herumliegen auf Liegesofas. Merk«
würdigerweise sagt man aber in der deutschen
Sprache auch hier, daß man die Bäder in Bad X.
„genieße", obwohl von Genuß höchstens nach
einigen Wochen die Rede sein kann, dann näm=
lieh, wenn man sich wohler fühlt und kein
Zipperlein mehr spürt.
Was niemand bes|reiten kann, ist die Tat«
Sache, daß das „Bad am Samstagabend" ein
Hochgenuß ist, und zwar aus vielen Gründen:
alle Last der Woche wird abgespült, der Sonn«
tag wird begonnen, und in der Badewanne
bist du sicher vor allem Ungemach, vor Telefon
und vor Besuch und vor jeglicher Arbeit. Sonst,
etwa wenn man Zeitung liest, kann man das
unbehagliche Gefühl haben: leg die Zeitung
1^6
hunderten mit ins Feld zogen
— zum Bartscheren, also als
„Feldscherer", und zur Ver=
wundetenpflege. Die Bade=
knechte sind also die Vor=
ganger der Sanitäter. Auf der
Geselligkeit lag aber auch zur
Zeit der Griechen und Römer
das Hauptgewicht bei den
öffentlichen Badeanstalten, da=
neben auf dem Gebiet des
Sportes. In Griechenland sind
uns Schwimmbecken bekannt,
in denen sich auch Schwimme=
rinnen getummelt haben. Auch
Duschen gab es schon und
prächtige Waschräume. Diese
öffentlichen Bäder wurden
immer luxuriöser bis hin zu '
den großen Thermen der alten
Römer. Selbst auf deutschem
Boden, z. B. in Trier, zeugen
Schwimmunterricht Hon. Daumier (1808-1879) stattliche Ruinen noch heute von der großen
Bedeutung der antiken Badeanstalten.
weg! Tu was! Schreib endlich den Brief an
Tante Emmi! In der Badewanne aber bist du
sicher vor deinem Gewissen . . .
Ein richtiger Genuß ist aber das Baden, wie
es scheint, vor etlichen hundert Jahren ge=
wesen, und es ist jammerschade, wenigstens
für lebensfrohe Männer, daß die Sitten und
Gebräuche des Mittelalters heute
in Vergessenheit geraten sind.
Wenn man heute in der Bade;
wanne liegt, so ist man gänzlich
allein und verlassen und kann die
eigene gute Laune nur sich selber
mitteilen, indem man singt oder
das Badethermometer als Schiffe
chen auf tosenden Wellen schau=
kein läßt.
Damals aber pflegte man beim
Baden freundliche Geselligkeit,
und nicht einmal nur unter Män=
nern. So ein gemeinsames Früh=
stück, Badewanne neben Bade=
wanne, oder andere Kurzweil im
' Bade, das muß doch wahrhaftig
ein Vergnügen gewesen sein. Das
Abschrubben des Körpers be=
sorgten die Badeknechte, die
„Bader", die in späteren Jahr»
Auch Badezimmer in Privathäusern waren
bei vornehmen Griechen und Römern zu finden,
ja schon in den Palästen Altägyptens. Bei den
Römern hieß waschen „lavare", und das Bade»
Zimmer hieß „lavatrina". Das Wort wandelte
sich im Laufe der Jahrhunderte — man rümpfe
Honore Daumier
ho^dd^iscJUe' k/oUlcämmei^ei und
AKTIENGESELLSCHAFT
DELMENHORST
137
nicht die Nase! — zu „Latrine" Jeden früheren
Soldaten wird diese Ehrenrettung der Latrine
freuen! Künftig denkt er bei diesem Wort an
Marmor und Silber und an schöne Römerinnen,
die sich in Eselsmilch baden. Wer dagegen in
unserer Heimat im Mittelalter über ein Bade>
Zimmer verfügte, ein ganz bescheidenes und
spartanisches, der war ein reicher Mann. Es
galt als besonders ehrender Willkomm, wenn
man dem eintreffenden Gast ein warmes Bad
anbieten konnte.
Weit wasserscheuer waren die vornehmen
Europäer vor 200 und 500 Jahren. Selbst mit
dem für uns so normalen Waschen war man
höchst vorsichtig, und man zog statt des Was»
sers den Salbentopf und die Puderquaste vor.
Im Barockzeitalter wurden aber gleichzeitig die
Badereisen in Kurorte bei der vornehmen Ge»
Seilschaft sehr beliebt. Als man im Mittelalter
_die Heilquellen und ihre Wirkung entdeckt
hatte, kamen die Kranken nicht nur in Scharen,
sondern oft zu Tausenden herbei, und irr rie»
Das Bad der Neuvermählten" um 1300 (Italien)
sigen Lagern, in Zelten und unter freiem Hirn»
mel drängten sich die Menschen. Wir nehmen
heute eine Kurverwaltung nebst Kurtaxe und
Badearzt als etwas Selbstverständliches hin,
und wir möchten auch keinem Patienten raten,
sich in jene Zeit zurückversetzt zu wünschen,
in der man sich um einen Platz an der Quelle
schlug.
Mit der Zeit der Aufklärung erfuhr auch das
Badewesen eine Wiederbelebung. Das Schwim»
men im FIkI? und im Meer wurde wieder gesell»
schaftsfähig, und schließlich, so um igoo herum,
wurde das Freibaden zur Mode. Die Frau trug
damals ein volantbesetztes Badekleid, und ein
„Bikini" wäre auch im Traum unvorstellbar ge»
wesen. Natürlich blieben zunächst die Bade»
abteilungeri für Herren und für Damen auch in
den Seebädern streng voneinander getrennt.
Ob allerdings das genaue Gegenteil in unserer
Gegenwart, nämlich die „Abessinien"»Distrikte
moderner Seebäder, einen kulturellen Fort»
schritt darstellen, ist noch nicht so ganz sicher.
Immerhin wurde auf zivilisatorischem Gebiet
einiger Fortschritt erzielt, wenn man einmal
überlegt, was für Bademöglichkeiten dem
modernen Menschen zur Verfügung stehen:
Neben dem Reinigungsbad (Badewanne, Dusche
und Sitzbad) und dem Strandbad das Hallen»
bad, die Sauna, das Dampfbad, das Bürsten»
bad, das Heißluftbad, Schwitzbad und Luftbad
dazu das Sandbad, wenn man sich in heißem
Sand eingraben läßt. Selbst in Elektrizität kann
man baden (Stangerbad) und selbstverständlich
,in der Sonne und auch im Moor.
Wir rechnen jedenfalls heute das Baden mit
seinen vielen Möglichkeiten zu den Vorteilen,
die uns die Zivilisation gebracht hat, und gerade
ein Kriegsblinder weiß alles zu schätzen, was
mit dem Baden zusammenhängt, ob er nun
von mancherlei Beschwerden seiner Verwun-
dung durch eine strenge Badekur Befreiung fin-
det oder ob er, was ihm schon wegen der freien
körperlichen Bewegung zur Wohltat wird, nach
Herzenslust schwimmt, auch im Wettkampf mit
Sehenden.
Von diesen Bade- und Erholungsfreuden der
Kriegsblinden soll im nächsten Kapitel die Rede
sein. f. W. H.
Vier Wochen lang Luft holen!
Kriegsblinde beridjten von ihrem Aufenthalt in unseren Erholungsheimen
„Als ich vor einem Jahr keinen Platz in einem
unserer Erholungsheime bekam, weil ich im
Jahr zuvor schon Aufnahme gefunden hatte
und weil nun in der Haupturlaubszeit einmal
andere Kameraden drankommen sollten, da er-
fuhr ich erst so richtig, was die Kur- und Er-
holungsheime des Kriegsblindenbundes für uns
bedeuten. Ich ging damals mit meiner Frau in
ein kleines Bad und wohnte in einer der übli-
chen Pensionen. Von den hohen Kosten, die mir
schwer zu schaffen machten, will ich hier gar
nicht reden, sondern nur von der seelischen Be-
lastung in dieser Urlaubsumwelt. Die anderen
Gäste der Pension machten mich nervöser als
ich schon vorher war. Das Gefühl, beim Essen
und bei jeder Bewegung halb mitleidig, halb
staunend beobachtet zu werden, dazu die ewi-
gen Gespräche über meine Blindheit, das allein
war schon nicht gerade erholsam. Verständ-
licherweise fehlte es im Hause auch an jeglicher
Kenntnis im Umgang mit Erblindeten, so daß
ich nie ohne meine Frau in Haus oder Garten
mich bewegen konnte, weil Stühle, offen-
stehende Türen, Eimer und schließlich auch un=
aufmefksame Menschen im Wege standen.
Obendrein hatte das Haus ein paar tückische
Stufen und sehr enge Räume, so daß ich selbst
in Begleitung meiner Frau ständig auf das
höchste angespannt sein mußte. Kurz, ich konnte
mich hier unmöglich wohlfühlen, noch fand ich
das, was ich eigentlich suchte, eine völlige Ent-
spannung, eine Befreiung von den Lasten mei-
nes Alltags", so schreibt Josef M. aus Köln an
die Leiterin eines Kriegsblindenkurheims, und
er fährt fort:
„Ach, und es fehlten mir die Gespräche und
das Zusammensein mit den Kameraden, wie ich
es aus dem vorigen Jahr kannte! Über die Blind-
heit hatten wir im Heim nicht gesprochen. Kei-
ner konnte hier, nur weil er blind war, auffal-
len; alles Leben im Heim vollzog sich mit
Selbstverständlichkeit und in einem kamerad-
schaftlichen, ja familiären Geist, so daß ich aus
meiner oft bedrückenden Alltagswelt wirklich
gänzlich herauskam. Mancherlei Kleinigkeiten
im Hause erleichterten gerade für einen Kriegs-
blinden den Aufenthalt. Vier Wochen lang
konnte ich so unbefangen und innerlich frei mit
den anderen Gästen zusammen leben, wie ich
es sonst nie kenne. Das gab mir viel Mut und
einen richtigen Aufschwung, der noch monate-
lang anhielt. Auch meine Frau lebte auf.
Nun habe ich in diesem Jahr wieder in einem
Heim sein können, und ich möchte Ihnen, liebe
Schwester, noch einmal herzlich für all die liebe-
volle Mühe danken. Ich bin jetzt seit 8 Tagen
wieder an meinem Arbeitsplatz, und wenn noch
foviel Anrufe auf sämtlichen Amts- und Haus-
Gut erfüllen ihren Zweck: Einkochgläser Marke WECK?
259
leitungen an meinem Vermittlungstisch schnür«
ren — ich bleibe ruhig und schaffe es. Das habe
ich diesen vier Wochen im Erholungsheim zu
verdanken."
Wir halfen uns selber
Dieser Brief ist bezeichnend für die Eigenart
der Erholungsfürsorge des Kriegsblindenbun»
des. Allein die Tatsache, daß die Kriegsblinden
nicht untätig auf die Fürsorgemaßnahmen der
Behörden warten, sondern mit Entschlußkraft
und Aktivität sich selber helfen und eine eigene
Erholungsfürsorge einrichteten, ist ein Beweis
für die Lebenskraft und Lebenstüchtigkeit der
deutschen Kriegsblinden. Sieben schöne Kur=
und Erholungsheime nennen die Kriegsblinden
ihr Eigentum, und die gesamte Verwaltung der
Heime ist Sache des Kriegsblindenbundes. Meh=
rere Heime sind ganzjährig geöffnet, in fast alle
Heime können auch die Kinder des Kriegsblin»
den mitgenommen werden. Allein in den |ah=
ren 1951 und 1952 konnten in den sieben Er=
holungsheimen- insgesamt 3171 Kriegsblinde
zur Kur aufgenommen werden, dazu etwa die
gleiche Anzahl von Begleitpersonen (meist die
Ehefrauen der. Kriegsblinden) und im gleichen
Zeitraum insgesamt 943 Kinder. Das ist nicht
nur organisatorisch, sondern auch in fürsorge=
rischer Hinsicht eine gewiß bemerkenswerte
Leistung. Ein großes Heim wie das in Söcking
am Starnberger See bringt es im Laufe eines
Kalenderjahres auf insgesamt 20 000, ja bis=
weilen fast 24000 „Verpflegstage". Aber auch
das 1950 erworbene Heim in Wildbad bringt es
jährlich auf fast 20 000 Verpflegstage. Es heißt
nach dem verdienstvollen kriegsblinden Lan»
desverbandsvorsitzenden von Württemberg«
Baden, dessen Tatkraft den Ankauf und die
Einrichtung dieses Heimes ermöglicht hat, „Ru=
dolf=Schnaitmann=Haus". Im Jahre 1950 konnte
Seit dem 1. Juni 1927 gehört dieses Kur- und
Erholungsheim in Bad Salzhausen. (Hessen)
den deutschen Kriegsblinden. Fast 5000 Kriegs-
blinde dürften im Laufe der Jahre hier zu
Gast gewesen sein.
Kleine Wettkämpfe erhöhen die Urlaubs-
freude am Strand von Borkum. Die Kurver-
waltung Borkum beschäftigt eine Sport-
lehrerin, die sich gerade auch der Kriegs-
blinden annimmt. Der Weitstoß mit dem
Medizinball gehört zu den Übungen bei den
Sportfesten des Kriegsblinden- Kurheims.
durch den Landesverband Rheinland=Pfalz des
Kriegsblindenbundes auch ein Heim in Bad
Münster am Stein erworben und eingerichtet
werden. 1951 kam schließlich noch ein sehr
schönes Heim auf der Insel Borkum dazu. Da=
neben blieben den deutschen Kriegsblinden drei
Erholungsheime erhalten, die bereits vor dem
zweiten Weltkrieg vom damaligen „Bund der
erblindeten Krieger" eingerichtet waren, näm=
lieh die Heime in Braunlage, Bad Pyrmont und
Bad Salzhausen. Andere Heime, vor allem in
Swinemünde, gingen leider verloren.
Jedes dieser Heime hat seine Eigenart, nicht
nur in seiner Tradition, sondern auch in seiner
Heilwirkung. In den Bädern, wie z. B. Pyrmont,
unterziehen sich die Kriegsblinden durchweg
einer geordneten Badekur, wie überhaupt in
allen Heimen auf eine ärztliche Betreuung und
auf die Einhaltung ärztlicher Vorschriften und
Ratschläge großer Wert gelegt wird. Jedem
Heim steht ein Heimarzt zur Seite, der bei Be«
ginn der Badekur jeden einzelnen Gast unter«
sucht und berät und der bei Abschluß der Kur
in durchweg erfreulicher, oft erstaunlicherWeise
Heilerfolge feststellt, sowohl bei Kreislauf«
140
ÖFEN-HERDE
Wenn
Sanitätsguß
Burger Eisenwerke
G. m. b. H.
Burg (Dillkreis)
dann >
GEBRÜDER STEIDINGER
Fabrik für Feinmechanik und Elektrotechnik
ST. GEORGEN / SCHWARZWALO
Störungen, Rheuma und anderen Erkrankungen
vor allem aber auch bei einem für Kriegsblint,
typischen Leiden; der nervösen Erschöpfung,
verbunden mit leichter Ermüdbarkeit, Kopf=
schmerzen, Gereiztheit und Schlaflosigkeit.
Uns liegt ein dafür bezeichnender Brief eines
40jährigen Kriegsblinden vor:
„Ich gewann meine Ruhe zurück"
„Ich will es nicht leugnen, ich war bestimmt
ein unangenehmer Patron geworden, ärgerte
mich über jede Kleinigkeit und hatte meinen
früheren Humor völlig verloren. Dabei ärgerte
ich mich sogar über mich selbst, fand aus mei=
ner Unruhe nie heraus und fand auch keinen
Schlaf. Die Kur scheint jetzt wie ein Wunder
gewirkt zu haben. Die vier Wochen im Heim
und sicher auch die Bäder haben mir eine ganz
neue Kraft gegeben. Zuerst schien es zwar
schlimmer zu werden, aber das ist wohl immer
so, wenn man eine Kur durchmacht. Aber der
frohe Geist im Heim und die Gemeinsamkeit
mit anderen Kameraden ließen den Gedanken
an mein Schicksal ganz zurücktreten — hier
waren ja schließlich alle blind — , und die gute
Pflege, die Gemütlichkeit des Hauses und all
die freundliche Hilfe, die man hier erfährt —
das alles half mir über die ersten Klippen hin=
weg, und ich gewann eine innere Ruh^ zurück,
wie ich sie seit mindestens zwei Jahren nicht
mehr gehabt habe. Als ich jetzt wieder in mei=
nen Betrieb kam — ich kontrolliere Werkstücke
in einer Kugellagerfabrik — , da merkten auch
meine Kollegen gleich, wie gut ich mich erholt
hatte. Ich war viel gelassener und humorvoller.
Kein Wunder! Ich kann ja wieder schlafen, in
der letzten Nacht sieben Stunden, und früher
waren es oft nur zwei oder drei."
Ein Abend der Überraschungen
Jeder kriegsblinde Kurgast erlebt im Laufe
seines Kuraufenthaltes auch einen Kamerad^
Schaftsabend, abgesehen natürlich von anderen
kulturellen Darbietungen, für die von der
Heimleitung gesorgt wird, seien sie musikali»
scher Art wie z. B. in Münster am Stein, wo
dem Heim ein herrlicher Flügel gehört, oder
seien es belehrende Vorträge. Aber die Kame=>
radschaftsabende bilden den Höhepunkt mit
ihrem Frohsinn und mit ihrem oft einfalls=
Einmal im Jahr sich von der strapaziösen, ständigen Nervenanspannung des Alltags frei-
machen. das braucht ein Kriegsblinder. Am Strand von Borkum vergißt er manche Last,
die ihn niederdrücken will.
141
FÜR
WANDVERKLEIDUNG
UND BEDACHUNG
WELL^
FULGURIT
FULGURIT-WERKE ADOLF OESTERHELD
LUTHE-WUNSTO.RF (HANN.)
reichen Programm. Selbst Karneval wird auf
diese Weise gefeiert. Ein Berliner Kamerad be=
richtet von einem solchen Kameradschaftsabend
das Folgende:
„In der Räucherkammer, so nämlich heißt das
Klubzimmer der Herren, traf man sich eines
Abends, um über die Programmfolge zu be=
raten. Die Damen wurden zu dieser Beratung
nicht hinzugezogen, denn es sollte doch ein
Überraschungsabend werden. Einer der älteren
Kameraden hatte bereits mit Schwester Hilde»
gard über die musikalische Gestaltung gespro»
chen, und es wurde beschlossen, den Akkordeon»
Spieler vom Schützenhaus zu engagieren. Nach
lustigem Hin und Her wurde ein dreiköpfiger
Festausschuß gebildet, der nun tagelang mit so
ernster Miene zusammensaß, daß man hätte
meinen können, er habe eine Trauerfeier vor»
zubereiten. Immerhin stieg die Spannung ganz
erheblich, und als am festgesetzten Tage alle
Kurgäste in gewohnter Weise ihr Abendessen
gemeinsam einnahmen, wurde von Schwester
Hildegard bekanntgegeben, daß man sich bis
zum Beginn des Kameradschaftsabends in den
Zimmern aufhalten möchte. Eine halbe Stunde
später war plötzlich im oberen Stockwerk flotte
Marschmusik zu hören. Jeder einzelne Gast
wurde mit seiner Frau von den sangesfrohen
Heimspatzen — das sind die im Hause tätigen
Frauen und Mädchen — und dem Musiker ab»
geholt. Nun ging es in bunter Reihe von Tür
zu Tür, bis endlich alle mit lautem Gesang
das untere Stockwerk erreicht und an der Fest»
tafel'Platz genommen hatten.
Das Programm mußte, weil wir ja nun einmal
nicht sehen können, vornehmlich für die Ohren
bestimmt sein, aber auch für den Gaumen.
Schwester Hildegard kredenzte uns Bowle, und
dazu hörten wir zunächst allerlei Musikali»
sches: virtuose Darbietungen des Musikers und
liebevoll eingeübte Lieder der Heimspatzen.
Natürlich fehlte auch die obligate Festansprache
nicht, aber dann kam die erste größere Über-
raschung: drei Heimspatzen führten ein kleines
groteskes Spiel auf mit dem Titel „Drei alte
Schachteln". Durch die reizenden Kostüme und
die humorvollen Lieder stieg die
Stimmungskurve ziemlich steil an.
Unter den Kriegsblinden befand
sich auch ein Sänger, der uns mit
dem Wblgalied und anderen
Operettenarien erfreute. Ein an-
derer trug eigene plattdeutsche
Gedichte vor, zwei Kölner Kriegs-
blinde traten als „Tünnes und
Schäl" auf. Es folgte die spaßige
Reportage eines Motorradrennens
auf dem Nürburgring, und als die
Stimmung immer heiterer wurde,
meldeten sich sogar Kameraden
zu Wort, denen man gar keinen
Humor zugetraut hatte und die
im Programm gar nicht vor»
gesehen waren. Es gab viel Ge-
lächter und viel Beifall, und dann
— eine große Polonäse, mit der
nun der letzte Programmpunkt
eröffnet wurde, nämlich das Tan»
zen. Dieser Programmpunkt wurde
von den Unentwegten bis gegen
Unser loohl stolzestes Kur- und Erholungsheim ist das
Rudolj- Schnaitmann-Haus in Wildbad. Es wurde erst vor
wenigen Jahren erworben und eingerichtet und erfreut sich
einer großen Beliebtheit auch in den Wintermonaten.
Eberhard im Bart entdeckt auf der Jagd das
Wildbad
2 Uhr morgens ausgedehnt, und als einer der
Kameraden dann zum Abschluß das erzgebirgi=
sehe Heimatlied „'s ist Feierabend" gesungen
hatte, entschloß sich Schwester Hildegard, den
Zapfenstreich zu blasen. So viel gesungen und
so viel gelacht wie an diesem Abend hatten
wohl die meisten von uns seit Jahren nicht."
Sport auf Borkum
Dort, wo nicht strenge badeärztliche Vor»
Schriften den Tageslauf des Kurgastes bestim»
men, finden die Kriegsblinden vor allem Er»
holung in der Bewegung. Die sitzende Lebens»
weise eines Erblindeten, eine Unbeweglichkeit,
die oft auch durch die Überbeanspruchung der
Ehefrau und durch das Fehlen anderer Begleit-
personen bedingt ist, soll während des Urlaubs
einen Ausgleich finden, ln Söcking z. B. locken
Wanderungen oder auch der Starnberger See,
und auf der Insel Borkum der Strand. Welch
ein Gefühl, auf einer weiten, freien und ebenen
Sandbank aus voller Kraft einmal laufen zu
können, zwar ins Ungewisse hinein, aber ganz
ungefährdet und ohne die sonst so belastende
Konzentration auf die Orientierung! Der Sport
am Strande von Borkum gibt auf solche Weise
dem Kriegsblinden ein gut Stück Selbstver»
trauen und Selbstbewußtsein zurück. Die
Diplomsportlehrerin, die von der Kurverwal»
tung unterhalten wird, hat auch eine besondere
Ausbildung im Versehrtensport und versteht es.
die Freude am Sport zu wecken und gerade
auch die Kriegsblinden zum Sport heranzu»
holen Die Gaste unseres Heimes nehmen schon
am Vormittag am allgemeinen Strandsport teil,
also an Lockerungsübungen und Spielen. Am
Nachmittag sind leichtathletische Übungen
dran, wie Medizinballwerfen oder Weitsprung.
Meistens kommt es während der Erholungszeit
dann zu einem Sportwettkampf unter den
kriegsblinden Gästen, der oft ganz beachtliche
Resultate ergibt.
Selbst die Ohnhänder beteiligen sich an den
Wettkämpfen, und mancher von ihnen hat
schon eines der Diplome oder Geschenke er»
halten, die den erfolgreichsten kriegsblinden
Sportlern im Namen der Kurverwaltung über»
reicht wurden. Auch ältere Kriegsblinde machen
mit und sind oft den jüngeren Kameraden ein
Ansporn. Den größten Anteil an den Sport»
Übungen hat natürlich das Schwimmen, aber
eine erstaunliche Anzahl der Gäste nutzt auch
die Möglichkeit des Reitsportes aus. Viele
Kriegsblinde waren ja einst als Soldaten gute
Reiter, und ihnen steht in Borkum ein ausge»
zeichnetes Pferdematerial zur Verfügung.
Erholung wird zur Lebensfrage
Wenn schon für jedermann die Urlaubs» und
Erholungszeit zum Höhepunkt des Jahres wird,
so noch um vieles mehr für den Kriegsblinden,
dessen Kräfteverbrauch im Alltag ja schon des»
halb viel größer ist, weil er für die Orientie»
rung ständig viel Konzentration aufwenden
muß. Alle Arbeiten, die er tut, selbst das Essen
und Trinken noch, verbrauchen ungemein viel
Aufmerksamkeit und Nervenkraft. Dazu
kommt, daß der Verlust der Augen durchweg
mit Kopfverletzungen verbunden ist, die dem
Kriegsblinden zu schaffen machen, ganz zu
schweigen 'davon, daß die Mehrzahl aller
Kriegsblinden weitere Verwundungen und viel»
fach auch Amputationen hinter sich hat. Hier
tut also die Erholungsfürsorge not, ja sie wird
zu einer Lebensfrage. Unter der ehrenamtlichen
Leitung eines Sachbearbeiters — es ist der im
ersten Weltkrieg erblindete Kamerad Albert
Bierwerth aus Göttingen — wurde eine Er»
holungsfürsorge aufgebaut, die in ihrer Zuver»
lässigkeit und in ihren Erfolgen mustergültig
ist. Die Kriegsblinden sind stolz auf dieses Er»
holungswerk und sind dankbar dafür.
auch
ISchuppen-
flechte
INia mein Vater u. unzähl. Leidensgefährten
von dies, oft das Leben verbitternden Leiden
durch ein einf. Mittel innerhalb 14 Tagen völlig geheilt wurden,
teile ich Ihnen gern kostenlos und unverbindlich mit.
Max Müller, Karlsruhe/ B.K 86 BunsenstraBe
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Meine Welt - die Welt der Sehenden
Auf die Frage „Mein Verhältnis zum sehen»
den Mitmenschen" anwortete im Rahmen eines
Preisausschreibens des Kriegsblindenbundes
ein im zweiten Weltkrieg erblindeter Karne»
rad, Bodo Schütz, das Folgende:
„Wenn ich das Thema ganz genau fasse
und nicht zugleich über das Verhältnis des
sehenden Menschen zu mir schreibe, so ist das
Wesentliche eigentlich mit einem Satz gesagt:
Mein Verhältnis zum sehenden Mitmenschen
ist dasselbe wie das der Sehenden zueinander,
denn ich bin nicht anders als sie, bin kein
„armer blinder Mann", sondern ein am Sehen
verhinderter Sehender. Was der Verlust des
Augenlichts für mich bedeutet, geht nur mich
«und meine nächsten Angehörigen an. Zwar
vermag ich nicht mehr mit den Augen die Ein»
drücke der Welt in mich aufzunehmen, zwar
sind die Grenzen meiner Umwelt näher um
mich zusammengerückt; doch es ist dieselbe
Welt, in der ich vor meiner Erblindung lebte.
Die Welt der Sehenden ist meine Welt geblie»
ben. In ihr lebe ich mit den Sehenden, arbeite
ich mit ihnen. Sehende sind meine Freunde,
und ich darf in einem Kreis geistig bewegter
Sehender an geachteter Stelle wirken. Daß ich
nicht sehen kann, ist auf mein Verhältnis zu
meinen Mitmenschen ohne Einfluß. Die Tat»
Sache meiner Erblindung ist für meinen Um»
gang mit meinen Mitmenschen unwichtig. Ich
bewege mich mit unauffälliger Selbstverständ»
lichkeit unter ihnen. Wo ich die Hilfe meiner
Mitmenschen bedarf, nehme ich sie ohne Auf»
hebens mit der gleichen Selbstverständlichkeit
in Anspruch, mit der sie mir geboten wird.
Ich habe durch Blindenschriftbücher, Vor»
lesen, Rundfunk, Theater und Konzert Zugang
zur geistigen Welt. Meine Kinder sind gesund,
meine Frau ist mein bester Lebenskamerad.
Ich habe eine Arbeit, die mich befriedigt. So
ist mein Leben in der Gemeinschaft der Sehen»
den schön und erfüllt."
Helft uns, daß wir so sprechen können wie dieser Kamerad!
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